08.09.2015

Die drei Synthesen der Einbildungskraft

Wenn man die Einbildungskraft als das grundlegende Prinzip annimmt, um das sich die Deutschdidaktik zu kümmern hat, wenn das Ziel des Deutschunterrichts die Ausdifferenzierung der Einbildungskraft ist, und wenn das grundlegende Mittel dazu die anschauliche Transmedialisierung ist, kann man darauf die drei Synthesen der Einbildungskraft, wie Kant sie formuliert hat, anwenden.

Transmedialisieren

Obwohl der Begriff der Transmedialisierung in meinem Blog seit langer Zeit immer wieder benutzt wird, mag ich ihn hier noch einmal erklären. Hier wird aus einem Medium in ein anderes Medium übersetzt. Das Medium verstehe ich etwas präziser als einen Code, also als eine Zeichenmenge, die auf eine bestimmte Art und Weise benutzt wird, für die es also Regeln des Gebrauchs gibt, also eine Grammatik. Grammatik, das ist das wichtige Wort.
Eine Grammatik kann zum Beispiel auch nur einen bestimmten Teil eines anderen Codes umfassen. Ein Fachwortschatz zum Beispiel hat Anteil an der ganz normalen Sprache, unterliegt aber besonderen Beschränkungen und einem besonderen Reglement. Und dadurch trennt sich der Fachwortschatz von dem allgemeinen Wortschatz.
Die Beschreibung eines Gegenstandes ist ebenso eine Transmedialisierung. Hier wird ein visuelles Objekt in einen geordneten Text übersetzt. Die Nacherzählung bildet eine Form davon, und im Prinzip ist jede handelnde Bearbeitung darin enthalten. Der Begriff bietet also Platz für alle möglichen Aufgaben.

Die erste Synthese

Grundlegender aber sind die Synthesen, wie Kant postuliert. Diese bilden unterhalb der Transmedialisierung Elemente; die Transmedialisierung ist eine Kombination verschiedener solcher Elemente.
Die erste Synthese ist die Apprehension oder Auffassung. In ihr wird eine sinnliche Mannigfaltigkeit (eckig, braun, fest, usw.) in einer Reihenfolge erfasst und dann zu einem »Jetzt« versammelt. Sie ist also eine zeitliche Synthese, die aus einer Serie, aus einzelnen, hintereinander erfassten Merkmalen eine Einheit.
Unschwer lässt sich hier das Prinzip der Assoziation erkennen. Merkmale werden aneinandergefügt und bilden zusammen ein enges oder locker gefasstes Gewebe.

Die zweite Synthese

Die Reproduktion des Abbildes, also die Kopie, ist durch die zweite Synthese bezeichnet. Seltsamerweise bezeichnet Kant hier eine Art Wiederholung; geht man der Arbeit der Einbildungskraft aber etwas genauer nach, so hat dieser auch die Aufgabe der Abstraktion, lässt also Merkmale weg, so dass nur eine unvollständige Kopie entstehen könnte. Und auf der anderen Seite fügt diese Synthese auch verschiedene Wiederholungen zusammen, insofern sich diese ähnlich sind. Und wenn ich es richtig verstanden habe, wird die Ähnlichkeit umso großzügiger gehandhabt, je näher das Abbild der Erhabenheit ist, so dass sich im Zustand der Erhabenheit jedes Abbild mit jedem anderen ähneln würde.
Insofern ist die zweite Synthese keineswegs auf eine bloße Reproduktion angelegt, sondern enthält zum einen die Unvollständigkeit der Reproduktion durch die Abstraktion, und zum anderen die Vermischung von Reproduktionen in der Nähe der Erhabenheit. Dies sind, seltsamerweise, die beiden Formen der Kreativität, die Gabriel Tarde in seinem Buch Die Gesetze der Nachahmung beschreibt.

Die dritte Synthese

Am merkwürdigsten aber ist die dritte Synthese. Dies ist die Synthese der Rekognition. Auf der einen Seite erfasst sie die Einheit eines Schemas, aber auf der anderen Seite erfasst sie diese Einheit nur, indem sie diese im Inneren des Schemas verteilt. Sie ist die Einheit einer Zerstreuung oder Verteilung.
Zu solchen Synthesen gehören wohl alle flächig angeordneten Modelle, aber auch die meisten Begriffe.

Die drei Synthesen im Unterricht

Was wären Beispiele für die drei Synthesen im Unterricht?
Nehmen wir die Mindmap. Durch das assoziative Verfahren wird hier natürlich die erste Synthese verwendet. Durch die flächige Aufteilung dann aber auch die dritte. Und dadurch, dass man mit der Mindmap ein Vorwissen umsetzt, einiges vergisst, anderes noch hinzufügt, nutzt sie auch die zweite Synthese.
Ich hatte oben geschrieben, dass die drei Synthesen so etwas wie die Elemente von den Transmedialisierungen bilden. Hier haben wir ein Beispiel dafür, dass eine so einfache Aufgabe wie die Mindmap tatsächlich alle drei Synthesen zu einem größeren Zusammenhang anordnet.

Tausend Plateaus

Es wird dem einen oder anderen meiner Leser vielleicht aufgefallen sein, dass ich schon einmal, vor Jahren, etwas Ähnliches geschrieben habe, diesmal aber zu der Logik im Werk von Gilles Deleuze. Tatsächlich handelt es sich bei einem seiner mit Félix Guattari zusammen geschriebenen Hauptwerke Tausend Plateaus um eine Reformulierung der drei Synthesen Kants. Nicht nur, denn das Werk umfasst ästhetische und politische Aspekte, die weit über die Synthesen und weit über Kant hinausgehen, aber eben auch.

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