Obwohl ich dieses Buch schon seit vielen Jahren besitze, und es auch einmal gründlich durchgearbeitet habe, war ich beim neuerlichen Lesen recht überrascht. Erste Aufgabe und wohl zunächst einzige Aufgabe der Deutschdidaktik die Förderung der Einbildungskraft; so zumindest meine ich Beisbart und Marenbach zu verstehen, was sie in Bausteine der Deutschdidaktik (Donauwörth 2003) geschrieben haben.
Die formale Seite der Sprache
Zunächst mag dieser Aussage befremden, verbinden wir doch den Deutschunterricht mit Übungen zur Grammatik und zur Rechtschreibung, und wenn man sich angelegentlich mit den selfpublishern unterhält, dann geht es doch eigentlich nie um Einbildungskraft (was man wohl heute ihr als Vorstellungsvermögen bezeichnen), sondern eben um jene Formalien.
Nun gibt es allerdings einen Brückenschlag von der Grammatik zur Einbildung. Dieser ist von Wilhelm von Humboldt getan worden. In der Grammatik, so erklärt er, werde die Vorstellung präzisiert. Und genau so kann man dann Grammatik auch verstehen: es kann präziser dargestellt werden, was man sich einbildet; und zum anderen können präzisere Einbildungen aus geschriebenen Texten gewonnen werden. Grammatik ist also nicht etwas Zusätzliches oder vielleicht sogar etwas die Einbildungskraft Opponierendes, sondern der (differenzierten) Einbildungskraft immanent. Förderung der Grammatik ist Förderung der Einbildungskraft.
Einbildungskraft
Dies ist allerdings ein Wort, das eine bewegte Geschichte hinter sich hat. Im 19. Jahrhundert hat sich der Sinn der Einbildung in Richtung von der reinen Fantasie, sogar dem Truggebilde gewandelt.
Folgt man allerdings Kant, dann ist die Einbildungskraft zunächst ein Vermögen, welches zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand vermittelt. Der Verstand bildet die Begriffe, die Sinnlichkeit nimmt die Reize als rohes Material wahr; und die Einbildungskraft hat nun auf der einen Seite die Aufgabe, diese rohen Sinnesreize in erste Formen zu pressen, auf der anderen Seite den Begriffen jene Bilder zu liefern, die die Anwendung des Begriffs ermöglichen. (siehe auch Schauer / Erkenntnis)
Zur Archäologie des Bildes
Ganz so einfach ist es allerdings bei Kant nicht, dies möchte ich zwar nicht ausführlich, doch zumindest anmerken. Eliane Escoubas seziert in ihrem Aufsatz Zur Archäologie des Bildes. Ästhetisches Urteil und Einbildungskraft bei Kant die Rolle der Einbildungskraft im Spiel der Vermögen. Und hier zeigt sie, dass die Einbildungskraft sowohl den Vorrang des Verstandes, als auch den Wahrheitsbegriff Kants unterläuft, so dass sich die Definition, die ich eben gegeben habe, nicht halten lässt. Uns soll sie aber zunächst genügen. Eine ausführliche Diskussion von Kant kann ich hier nicht leisten, nicht nur aus Platzgründen, sondern auch, weil mir sein Werk immer noch recht verschlossen ist. (Der Aufsatz findet sich in dem von Volker Bohn herausgegebenen Sammelband Bildlichkeit, Frankfurt am Main 1990.)
Muster im Diskurs
Schaut man sich die neueren Entwicklungen an, zum Beispiel Foucault, zum Beispiel Bachtin, und beides sind ja „verkappte“ Kantianer, dann hat sich die Bildung der Formen von der Vernunft gelöst und ist, zumindest zum Teil, in die Kultur übergegangen. Wie dies genau geschieht, lässt sich dann wieder nicht so präzise angeben. Zumindest aber kann man sagen, dass wichtige Muster gerade nicht transzendental vorliegen, also der reinen Vernunft zugerechnet werden müssen, sondern der Kultur. Die Kultur prägt die Formen des Denkens; und so Unrecht hatte Marx nicht, wenn er in der fünften These über Feuerbach schreibt: »Feuerbach, mit dem abstrakten Denken nicht zufrieden, appelliert an die sinnliche Anschauung; aber er fasst die Sinnlichkeit nicht als praktische, menschlich-sinnliche Tätigkeit.«
Anders aber als Marx würde ich den Rhythmus als wichtige Bedingung der Erkenntnis herausheben. Dieser ist natürlich auch der praktischen Tätigkeit eigen; doch ist die Sinnlichkeit selbst auch durch Rhythmen geprägt, so dass die sinnliche Anschauung nicht direkt in eine praktische Tätigkeit aufgehen muss.
