20.09.2015

Mutter und Vater

In der neueren Philosophie gibt es eine Methode, die biologischen Begriffe strukturell zu betrachten. Zwar gab und gibt es den reinen Strukturalismus nicht wirklich, aber der Gedanke einer reinen Topologie hat über einige Jahrzehnte hinweg verschiedene (Kultur-)Wissenschaften beschäftigt.

Ferdinand de Saussure

"Vater" dieser Idee war der französische Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure. Dieser hat die Sprache als ein System definiert, in dem sich die Wörter gegenseitig in ihrer Bedeutung begrenzen und sich gegenseitig ihren Platz zuweisen. Damit ist die Bedeutung nicht mehr ein Inhalt, sondern eine Form; diese Form entsteht aber nicht durch Vernunft: sie ist keine Einheit, die von außen in die Sprache eindringt. Die Form entsteht als Differenz zu anderen Formen. Nicht die Einheit, sondern die Differenz "erzeugt" die Sprache in ihrer Differenziertheit.

Frau, laut Luce Irigaray

Wenn das Weibliche das Geschlecht ist, das nicht eins ist, dann bestimmt Luce Irigaray dieses als differentiell. Der Witz an der ganzen Angelegenheit ist, dass die Position des Weiblichen sich nicht aus einem Inhalt bestimmt. Es ist gleichsam ein leerer Platz, auf den alles Mögliche rücken kann, und insofern muss man diesen Platz so lesen, wie den Platz, auf den Thornhill in Der unsichtbare Dritte rückt. Zunächst existiert ein Phantom, ein Agent, der den gegnerischen Agenten, den Spionen, gefährlich werden könnte. Dieses Phantom ist aber ein Manöver, um von dem wahren Gegenspion, Eve Kendall (Eva Marie Saint) abzulenken. Nun bekommen die Spione einen Tipp, wo sie den Gegenspion finden könnten. Auch dieser Tipp ist natürlich von der Spionageabwehr platziert. Und hier rückt durch einen dummen Zufall Thornhill auf die Position des nicht existierenden Phantoms.
Das Weibliche bezeichnet also eine strukturelle Position, kein reales, sprich: biologisches Geschlecht. Es ist auch nicht nur von Frauen "gefüllt" und nicht jede Frau nimmt diesen Platz automatisch ein. Das Weibliche ist, sofern es topologisch bestimmt wird, biologisch geschlechtslos.

Funktionalisierung

Die Strategie dieser Argumentation besteht darin, nicht mehr das Wesen des Weiblichen zu bestimmen, sondern die Funktionalität zu analysieren. Luce Irigaray analysiert nicht die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts, sondern die monotone Funktionalisierung des Weiblichen. Dieser setzt sie die funktionale Äquivalenz entgegen (siehe dazu auch Luhmann: Soziale Systeme, Kap. I, 4). Die funktionale Äquivalenz beruht auf der Analogiebildung, und diese hat wiederum viel mit Kreativität und Humor zu tun. Irigarays Buch Speculum ist tatsächlich sehr ironisch geschrieben; ihre klugen Unterscheidungen führt sie durch Provokation von Alternativen ein.

Mutter

Dieselbe Strategie kann man auf andere Begriffe anwenden: die Mutter, der Vater, das Kind.
Von der Mutter gibt es eine Anzahl idealistischer Vorstellungen und eine Liste von "zutreffenden" Merkmalen. In einer pluralistischen Gesellschaft ist diese Merkmalsliste widersprüchlich. Sie kann dementsprechend sehr unterschiedlich funktionalisiert werden. Dass der Mutter dann der Zusatz "biologisch" verliehen wird, ist nur ein Kürzel dafür, dass nicht widersprochen werden darf.
Meine Professorin für Literaturwissenschaft definierte mal die Mutter "als die, die den Schrei des Kindes versteht". Der Schrei: das ist das unartikulierte Geräusch, der noch ungeformte Ausdruck eines Bedürfnisses.

Vater

Doch der wahrhafte Vater, der den Willen,
Den schüchternen, bemerkt, gab sprechend jetzt
Mir neuen Mut, des Sprechens Lust zu stillen.
Dante, 2. Buch (Fegefeuer), 18. Gesang, Vers 3
Wäre das nicht, rein strukturell, eine schöne Definition für den Vater: der, der den Mut gibt, des Sprechens Lust zu stillen?
Und, rein strukturell, ist die Position beliebig besetzbar: sie ist nicht biologisch.
Die Lust des Sprechens ist das Geräusch, das sich in die Sprache als rein strukturelle einschleicht: die Sprache ist keine reine Topologie: sie wird belebt und aktualisiert, wenn man Roland Barthes Glauben schenkt, von der Lust des Sprechens. Der Vater ist so für eine andere Art der Unartikuliertheit des Sprechens zuständig als die Mutter. Beide aber verstehen ein Sprechen jenseits der artikulierten Sprache.

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