Eigentlich kann ich es ja nicht mehr hören. Gehirngerechtes Lernen!
Trotzdem: dieses brausige, aber leider sehr mythische Konzept hält sich mit allergrößter Hartnäckigkeit. Zerpflücken wir also den Artikel einer Internet-Kollegin, zumindest stellenweise.
Superlearning und Edu-Kinestetik
Zuvor aber ein Zitat von Gerhard Roth aus seinem wunderbaren Buch Bildung braucht Persönlichkeit (Stuttgart 2011, S. 278):
Es gibt inzwischen einen großen und profitablen Markt an Ratgebern für »hirngerechtes« Lehren und Lernen. Die Autoren stammen aus den unterschiedlichsten, jedoch durchweg nicht-neurobiologischen Disziplinen. Sie diagnostizieren wie die Neurobiologen das komplette Versagen der gegenwärtigen Pädagogik und Didaktik und empfehlen bzw. praktizieren demgegenüber den Rückgriff auf die Neurobiologie. Hierunter fallen allerdings Konzepte wie Suggestopädie bzw. Superlearning, Edu-Kinestetik bzw. Brain Gym®, Ganzheitliches Lehren und Lernen mit allen Sinnen (einen Überblick gibt Becker 2006). Diese Methoden und Rezepte sind teils von großer Allgemeinheit und Verwaschenheit, wenn sie sich zugunsten eines »ganzheitlichen«, »entspannten« oder »kreativen« Lernens aussprechen, teils sind sie aus psychologischer und neurobiologischer Sicht obskur, z. B. wenn sie die Beseitigung eines »Ungleichgewichts« zwischen den beiden Hirnhemisphären oder eine »bessere Ausnutzung der Hirnkapazität« propagieren. Das beruht auf teilweise falsch verstandenen, teilweise irreführend dargestellten Forschungsergebnissen. Mit wissenschaftlicher Begründung hat dies nichts zu tun. Dies lässt sich, wie Becker treffend bemerkt, allein schon an der »zirkulären« Beleg- und Zitierweise festmachen, d. h. man zitiert zugunsten der eigenen Aussagen solche anderer Ratgeber-Autoren, aber nicht anerkannte Originalarbeiten der Psychologie und Neurobiologie.
Der vergessene Schopenhauer
Die Kollegin schreibt zum Beispiel (alle weiteren Zitate aus dem oben verlinkten Artikel):
Seit in den 60er Jahren die Forschung damit begann, sich näher damit zu beschäftigen, welche Vorgänge beim Lernen im Gehirn ablaufen, gibt es interessante, nicht nur für den Schulalltag und das Lernen in Kursen und Seminaren relevante Erkenntnisse.
Und ich stelle hier jetzt einfach mal ein paar Zitate von Schopenhauer daneben (ich zitiere aus den Gesammelten Werken der suhrkamp-Ausgabe):
Könnte man nur solchen Herren begreiflich machen, dass zwischen ihnen und dem wirklichen Wesen der Dinge ihr Gehirn steht wie eine Mauer, weshalb es weiter Umwege bedarf, um nur einigermaßen dahinterzukommen - so würden sie nicht mehr so dreist von ›Seelen‹ und ›Stoff‹ und dgl. in den Tag hinein dogmatisieren - wie die philosophierenden Schuster.(GW III, 195f.)