Rhythmen
Meine Idee geht nun von solchen Wiederholungen aus. Wenn wir die Einbildungskraft steigern wollen, brauchen wir spezifische Rhythmen des Wahrnehmens und des Tätigseins. Nun hängen solche Rhythmen immer mit einem Rahmen zusammen, in dem sie stattfinden. Und als einen solchen Rahmen sehe ich die Modelle. Modelle wiederum sind geordnete, also zusammenhängende Begriffe. Diese Definition ist deshalb noch sehr vage gehalten, weil Modelle sowohl aus einer Subsumption unter einen Oberbegriff gebildet werden können, wie dies zum Beispiel bei der Maslowschen Bedürfnispyramide oder den acht basalen Emotionen von Plutchik der Fall ist. Dann stehen die Begriffe nur als zusammengehörig nebeneinander. Andere Modelle wiederum bieten ganz spezifische Verkettungen von Ursachen und Wirkungen und damit ein sehr viel strengeres Gefüge, als dies mit einer Aufzählung möglich ist.
Gegen beide Formen und auch den ganzen Zwischenbereich ist natürlich nichts zu sagen. Wer ein Modell benutzt, muss wissen, dass dieses von begrenzter Reichweite ist und man mit anderen Modellen andere Erfahrungen machen kann.
Zunächst aber bietet ein Modell die Möglichkeit, sich mit einem Stoff auseinanderzusetzen, an diesem Stoff spezifische Rhythmen auszuprobieren, ihn also einzuteilen und zu skandieren.
Modelle in der Deutschdidaktik
Führt man diesen Gedankengang wieder auf die Deutschdidaktik zurück, so bleibt ein Recht mageres Ergebnis übrig:
Es gilt, im Deutschunterricht Modelle zu benutzen, den Schülern die Anwendung dieser Modelle beizubringen, und sie – eventuell – auch selbst Modelle entwerfen zu lassen, die sie dann anwenden.
Stellt man dem allerdings wieder gegenüber, was alles als Modell gelten kann, dann steht einem fast die ganze Welt offen. So sind zum Beispiel Comics mit ihrer typischen Bildgrammatik genauso zu den Modellen zu rechnen wie die Satzgrammatik; so ist die Arbeit mit freieren Geschichtsmustern Modell ebenso wie die reine Inhaltsangabe; die Mindmap trifft sich, auf diesem abstrakten Niveau, mit der dialektischen Argumentation.
Modellieren ist also die grundlegende Tätigkeit, die der Deutschunterricht den Schülern vermittelt. Er unterscheidet sich damit nicht vom Mathematikunterricht oder vom Kunstunterricht. (siehe auch Semantisches Gedächtnis.)
Reste der Vernunft
Laut Kant wirkt die Vernunft spontan, aufgrund ihrer transzendentalen Formen. Streicht man dieses Vermögen der Vernunft und ersetzt es durch gewohnheitsmäßig erworbene kulturelle Muster, dann gilt es, solche Muster spontan werden zu lassen; dies wiederum scheint John Anderson anzudeuten (Kognitive Psychologie, Berlin 2014). Bei ihm gehen die Muster des deklarativen Wissens durch Übung in Muster des prozessualen Wissens über, was man salopp folgendermaßen beschreiben könnte: ein interpretiertes Modell wird durch häufige Übung zu einem interpretierenden Modell, bzw. ein Stück Welt bildet sich um zu einem Stück Welterfassung.
Dies nenne ich Überautomatisieren. In einer ihrer berühmten, oft zitierten Anekdoten beschreibt Maria Montessori, wie ein Kind sich fortlaufend und immer wieder mit einem Material beschäftigt, trotz des Lärms, den Montessori zusammen mit anderen Kindern veranstaltet. Montessori sieht dies als Beweis für das, was sie die „große Arbeit“ nennt. Allerdings reichen mir ihre Erklärungen nicht weit genug; ich denke eher, dass bestimmte Modelle, sofern sie lange genug eingeübt werden, aus dem deklarativen Wissen umkippen und dann beginnen, die Strukturen der Weltwahrnehmung zu verändern. Typisch für solch eine Haltung ist, dass die Kinder (aber auch die Erwachsenen) nicht wirklich sagen können, was sie gelernt haben. Die Beschäftigung an sich scheint hier wichtig zu sein. Aber, um dies noch einmal deutlich zu sagen, ist dies wohl nicht der wichtige Anteil am Prozess; dieser geht im Stillen vor sich als ein (Sich-)Umstrukturieren.
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