Immer, wenn Cedric da ist, darf ich meinen eigenen Computer nicht mehr benutzen. Es ist eben doch noch sein Recht, meinen grafisch leistungsstarken Computer für seine Virtual-Reality zu gebrauchen. Im übrigen war er heute ganz geistreich und aufmerksam. Ich habe ein wenig an seinen vor sich hinplätschernden Ferien herumgemeckert und ihm nahe gelegt, sich ein wenig mehr mit geistigen Dingen zu beschäftigen oder sich mit Freunden zu treffen. Jedenfalls habe ich ihm den einen oder anderen netten Spruch aus Kants Anthropologie vorgelesen.
Dieses Werk stellt so etwas wie eine Sinnes- und Sozialpsychologie dar. Ich zitiere hier einiges Denkwürdiges und Witziges von ihm nach der suhrkamp-Ausgabe, Bd. 12.
(1) "Man empfängt den Gast nach seinem Kleide und begleitet ihn nach seinem Verstand." (420)
Hier zitiert Kant allerdings nur ein russisches Sprichwort.
(2) "Man nennt den, welcher diese Vermögen im vorzüglichen Grade besitzt, einen Kopf; den, dem sie in sehr kleinem Maße beschert sind, einen Pinsel (weil er immer von andern geführt werden bedarf); ..." (422)
Besonders hübsch finde ich die Erklärung der Bezeichnung "Pinsel". Dies ist übrigens keine Metapher, sondern eine verkürzte Analogie, die metaphorische Züge annimmt.
(3) "Die Kunst aber, oder vielmehr die Gewandtheit, im gesellschaftlichen Tone zu sprechen, und sich überhaupt modisch zu zeigen, welche, vornehmlich wenn es Wissenschaft betrifft, fälschlich Popularität genannt wird, da sie vielmehr geputzte Seichtigkeit heißen sollte, deckt manche Armseligkeit des eingeschränkten Kopfes." (423)
Siehe da! Schon zu Kants Zeiten gab es Plärrer und Selbstdarsteller. Wie herrlich aber ist dieser nette Spott der "geputzten Seichtigkeit".
Die Popularität bedeutet bei Kant übrigens: mit Beispielen versehen, die dem Übergang zu den Begriffen dienen (der andere Begriff ist der der Scholarität, also die Darlegung der Begriffe ohne Beispiele). Kant schreibt auch irgendwo in seiner Anthropologie (ich finde gerade die Stelle nicht), dass ein Beispiel zuallererst ein Hilfsmittel für den Leser ist, um weitere Beispiele zu finden. Erst dadurch, also durch die mehreren selbstgefundenen Beispiele, entstünde ein Begriff.
Folgt man Kants Prinzipien der Begriffsbildung, so ist dies auch nur logisch. Zur Begriffsbildung gehört der Vergleich, der verschiedene Anschauungen auf gemeinsame und relevante Merkmale durchsieht. Es wäre ermüdend, wollte ein Buch solche vielen verschiedenen Anschauungen einzeln aufzeigen. Aber ohne verschiedene Anschauungen kann ein Begriff nicht entstehen. Und deshalb ist dieses eine Beispiel, was den Begriff in seiner praktischen Situation darlegt, immer nur ein Übergang. Den Rest hat der Leser zu leisten.
Im übrigen bedauere ich es sehr, dass ich mich erst vor anderthalb Jahren ernsthaft mit Kant zu beschäftigen begonnen habe, denn wenn auch vieles heute nicht mehr so gesehen werden kann, wie Kant es sah, hat er doch für vieles das Fundament gelegt. Alleine seine geradezu revolutionäre Erläuterung zu Stoff und Form, die dann mit dem Begriff der (psychologischen) Gestalt im 20. Jahrhundert die Psychologie und die Anthropologie maßgeblich beeinflusst hat.
Der Stoff ist die Unmasse an Sinnesempfindungen, die uns unsere Sinnesorgane liefern. Diese liegen roh und ungestaltet vor; einmal (mindestens) schreibt Kant ihnen die Eigenschaft chaotisch zu. Der Verstand nun bringt diese Sinnesempfindungen in Form. Diesen Akt bezeichnet Kant als spontan. Deshalb ist die Form transzendental. Transzendental ist, was das Bewusstsein leistet, aber nur mittelbar (also durch Reflexion) erfassbar ist. Genau das besagt aber auch der Begriff der Spontaneität des Verstandes. Der Verstand nimmt sich nicht vor, die Sinneseindrücke zu ordnen, sondern ordnet sie spontan.
So kommen alle Gegenstände, ja die ganze Welt durch die spontanen Formungen des Verstandes zustande. Und dies ist dann nichts anderes als ein Konstruktivismus, von dem man so gerne behauptet, er sei ein Kind des späten 20. Jahrhunderts.
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