L. Flourens hat dargetan, dass das kleine Gehirn [also heute: Kleinhirn, FW] der Regulator der Bewegungen ist: aber das große Gehirn ist es auch, im weitern Sinne; in ihm stellen sich die Motive dar, die den Willen seinem Charakter gemäß bestimmen: demnach fasst dasselbe große Gehirn die Beschlüsse, und nur das Detail dieser Beschlüsse wird durch das kleine Gehirn gelenkt: dieses verhält sich danach zum großen wie zum Generalstab die Subalternoffiziere. Mein Auge ist das Sehende: aber um zu sehn, bedarf es des Lichts. Ebenso ist es mein Wille, der mein Tun lenkt: aber er kann es nur unter Vermittelung der Erkenntnis, die wesentlich eine Gehirnfunktion ist; daher die einzelnen Willensbeschlüsse vom Gehirn ausgehn ...(GW III, 343)
Welch ein Sprung wäre es nun, dieses Bild der Welt, welches auf solche Art akzidentell im Intellekt, d.i. [in] der Gehirnfunktion tierischer Wesen entsteht, indem die Mittel zu ihren Zwecken sich ihnen darstellen und so einer solchen Ephemere ihr Weg auf ihrem Planeten sich aufhellt - dieses Bild, sage ich, dieses bloße Gehirnphänomen für das wahre letzte Wesen der Dinge (Ding an sich) und die Verkettung seiner Teile für die absolute Weltordnung (Verhältnisse der Dinge an sich) zu halten und anzunehmen, dass jenes alles auch unabhängig vom Gehirn vorhanden wäre! Diese Annahme muss uns hier als im höchsten Grade übereilt und vermessen erscheinen: und doch ist sie der Grund und Boden, worauf alle Systeme des vorkantischen Dogmatismus aufgebaut wurden: denn sie ist die stillschweigende Voraussetzung aller ihrer Ontologie, Kosmologie und Theologie, wie auch aller aeternarum veritatum [ewigen Wahrheiten], worauf sie sich dabei berufen. Jener Sprung nun aber wurde stets stillschweigend und unbewusst gemacht: ihn uns zum Bewusstsein gebracht zu haben ist eben Kants unsterbliche Leistung. Durch unsere gegenwärtige realistische Betrachtungsweise gewinnen wir also hier unerwartet den objektiven Gesichtspunkt für Kants große Entdeckungen und kommen auf dem Wege empirisch-physiologischer Betrachtung dahin, von wo seine transzendental-kritische ausgeht.(GW III, 394)
Diese letzte Stelle ist auch deshalb so wichtig, weil sie zeigt, dass Kant, bei allen Widerlegungen, die ihm mittlerweile widerfahren sind, der eigentliche Begründer des modernen Konstruktivismus ist (mit Hume, Locke, Leibniz als wichtige Vorläufer).
Die Neuerfindung des Konstruktivismus
Man spricht von den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts als der kognitiven Wende. In der Psychologie hieß das in etwa dies: Der Mensch lernt nicht seine Umgebung kennen, sondern er konstruiert seine Umgebung gemäß den seinem Bewusstsein zugrunde liegenden Regeln.
O sancta simplicitas! möchte man hier schreien. Ist dies nicht genau das, was Kant als transzendental bezeichnet? Und dass wir die Welt nicht objektiv erkennen können, die Objektivität des Dings-an-sich unerreichbar bleibt, nicht das Transzendente bei ihm? Muss man nicht hier an Marx, bzw. Hegel, denken, der sagte, dass alle großen Ereignisse der Weltgeschichte zweimal passieren? Nur das es diesmal nicht Tragödie und Farce, sondern geistige Revolution und geistige Tragödie sind?
Zitieren wir weiter, diesmal aus Bergsons Materie und Gedächtnis, der, wie kaum ein zweiter, das frühe Elend neurophysiologischer Philosopheme deutlich gemacht hat (hier fehlt mir leider die Seitenangabe):
Zitieren wir weiter, diesmal aus Bergsons Materie und Gedächtnis, der, wie kaum ein zweiter, das frühe Elend neurophysiologischer Philosopheme deutlich gemacht hat (hier fehlt mir leider die Seitenangabe):
Dass zwischen dem Bewusstseinszustand und dem Gehirn ein Zusammenhang besteht, ist unbestreitbar. Es besteht aber auch ein Zusammenhang zwischen dem Kleid und dem Nagel, an dem es aufgehängt ist, denn wenn der Nagel herausgezogen wird, fällt das Kleid herunter. Kann man deshalb sagen, dass die Form des Nagels die Form des Kleides andeute oder uns irgendeinen Schluss auf sie erlaube? Ebensowenig kann man daraus, dass die psychologische Tatsache an einen "Gehirnzustand" angehängt ist, auf den „Parallelismus" der beiden Reihen, der psychologischen und der physiologischen, schließen. Wenn die Philosophie diese parallelistische These auf die Tatsachen der Wissenschaft zu stützen vorgibt, so begeht sie einen wahrhaften circulus vitiosus: denn wenn die Wissenschaft den Zusammenhang, der eine Tatsache ist, im Sinne des Parallelismus erklärt, der eine Hypothese ist (und eine recht wenig verständliche Hypothese), so geschieht das, bewusst oder unbewusst, aus Gründen philosophischen Ranges. Es geschieht, weil sie durch eine gewisse Philosophie an den Glauben gewöhnt ist, es gäbe keine einleuchtendere Hypothese, keine, die den Interessen der positiven Wissenschaft besser entspräche.
Und ihr seht: was gute Neurophysiologie ist, wie diese philosophisch zu interpretieren seien, wurde 1896 auch schon kritisch diskutiert.
