Und weiter? Gestern habe ich zum ersten Mal meinen Dragon
NaturallySpeaking keine Wörter mehr eintrainiert, sondern nach Lust und
Laune kommentiert. Allerdings bin ich gerade auf einem Umweg, und so war
es nicht Kant, zu dem ich mir meine Gedanken gemacht habe, sondern
Quine und seinem Buch Die Wurzeln der Referenz.
Wahrnehmungsstörungen
Dieses Buch hatte
ich bereits einmal gründlich durchkommentiert, damals noch per Hand und
in mein Arbeitsbuch. Mein Thema waren damals Wahrnehmungsstörungen. Bzw.
wollte ich wissen, ob man Hypothesen darüber aufstellen kann, wie sich
Wahrnehmungsstörungen in anderen mentalen Prozessen niederschlagen.
Reden zum Beispiel, so war eine meiner Fragen, Menschen mit einem
schlechten räumlichen Gedächtnis anders über ihre (räumliche) Umwelt als
Menschen mit einem normalen oder sogar hervorragenden Gedächtnis? Ich
konnte diese Arbeit nie zu einem fruchtbaren Zustand weitertragen, weil
mir empirische Quellen gefehlt haben.
Kants Kategorie der Einheit
Heute interessiert mich zum Beispiel,
wie Menschen sich ihre grundlegenden semantischen Einheiten
konstruieren. Kant hat hier in seiner berühmten Kategorientafel (Kritik
der reinen Vernunft, Seite 118 f.) unter anderem die Kategorie der
Einheit postuliert. Erinnern wir uns noch einmal daran, was diese Kategorientafel überhaupt besagt:
es sind spontane Formen, mit der die Vernunft das Sinnesmaterial
ordnet. Machen wir uns das anschaulich: ich sehe ein Buch und dass ich
dieses Buch als Buch erkenne, erreiche ich durch den Begriff des Buches,
den ich mir durch Erfahrung erarbeitet habe und der auf die
vorliegenden Sinnesdaten passt. Das hat allerdings noch nichts mit den
Kategorien zu tun. Hier reicht der Verstand, der Begriffe bildet und
anwendet. Dass ich allerdings EIN Buch sehe, ist eine Form, die nicht im
Sinnesmaterial selbst zu finden ist, sondern eine Leistung der
Vernunft. Dies meint Kant mit der Kategorie der Einheit.
Kant
selbst verstand diese Kategorien als Formen, die sich immer wieder auf
die Anschaulichkeit zurückbeziehen lassen. Sie gelten zwar a priori,
also auch dann, wenn der Mensch bisher keinerlei Erfahrungen gesammelt
hat; sie treten aber erst an den Erfahrungen in Erscheinung.
Gestaltgesetze
Nun
ist Kants Darstellung heute aus vielerlei Gründen überholt. Trotzdem
findet man viele Ideen seiner Philosophie auch in recht strengen
empirischen Untersuchungen bestätigt. Als ein Beispiel mögen dafür die
Gestaltgesetze gelten. Diese kann man als Formen a priori bezeichnen;
man wird sie allerdings vergeblich in der Kategorientafel von Kant
suchen. Sie waren Kant noch nicht bekannt. Schon Schopenhauer hat Kants abstrakten Begriff der Vernunft
verleiblicht und damit an seiner Auflösung und Verteilung im ganzen Körper gearbeitet.
Mannigfaltigkeit und Anschauung
Ein anderer
Kritikpunkt betrifft die Mannigfaltigkeit. Diese ist bei Kant sinnlich.
Ich sehe zum Beispiel gerade auf ein Foto von meinem Sohn. Er sitzt auf
meinem Schoß, hat Jeans und einen dunklen Pullover an, und einiges
anderes. Ich erkenne ihn als eine Einheit, obwohl die Sinnesdaten, die
das Foto liefert, mannigfaltig sind. Heute kann man nicht mehr so
einfach sagen, dass die Mannigfaltigkeit auf reiner Anschauung beruht.
