29.10.2015

Erzählsituation und Erzählperspektive in Stephen Kings Shining

Vor über einem Jahr habe ich einen längeren Artikel zur Erzählsituation und Erzählperspektive geschrieben. Damit habe ich eine Arbeit wieder aufgenommen, die ich nach meinem Studium habe brach liegen lassen. Mein Unbehagen an dem Modell, welches man als Erzählkreis bezeichnet, und das vor allem dem Namen Franz Stanzel (Theorie des Erzählens. Göttingen 1991) verbunden ist, ist seitdem nicht verschwunden.

Kritik am Erzählkreis

Meine erste Kritik am Erzählkreis gilt gar nicht dem Erzählkreis selbst, sondern der Übernahme in der Schuldidaktik und dem Journalismus. Dort, wo Stanzel von Erzählsituation spricht, wird recht leichtfertig stattdessen von der Erzählperspektive oder dem Erzähler gesprochen. Die Erzählsituation ist allerdings kein normativer Begriff; er schreibt dem Autor nichts vor. Die Erzählperspektive ist – zumindest im Unterhaltungsroman – dagegen tatsächlich ein normativer Begriff. Verdeutliche, wer gerade das Geschehen erlebt!, so lautet die Maxime für den Unterhaltungsschriftsteller. Dies hat aber nur bedingt etwas mit der Einteilung in eine auktoriale, personale oder Ich-Erzählsituation zu tun.

Eine Erzählung ist immer Kommunikation

Ein zweites Problem, das ich mit dem Erzählkreis habe, ist, dass eine Erzählung, sei es ein kurzer Witz, sei es ein vielbändiges Werk, immer eine Kommunikation darstellt, also den Bezug von Autor und Leser erfordert. Da der Autor immer außerhalb der Welt seiner Figuren steht, gibt es in jedem Roman, in jeder Erzählung, auch in jedem noch so kurzen Witz, einen auktorialen Erzähler. Und dem widerspricht nicht, dass die ganze Erzählung lediglich die Welt abbildet, in der der Roman spielt und in der die Handlungen stattfinden. Der auktoriale Erzähler widerspricht keineswegs dem personalen Erzähler.
Dabei stütze ich mich auf die Einteilung von Erzählungen in eine diskursive, narrative und syntaktische Ebene, die der französische Literaturwissenschaftler Roland Barthes vorgenommen hat. Die diskursive Ebene bezeichnet die Kommunikation zwischen Autor und Leser. Auf der narrativen Ebene geht es ausschließlich um die dargestellte Welt und das erzählte Geschehen. Die syntaktische Ebene schließlich betrachtet den Fortgang der Erzählung von Satz zu Satz. Auch diese Einteilung halte ich für sehr schwierig, da gerade stark symbolische Erzählungen diese Ebenen ständig durcheinanderbringen. Dazu muss man gar nicht in den Bereich der Weltliteratur gehen (falls es so etwas wie Weltliteratur gibt), sondern kann sich an Schriftsteller wie Stephen King, J. R. Ward oder George R. Martin halten.

Das Shining

Schaut man sich den Roman Shining Bezug auf die Erzählsituationen an, schaut man ihn sich Satz für Satz an, merkt man schnell, dass man mit der Einteilung von Stanzel große Probleme bekommt. Besonders auffällig wird dies im vierten Kapitel, welches mit Schattenland überschrieben ist, und dessen Perspektive die von Danny, dem Sohn von Jack und Wendy, ist.
Zur Erinnerung, und falls jemand tatsächlich noch nicht die Geschichte von Shining kennt: ein Ehepaar zieht in ein einsames Hotel hoch in den Rocky Mountains, um dieses über den Winter hinweg vor größeren Frostschäden zu bewahren. Schon im Vorfeld verdichten sich die unheimlichen Vorzeichen, dass das Hotel von einem „Spuk“ heimgesucht wird. Insbesondere spielt der kleine Danny eine wichtige Rolle. Dieser verfügt über die Gabe des Shining, was man ohne große Mühe mit Hellsicht übersetzen kann. Seine Gabe orchestriert die Befürchtungen und Hoffnungen seiner beiden Eltern mit „realen Ahnungen“.