Von 1960 als Geburtsjahrzehnt der Hirnforschung kann also gar keine Rede sein. Ich verweise noch auf die ganzen Neukantianer, insbesondere auf das wunderbare Buch von Ernst Mach, Irrtum und Erkenntnis, oder auf die Theoretische Biologie von Uexküll.
Von 1960 als Geburtsjahrzehnt der Hirnforschung kann also gar keine Rede sein. Ich verweise noch auf die ganzen Neukantianer, insbesondere auf das wunderbare Buch von Ernst Mach, Irrtum und Erkenntnis, oder auf die Theoretische Biologie von Uexküll.
Linke und rechte Gehirnhälfte
Dabei ist die linke Hälfte die Hemisphäre der Logik.
Auch diese Aussage ist unsinnig. Die laterale Spezialisierung ist zwar unübersehbar, aber hier werden dem Gehirn kulturelle Inhalte angedichtet, die neurophysiologisch nicht vorliegen. Das Gehirn arbeitet linkerhand eher seriell, rechterhand eher kompositorisch-flächig (was man dann als bildhaft bezeichnet). "Eher", wie ich geschrieben habe, ist die Vorsicht, mit der wir dann zu tun haben, wenn wir ordentlich argumentieren.
Damasios Einteilung in funktionelle Hemisphären war damals eine begründete Spekulation. Dass sie als Tatsache aufgegriffen wurde, ist der vergiftete Zusatz der Plärrer. Mittlerweile ist sie zum stehenden Mythos geworden und man kann und darf sich wundern, dass die Kollegin dann noch weiter reduziert und trivialisiert und dort die Logik verortet. Auch: Als ob Bilder, Räume und Kompositionen keine Logik hätten!
Lerngymnastik
Am besten lernen und behalten kann derjenige, dem es gelingt, Brücken zu bauen und dessen Gehirn über den Nervenstrang in der Mitte, den corpus callosum, die meisten Verbindungen zwischen den Gehirnhälften entwickelt.
Auch das ist falsch. Zwar verbindet der corpus callosum selbstverständlich die beiden Gehirnhälften und ist deshalb ein wichtiges Bestandteil unseres Gehirn. Aber die sogenannte Lerngymnastik behauptet hier einfach, dass ein simples Mehr schon eine bessere Qualität des Denkens bedingen würde. Ich möchte nun nichts gegen die Übungen der Lerngymnastik sagen, aber diese Argumentation ist Quatsch. Hier muss man einfach auf die Erfahrungen der Lehr-Lernforschung zurückgreifen und sagen: solche Übungen haben sich als sinnvoll erwiesen.
Das Gehirn darf man dann getrost draußen lassen, zumal ja niemand wird nachprüfen können, ob sich durch solche Übungen tatsächlich das Gehirn "besser" vernetzt hat. (Schneiden Sie bitte jetzt Ihr Kind auf und zählen Sie nach!)
Optimismus, Pessimismus und Verneinung
Ob ein Glas halb voll oder halb leer ist – dies ist oft eine Frage der Betrachtung.
Eine weitere, recht unselige Verquickung ist die zwischen Verneinung und Optimismus/Pessimismus.
Dass man einen Satz, gerade für Kinder, positiv formulieren sollte, also ohne Verneinung, ist erstmal rein grammatisch-logisch zu sehen. Ein Satz wie "Hitler war kein guter Mensch" darf eben nicht, positiv formuliert, zu einem "Hitler hat doch auch viele gute Werke geleistet" werden, sondern zu "Hitler war ein böser Mensch".
Warum aber sollte man Verneinungen (bei Kindern) vermeiden? Weil die Verneinung einen relativ hohen intellektuellen Aufwand erfordert, also im Denken der Kinder erst recht spät auf der logischen Ebene auftaucht, zwischen zwei und vier Jahren. Es erfordert insgesamt einen höheren Energiebedarf, einen verneinenden Satz zu verstehen, und wird deshalb, auch bei Erwachsenen, eher ausgeblendet. Dann wird aus einem "Kauf heute mal nicht den Erdbeerjoghurt" ein "Kauf mal den Erdbeerjoghurt".
Beide Anweisungen sind aber weder als pessimistisch noch als optimistisch zu beurteilen.
Wer sich nun aufgrund dieses falsch verstandenen Sachverhalts ständig darauf versteift, alles optimistisch zu formulieren, macht sich des Realitätsverlustes schuldig. Es gibt Phänomene in der Welt, die sind nicht gut. Dasselbe gilt natürlich auf für pessimistische Formulierungen.
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