Spätestens seit Wittgenstein ist die Idee, dass die Bedeutung eines
Wortes in seinem Gebrauch liegt, üblich. Damit schwindet der Einfluss
der Sinnesdaten als Fundament und dafür wird die Praxis der
Kommunikation umso bedeutender. Und jedenfalls muss die Mannigfaltigkeit
mannigfaltiger gedacht werden, als dies bei Kant zu lesen ist. Wir
dürfen Urteile, Begriffe, fiktionale Vorstellungen und anderes nicht
mehr ausschließen.
Die Katachrese
Dies ist deshalb so wichtig, weil es in der
Rhetorik solche explizit vermischenden Formen gibt, ja, sie sogar
teilweise schwerpunktmäßig die Figuren eines Textes liefern. Ein
typisches Beispiel für eine solche Figur ist die Katachrese.
Die
Katachrese ist ein zusammengesetztes Wort, meist ein Nomen, bei dem der
eine Teil referentiell ist, also auf einen wirklichen Tatbestand oder
ein wirkliches Objekt verweist, während der andere Teil metaphorisch
ist.
Beispielhaft: „Trauerlicht“; damit bezeichnete eine Kundin das
Licht des Mondes in einer Atmosphäre der Trauer, bzw. des Verlustes. Der
referentielle Teil der Katachrese ist das „Licht“, der metaphorische
Teil das Wort „Trauer“. Und es ist klar, „Trauer“ muss der metaphorische
Teil sein, weil ein physikalisches Phänomen keine Gefühle
hat. Die Katachrese missachtet die wissenschaftliche Trennung über einen
metaphorischen Prozess und erzeugt damit eine bestimmte Stimmung. Gute
Katachresen können in erzählenden Texten wichtige Werkzeuge der
Leserführung sein.
Unerkannte Katachresen
Ausgeführt habe ich das dann (gestern und für mich) vor allem an einigen wüsten Beleidigungen aus Artikeln von kreuz.net. Dort steht zum Beispiel (relativ häufig sogar) das Wort „homokrank“. Diese Katachrese ist deshalb so perfide, weil der metaphorische Teil nur relativ schlecht zu erläutern ist. Die Beziehung zwischen Trauer und Licht lässt sich relativ rasch darlegen und damit ist auch der metaphorische Effekt relativ rasch erfasst. Genau dies lässt sich zwischen den beiden Wortteilen von „homokrank“ nur umständlich finden.
Behaupten wir also, dass „homo“ die Kurzform von homosexuell ist und damit der referentielle Teil der Katachrese. Dann müssen wir in „krank“ den metaphorischen Teil sehen. Und hier müssen wir deutlich aufpassen. Denn im Alltag definieren wir die Homosexualität ebensowenig wie die Krankheit. Homosexualität ist, das ist meine Definition, der willentliche und freiwillige intime Kontakt zweier Menschen gleichen Geschlechtes. Diese etwas fantasielose Definition beinhaltet nichts von einem Kranksein (hoffe ich). Aber wir können jetzt in die Welt hinaus gehen, und ganz gut diesen Begriff anwenden.
Das Wort Krankheit ist wesentlich schwieriger zu definieren. Wir wenden es in verschiedenen Bedeutungen an, die nur mit großer Vorsicht als ähnlich gesetzt werden dürfen. Sehr beispielhaft dafür ist die Unterscheidung zwischen physischen und psychischen Krankheiten. Gerade auch heute, da uns die Wissenschaft immer mehr die Zusammenhänge zwischen körperlichen Zustand und mentalen Strukturen aufzeigen kann. Trotzdem ist natürlich eine körperliche Krankheit etwas anderes als eine psychische. Eine Entzündung in einem Fingergelenk wird man wohl kaum mit einem zwanghaften Tick gleichsetzen und kein Arzt wird sie auf gleiche Weise behandeln.
Diese Unschärfe im Begriff der Krankheit wird bei dieser Katachrese, dies ist meine Behauptung, aber tüchtig ausgenutzt. So dass hier körperlicher Zustand, geistige Verfassung und sexuelle Orientierung fleißig durcheinander gemischt werden. Präzise war hier der Kontext der Tod von Dirk Bach, dessen Homosexualität, seine (zugegeben recht unglückliche) Fettleibigkeit und seine vermeintliche Gestörtheit suggestiv in ein einzelnes Wort zusammengepackt werden.
