Eine der aufregendsten Aspekte von Diagrammen ist ihre Sozialität. Sybille Krämer schreibt in ihrem Buch Figuration, Anschauung, Erkenntnis, dass zum Beispiel das Ballfangenspiel einen geteilten Aktionsraum über dem und durch das Diagramm des Spielfeldes errichtet (S. 13). Gleiches gilt für Brettspiele.
Diese Anmerkung hat mich zu zahlreichen Kommentaren veranlasst und ein recht altes Thema eine Zeit lang wieder in den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit gerückt: Brettspiele, angefangen bei Mensch-ärgere-dich-nicht bis zu den Siedlern von Katan, von online-Patiencen über Kniffel, aber auch den sogenannten MMORPG.
Diagrammatischer Aktionsraum
Kernpunkt dabei ist allerdings, dass jegliches Diagramm einen solchen Aktionsraum ermöglicht, indem es bestimmte Tätigkeiten, Gesprächsinhalte und Denkmuster nahelegt, andere entmutigt. So vorsichtig muss man sich allerdings ausdrücken, denn bei längerer Beschäftigung mit einem Diagramm entdeckt man kritische Übergänge, die zunächst, beim ersten Ansehen, nicht einsehbar sind. Nimmt man Kritik in ihrem klassischen Sinne, dann gilt durch Wertschätzung die Reichweite eines Begriffs, eines Modells, eines Diagramms oder einer Theorie zu ermessen; Kritik ist nicht – wie dies heute leider allzu oft verstanden wird – eine Abwertung.
Subjektschwund
Dieser gemeinsame Aktionsraum gilt aber schließlich nun für jede Struktur. Sie betrifft jeden Satz. Allerdings ist er, nicht nur bei bestimmten Sätzen, sondern auch bei „objektiven“ Diagrammen, bei Tabellen, bei wissenschaftlichen Schaubildern, nicht mehr deutlich sichtbar. Dort muss man ihn ergänzen. Nehmen wir etwa den Zitronensäurezyklus, so ist dieser nur über viele weitere Erklärungen dem menschlichen Leben, ins besondere aber der subjektiven Perspektive verknüpfbar.
Zunächst ist in der reinen Form als reines Wissen die soziale Perspektive komplett ausgeblendet.
Auf der anderen Seite ist auch ein Diagramm wie das Kommunikationsquadrat (von Schulz von Thun) nicht unbedingt deutlich, was die Gesamtheit des Aktionsraums sein soll. Man kann nämlich davon ausgehen, dass das Kommunikationsquadrat mehr als nur die beiden Beteiligten des Dialogs einbindet. Auch Diagramme verwirklichen den Subjektschwund, und dies im gleichen Diagramm eventuell in sehr unterschiedlichem Maße.
Das Kommunikationsquadrat
So berücksichtigt auch das Kommunikationsquadrat zunächst nur einen sehr kleinen Teilbereich der menschlichen Kommunikation: wie eine Botschaft vier verschiedene praktische Aspekte der Kommunikation „enthält“ – besser wäre gesagt, wie diese hineinkonstruiert werden können. Der Empfänger der Botschaft taucht hier nur noch als „Kategorisierungsmaschinchen“ auf, der eben diese Botschaft entweder als Sachinhalt, als Appell, als Selbstoffenbarung oder als Beziehungsangebot hört. Und der Sender der Nachricht taucht eben nur noch als Nachricht auf.
Erst diese starke Abstraktion erzeugt dann aber auch die diagrammatische Figur, einen Pfeil, der vom Sender zum Empfänger verläuft und dort dann in eine der vier „Schubladen“ hineingelegt wird.
Diagramm ohne Aktionsraum
Wie stark dieser Subjektschwund dann in die Kommunikation hineinwirkt, erfährt man, wenn ein solches Diagramm nicht mehr auf sich selbst und sein Leben bezogen wird, sondern gleich auf das ganze Volk. Neulich, am Samstag, um genau zu sein, musste ich dies ertragen – wieder einmal. Derjenige, mit dem ich diskutiert habe, wusste nämlich gar nicht genau, was jenes vorliegende Diagramm mit seinem Leben zu tun hat. Aber dass das deutsche Volk daran zugrunde geht, das war ihm deutlich klar.
Ideologische Effekte
Nun kann man diesen Menschen gar nicht einen solchen Vorwurf daraus machen, denn Diagramme an sich sind dazu gemacht, einen Raum mit bestimmten Vektoren zu durchziehen. Dies geschieht aber nur um den Preis fehlender Konkretion. Diese müsste der Betrachter des Diagramms eigenhändig hinzufügen; sind die Diagramme aber zu abstrakt, fassen sie Phänomene zusammen, die zum Teil weit auseinanderliegen (wie die Polizeiliche Kriminalstatistik), und nur im Diagramm dicht beisammen stehen, transportieren sie mehr oder weniger unfreiwillig ideologische Effekte.
So auch in diesem Fall: der Betreffende schien zwar sein frühzeitiges und auf boshafteste Weise organisiertes Ableben zu befürchten, kam aber gar nicht dazu, hieraus für sich Erkenntnisse zu sammeln oder gar Handlungen zu planen. Zu groß, zu massiv war das Grauen, das ihm aus den wenigen Kästchen und Pfeilchen und Zählchen entgegenschlug. Dass er sich damit als Subjekt selbst aus seinem Protest herausgestrichen hatte, schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Er war hilflos, bevor die Verdammnis auch nur einen Fuß in sein Leben gesetzt hatte.
Der geteilte Aktionsraum wird so konterkariert durch den Subjektschwund. Dies übrigens gilt nicht nur für irgendwelche wissenschaftlichen Schaubilder, sondern auch für Spiele, insbesondere für online-Spiele, die das Subjekt nur noch maskenhaft - als Avatar - hervortreten lassen und dadurch den Raum medial zerreißen.
Auf dem Aktionsraum beharren
Ein Heilmittel dagegen, und sowieso ein nützliches Werkzeug, wenn man Diagramme betrachten möchte, ist der Rückgriff auf eben jenen Aktionsraum. Fragen wir uns also, welche möglichen Handlungen bei einem Diagramm sinnvoll sind. Fragen wir uns, welche Handlungen gewünscht werden – von jenen, die das Diagramm erstellt haben. Und fragen wir uns, in welcher Weise wir uns kritisch mit diesen Handlungsvorgaben auseinandersetzen können.
Dann entdeckt man dabei vielleicht, dass manche der Tatsachen, die man zunächst einem Diagramm zugeschrieben hat, von außen hineingelegt worden sind. Dieser Perspektivwechsel ist triftig. Auch wenn ich mittlerweile über Jahre hinweg dieses Thema immer weiter zerlegt habe, auch wenn ich mich mittlerweile in gewisser Weise rühmen darf, zahlreiche Fallstricke und Schleichwege zu kennen, verläuft der erste Weg zur Auseinandersetzung mit einem Diagramm immer wieder über diese höchst subjektive Aneignung und allen ihren Verkennungen.
Es lässt sich wohl nicht gänzlich vermeiden.
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