Personalisierung

Wenn man sich nun dieses vierte Kapitel ansieht, so findet man Zusammenfassungen (ein Zeichen der auktorialen Erzählsituation) und gewollte Überblendungen (auktoriale Erzählsituation), Berichte (personale Erzählsituation) und impressionistisches Erleben (Ich-Erzählsituation), also ein wildes Durcheinander. Insbesondere aber spielt die Ironie eine wichtige Rolle. In der Ironie wird eine „Allwissenheit“ der auktorialen Erzählsituation und eine erlebende Innenperspektive (ein dramatischer Monolog, der bedingt der auktorialen Erzählsituation gegenübersteht) miteinander kombiniert. Nimmt man die Einteilung von Roland Barthes, dann stellt man einen ständigen Wechsel im Schwerpunkt der diskursiven und der narrativen Ebene fest: Mal wird die Welt der Erzählung von außen, mal von innen betrachtet. Mal wird sie distanziert, mal parteiisch geschildert.
Stanzel ist weit entfernt davon, dieses Problem zu ignorieren. Anhand der Erzählung The garden party von Katherine Mansfield schreibt er zunächst:
Insofern hier dem Leser Informationen über die Arbeitersiedlung am Fuße der Anhöhe, auf der Park und Herrenhaus der Sheridans liegen, übermittelt werden, ist dieser Einschub als Teil einer leserorientierten Exposition durch einen auktorialen Erzähler zu betrachten. Das Summarische dieser Schilderung, die Hinweise auf die Zeit, als die Sheridan-Kinder noch klein waren, und der zusammenfassende Bericht über ihre späteren Eindrücke von ihren Streifzügen durch dieses ärmliche Viertel, unterstreicht den Berichtcharakter der Stelle, zu dem auch Außenperspektive und damals/dort-Deixis gehören. Das alles ist Teil des charakteristischen Erzählgestus einer Erzählerfigur.
Stanzel, Franz: Theorie des Erzählens. Göttingen 1991, S. 224
Doch zu derselben Stelle schreibt Stanzel einige Sätze später:
Vom Standpunkt dieser anonymen Reflektorfigur sind diese Überlegungen ein Geschehen „in actu“, in dem frühere Erfahrungen und Beobachtungen einzelner Mitglieder der Sheridan-Familie jetzt einen aktuellen Niederschlag finden. Es herrscht jetzt/hier-Deixis vor und Innenperspektive, etwa in dem Sinne, dass die Stelle wie ein Teil eines inneren Monologs (ebendieser Reflektorfigur) zum Problem … gelesen werden kann. Ein auktorialer Erzähler … müsste kraft der ihm verfügbaren Außenperspektive diese Befangenheit durchbrechen. Dagegen gehört es zum Wesen einer Reflektorfigur, ihre Subjektivität voll auszutragen.
ebd., S. 225
Stanzel schließt daraus:
Da diese Reflektorfigur keine existenzielle Basis in der fiktionalen Welt der Charaktere hat, muss sie als Verwandlung der Erzählerfigur, als mimikryhafte Anpassung an die Charaktere der Geschichte aufgefasst werden, eine Verwandlung, die wir als Personalisierung bezeichnen.
ebd., S. 225
Mit dem Begriff der Personalisierung bezeichnet Stanzel also vor allem die Verwirrung der Erzählsituationen, insbesondere aber die Vermischung der diskursiven Ebene (einer auktorialen Erzählsituation) und der narrativen Ebene (die selbst wiederum eine Vermischung der Ich-Erzählsituation und der personalen Erzählsituation ist). Ich werde darauf mit Sicherheit noch einmal ausführlicher zurückkommen. Zunächst aber können wir feststellen, dass weder die Erzählperspektive, noch die Erzählsituation dogmatisch gesehen werden dürfen.

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