Dies erscheint mir übrigens eine der Hauptleistungen der Katachrese zu sein: auf der Ebene der Lautgestalt (dem Signifikanten) wird eine Einheit erzeugt (das EINE Wort), die auf der Ebene der Vorstellung (dem Signifikat) zu einer Zusammenschweißung der Bedeutungen führt. Dadurch wird die Unterscheidung zwischen dem referentiellen und dem metaphorischen Teil der Bedeutung mehr oder weniger ausgelöscht. Und wer hier nicht kritisch liest, für den ist ein solches Wort wie „homokrank“ ein Baustein dafür, Homosexualität und Krankheit ineins zu setzen.
Die neue Metaphorik und der neue Nominalismus
Metaphern sind indirekte Figuren. Der Nominalismus dagegen bezeichnet die Überzeugung von der „Fähigkeit“ von Wörtern, direkt zu benennen. Der Metaphoriker sagt: dieses Pferd ist ein wahrer Sturm; damit drückt er indirekt aus, dass das Pferd besonders schnell, besonders lebendig oder besonders kraftvoll ist. Der Nominalist dagegen sagt: ein Pferd ist ein Pferd — Schluss aus!
Nun gibt es in unserer Kultur eine wachsende Tendenz, metaphorische Wörter unter den Bann des Nominalismus zu stellen. Dann ist nämlich "Die Märkte riechen, wenn es frisches Geld gibt!" (danke an Alexander, der mir diese ntv-Poesie gestern zugeschickt hat) ein scheinbar sinnvoller Satz, der suggeriert, jemand habe gerade eben aus Mutter Natur eine Schubkarre voller „neuem Gemüse“ herbeigekarrt. Dies verdeckt die ganze Tatsache, wie tatsächlich frei verfügbares Geld zu neuen Märkten führen kann.
Die Gefahr besteht natürlich darin, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht mehr in die Alltagskultur eingearbeitet, sondern bewusst verdreht werden. Dies findet sich sowohl auf politischen Gebieten, zum Beispiel bei den gender-Gegnern oder bei den faschistisch-religiösen online-Kackern von kreuz.net, als auch im wirtschaftlichen Bereich, aber auch in der journalistischen Darstellung der Kultur. Das Feuilleton wurde hier ja schon immer als etwas anrüchig betrachtet, siehe Karl Kraus, siehe Heinrich Heine.
Typischerweise und üblerweise wird dies heute sogar noch propagiert, zum Beispiel im NLP. Bildhaft zu sprechen gilt als die einzige Möglichkeit, wie man noch elaboriert sprechen könne. Damit wird der ganze Bereich der Logik und der Argumentation komplett ausgeklammert. Deshalb erscheint mir NLP auch als anti-aufklärerisch. (Und man kann sagen was man will, aber NLPler erfreuen sich nicht gerade einer großen Intelligenz, oder?)
Metapher und Argument
Dagegen behaupte ich, dass das metaphorische Sprechen nur dort legitim ist, wo es aus didaktischen, humoristischen oder ästhetischen Gründen geschieht. Die Metapher in der Didaktik dient dazu, dem Laien eine erste Ahnung von einem fachlichen Zusammenhang zu geben, muss aber bei der Argumentation enden. Die Metapher im Humor oder in der satirischen Polemik sollte das Publikum dazu reizen, eine Sache nun auch begrifflich und argumentativ anders zu fassen, als es bisher geschehen ist. Auch hier gibt es also eine Art didaktischen Effekt, der nicht bei der Metapher stehen bleibt. Der ästhetische Gebrauch der Metapher, nämlich zu Illustrierung einer Idee, die sich anders nicht darstellen lässt, ist der einzig legitime Gebrauch, in der die Metapher nicht auf eine argumentative Darstellung hinzielen muss.
Es ist also wichtig, Metapher und Referenz gut trennen zu können. Und wer dies nicht kann, ist vermutlich alles mögliche, nur kein Mensch, der an aufklärerischen Prozessen beteiligt ist. Im Gegenteil: solche Redeweisen und Schreibweisen sind eng mit ideologischen Prozessen verknüpft.
Keine Kommentare :
Kommentar veröffentlichen