24.04.2009

Diskontinuierliches Denken

Was jene Art Wissenschaft der Gliederung, des Diskontinuierlichen, angeht, die ich ein wenig ironisch »Arthrologie« nannte, möchte ich dennoch sagen, dass diese Begriffe des Diskontinuierlichen und der Kombinatorik für mich wichtig und lebendig bleiben. In jedem Augenblick, den ich lebe, wenn ich gehe, sogar auf der Straße, wenn ich denke, wenn ich reagiere, jeden Augenblick finde ich mich auf seiten eines Denkens des Diskontinuierlichen und der Kombinatorik. Erst heute las ich einen wie immer bewundernswerten Text von Brecht über die chinesische Malerei, wo er sagt, dass die chinesische Malerei die Dinge nebeneinander, eines neben das andere stellt. Das ist eine sehr einfache, aber sehr schöne und sehr wahre Formel, und im Grunde genommen suche ich gerade, jenes »Neben« zu fühlen.
Das haben Sie in L'Empire des signes (Das Reich der Zeichen) versucht, nicht wahr?
Genau. Es scheint recht einfach, nicht sehr revolutionär, und dennoch, wenn man sich die Art und Weise vorstellt, wie die Geisteswissenschaften denken, Begriffe bilden, formalisieren und verbalisieren, dann bemerkt man, dass sie überhaupt nicht an ein wirkliches Denken des Diskontinuierlichen gewöhnt sind: sie sind noch vom Über-Ich der Kontinuität beherrscht, einem Über-Ich der Evolution, der Geschichte, der Filiation usw. Jede Vertiefung des Denkens des Diskontinuierlichen bleibt also wesentlich häretisch, revolutionär im eigentlichen Sinne und notwendig.

Barthes, Roland: Gespräch mit Stephen Heath, in: ders.: Die Körnung der Stimme, Frankfurt am Main 2002, S. 141-165, hier S. 144f.
Der Text von Brecht findet sich in Brecht, Berthold: GW Band 18, S. 278-279 (Über die Malerei der Chinesen).
Zunächst muss man davon ausgehen, dass Barthes hier dem zerbrochenen, diskontinuierlichen Begriff das Wort redet, so wie er auch von Pro Reli für den Begriff der Freiheit genutzt wird. Barthes dagegen will hier aber den Begriff in seiner Kausalität problematisieren. Pro Reli verkausalisiert den Begriff der Freiheit (Es geht um die Freiheit), also ist das Kreuzchen an der richtigen Stelle schon die Verwirklichung von Freiheit. Dagegen steht hier der immanente Bruch, der die Wahl, auch jede andere Wahl gerade nicht in einem kausalen Zusammenhang mit Freiheit stellt, sondern in einen konstellativen und problematischen.
Parteien erschaffen ja nicht bessere Kausalzusammenhänge, sondern verwirklichen Erschaffungs- und Simulationszusammenhänge. Natürlich passiert dasselbe in der Wissenschaft, wenn auch unter anderen Vorzeichen und mit anderen Werten. Die Vornehmheit eines Wissenschaftlers liegt dann in seiner Ironie, dass andere (wissenschaftliche) Betrachtungsweisen eben auch möglich sind.
Ein Politiker, der heute im Wahlkampf zu ironischen Selbstdistanzierungen Zuflucht nimmt, wäre so unglaubwürdig, wie der, der hinterher seine Wahlkampfversprechen nicht hält. Aber das ist wieder und letzten Endes das Problem eines Volkes, dass sich, müde geworden, nicht mehr mit den Parteiprogrammen auseinandersetzt und hier von unten Druck auf eine Sprache der politischen Werbung ausübt.

Brecht nun geht in diesem Text Über die Malerei der Chinesen darauf ein, dass diesen chinesischen Bildern die Zentralperspektive fehlt und damit auch der Zwang, sich einer Macht unterzuordnen (man fühlt sich an Foucaults Untersuchung zum Panoptismus erinnert, siehe Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, S. 251ff.). Die fehlende Unterordnung ermöglicht stattdessen ein wesentlich offeneres Gefüge. Es gäbe über die Familie hinaus Verbindungen und Verbünde und wenn man ein chinesisches Bild zerschnitte, hätte man immer noch einen gleichen Wesenszug, wenn auch nicht mehr das gleiche Bild.
Brecht setzt hier also eine gleichsam holistische Auffassung einer parzellierenden Auffassung entgegen. Der holistischen Auffassung (im Sinne Brechts) entsprechen plurale Perspektiven, "unendliche" Teilbarkeit, heterogene Gefüge. Die parzellierende Auffassung dagegen (obwohl Brecht von ihr hier nicht explizit spricht) besteht aus: einer Zentralperspektive, die gleichzeitig einen Ort des unsichtbaren Zwangs konstruiert und unteilbare Funktion der Elemente zueinander.

Barthes Denken des Diskontinuierlichen scheint mir daneben ein Drittes zu sein. Es konstelliert einen Erschaffungs- oder Schöpfungszusammenhang, eine evozierende Kombination, die sich kritisch gegen die Kausalität wendet, gegen das Denken der Kontinuität. Dieses Denken ist kritisch, weil es sich gegen eine Herrschaft der Zentralperspektive wendet (gegen die Kontinuität), selbstlegitimierend, weil es sich schon als Bruch einführt, und sich nicht kausal, sondern polemisch erklärt, polemisch, insofern es den Konflikt, Widerspruch oder die Unreinheit in den Begriff hineinerklärt, und verwirrend, als diese Konflikte, Widersprüche und Unreinheiten nicht wegerklärt, sondern gerade herauspointiert werden. Hier ist die Spannung also am Größten. Es geht wider den Geschmack der reinigenden Kausalität.
Brechts Holismus dagegen erscheint - zumindest in diesem kleinen Fragment - geradezu idyllisch.

Was die kausalen Begriffe angeht, so simulieren diese eine Oberfläche. Gerade wenn man sie hinterfragt, wenn man ihre Reichweite, ihren Problemgehalt zu formulieren anfängt, werden die Gegendarstellungen von Brecht und Barthes aber attraktiv. (Im übrigen scheint mir, aber das müsste man genauer untersuchen, Goethes Nachschrift zum westöstlichen Diwan mit ähnlichen Denkfiguren zu spielen.)

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