Es gilt,
so schreibt Nietzsche in Zur Genealogie der Moral, S. 254,
das ungeheure, ferne und so versteckte Land der Moral – der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral – mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen: und heißt dies nicht beinahe als dieses Land erst entdecken?
Auch das hat mich am Wochenende beschäftigt, wieder einmal beschäftigt. Ich gestehe, dass sich nächstes Jahr der Geburtstag rundet, an den ich zum ersten Mal diese Schrift von Nietzsche gelesen habe; dreißig Jahre ist es nun her. Und ich gestehe, dass es Bücher gibt, die ich immer wieder lesen werde und lesen muss, weil sie sich als so vielschichtig erweisen. Zudem hat mich dazu gerade Martin Saar seinem Aufsatz Genealogische Kritik angeregt (in Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo: Was ist Kritik? Frankfurt am Main 2009).
Den Kritiker spazieren führen
Es passte so gut, so gut zu dem, was ich am Donnerstag-Abend notiert habe, nicht in Bezug auf die Moral, sondern in Bezug auf die Grundschul-Mathematik; und vielleicht sollte ich einmal meine Notizen zu den einzelnen mathematischen Bereichen mit meinen Notizen zur Kritik vergleichend gegenüberstellen. Die zahlreichen Berührungspunkte sind frappierend. Man sollte es zunächst nicht meinen.
So bauen Kinder im Mathematik-Unterricht Grundvorstellungen für bestimmte Größen auf, zum Beispiel für die Größe 100 g eine Schokoladentafel. Von dieser Größenvorstellung aus werden weitere Möglichkeiten erschlossen, wie 100 g repräsentiert werden können. Dabei stellt der Mathematik-Unterricht verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, wie dies geschehen kann. Dabei sollen die Kinder sowohl verschiedene Möglichkeiten der Übersetzung in andere Medien, verschiedene Funktionen, aber auch die innere Struktur des Rechnens mit einer Größe erschließen.
Etwas sehr ähnliches passiert aber auch bei Friedrich Nietzsche, wenn dieser moralische Archetypen einführt, den Priester, den Adeligen, den Krieger, und diese nach und nach, in verschiedenen Argumentationen, sowohl in ihrer historischen Funktion, als auch in ihrer psychischen Struktur erschließt, sowie ihre Möglichkeiten der Transformation.
Nun, am Frühstücks-Buffet habe ich ein wenig Mathematik betrieben, beim Rundblick im Lokal ein wenig über die Menschen und ihre psychische Struktur spekuliert. Man kann also auch seinen Kritiker, seinen Genealogen spazieren führen.
Sammelwut
Ich bin heute, ganz ausnahmsweise, in Veröffentlichungslaune. Das fällt mir in letzter Zeit recht schwer. Schreiben tue ich genug; aber ich empfinde meine derzeitige Haltung als eine Suche und ein Experiment. Nun hatte ich diesen Blog zwar angelegt, um eine solche Suche auch zu dokumentieren. Gelegentlich finde ich es aber trotzdem recht mühselig, in längeren Artikeln zu erklären, woran ich gerade arbeite, und zwar so zu erklären, dass der Leser davon einen Nutzen hat, und auch, weil ich derzeit vieles wiederhole, vieles wieder neu aufgreife, was ich früher schon einmal bearbeitet habe. Ich könnte also einfach auch auf ältere Artikel verweisen.
Andererseits ist die Wiederholung oder die Darstellung derselben Arbeitstechniken an einem neuen Material durchaus sinnvoll. Ich bin deshalb unentschlossen.
An Nietzsches Zur Genealogie der Moral habe ich mir ein Raster entworfen, was ich wann wie untersuchen möchte. Ich bin großzügig gewesen; zeitlich großzügig. Wenn mich zwischendurch nicht die Lust verliert, werde ich Ostern nächsten Jahres damit fertig sein. Auch zu Shining bin ich am Sammeln.
In den letzten Monaten habe ich viele meiner Notizen in meinen Zettelkasten übertragen. Das allerdings ist eine relativ stumpfsinniger Arbeit. Sie zahlt sich aus; immer, wenn ich beginne, inhaltlich zu arbeiten, bringt mich der Zettelkasten auf die wunderbarsten Gedanken. Manche Zettel bestätigen meine Gedankengänge, andere widersprechen ihnen, wieder andere führen bislang ungedachte Verbindungen und Analogien ein, und je besser mein kleines Werkzeug aufgefüllt ist, umso mehr entstehen Kommentare und Ideen, die ich dann auch irgendwann dort ablegen sollte. Ihr versteht mein Dilemma: je fleißiger ich am Auffüllen bin, umso mehr schreibe ich, was aufzufüllen ist. Sollte ich irgendwann doch als ein Werk veröffentlicht werden, werden diese zahlreichen Zettel jeden Philologen in den Wahnsinn treiben: gelegentlich stehen ganz alte Gedanken, solche von 2005, neben ganz neuen.
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