03.11.2024

Psychoanalyse, Politik und Dekonstruktion. Eine Rezension

Lücke, Bärbel: Psychoanalyse, Politik und Dekonstruktion. Textanalysen zum Werk von Franz Witzel. Bielefeld 2024, 160 Seiten, 39 €.
Woran lässt sich der Wert eines Buches bemessen? Roland Barthes jedenfalls verwirft die ›armselige Freiheit, den Text entweder anzunehmen oder ihn zu verwerfen‹ und stellt diesem den Leser als ›Textproduzenten‹ gegenüber. Mit anderen Worten ist ein Buch so viel wert, wie es uns zum Weiterlesen und Nochmal-Lesen, zum Denken und Umdenken, zum Weiterschreiben verleitet. Und dies als Wert genommen ist ›Psychoanalyse, Politik und Dekonstruktion‹ eines der Schönsten, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Frank Witzel ist kein einfacher Schriftsteller. Er bedient sich burlesker und humoristischer Strategien, die teilweise ins Satirische und Groteske abgleiten und doch sind seine Bücher immer auch von einem tragischen, auch zutiefst politischen Grundton durchzogen. In diesem (scheinbaren) Paradox befindet sich auch der Leser; die Bücher erscheinen fröhlich und bitter zugleich. Hier arbeitet Lücke für verschiedene Werke ein zentrales Thema von Witzel heraus: das Trauma zu schreiben, das Trauma einer unbewältigten Vergangenheit, aber so zu schreiben, dass es nicht rational-distanziert betrachtet wird, sondern dass es vom Leser erfahren und als Erfahrung reflektiert werden kann.
Frank Witzel ist kein einfacher Schriftsteller, ich sagte es. Dass seine Werke streckenweise ›saukomisch‹ sind, widerspricht dem nicht, auch nicht dem, dass Traumata quälend und zerstörerisch sein können. Darum ist es sehr sinnvoll, gerade wenn man mit den Ansprüchen ›postmoderner‹ Literatur noch nicht vertraut ist, eine klärende und klarsichtige Hilfestellung zur Hand zu haben. Und genau das schafft Bärbel Lücke großartig.
Trotzdem wendet sich die Autorin nicht zuallererst an literaturwissenschaftliche Neulinge; zwar führt sie ihre Begriffe knapp und übersichtlich ein, zwar sind ihre Beispiele zu den Begriffen begnadet treffsicher, zwar sind ihr Satzbau und ihre Wortwahl unprätentiös und eingängig – also fernab von aller Wortschrauberei und allem akademischen Klimbim –, allein ist ihr Buch dann auch wieder so kompakt und dicht, so von Satz zu Satz gehaltvoll, dass eine gewisse gute Grundlage mit Theorien wie der Dekonstruktion, der strukturalistischen Psychoanalyse, der Nomadologie und allgemein linguistischer Grundlagen nützlich sind.
Mir hat diese Knappheit allerdings außerordentlich Spaß gemacht; einfach weil es die Argumentationen sehr übersichtlich präsentiert. Und ernsthaft gesagt kann dann dieses Buch auch als Leitfaden dienen, um sich mit bestimmten Konzepten zunächst einführend und dann gut vertraut zu machen und dabei immer wieder zu diesem Buch, und natürlich zu Frank Witzel, zurückzukehren. Dadurch ist es eben doch ein gutes Werk auch für Einsteigerinnen.
Lücke analysiert also Text-, Schreib- und (insbesondere bezogen auf das zweite Kapitel, welches das Hörspiel, bzw. dann auch den Fernsehfilm ›Die apokalyptische Glühbirne‹ behandelt) Darstellungsstrategien in fünf Werken Witzels: ›Direkt danach und kurz davor‹ (Roman), ›Die apokalyptische Glühbirne‹ (Hörspiel und Film), ›Kunst als Indiz. Derricks fantastischer Realismus‹ (Essay), ›Revolution und Heimarbeit‹ (›Krimi‹), ›Notwendige Ungenauigkeiten des Erinnerns‹ (Erzählung).
Die fünf Kapitel enthalten insgesamt achtzehn Essais. Lücke zieht für ihre Analysen unter anderem folgende Begriffe heran: Montage, différance, mise en abyme, bricolage, Allegorie, Dialektik im Stillstand, Stimmung oder Gestimmtheit, die Dekonstruktion von Lebenstrieb/Todestrieb, ergon und parergon, Spiegelstadium, Ödipuskomplex, Rhizom –; man sieht, dass diese Vielfalt nicht leicht darzustellen sein dürfte. Doch gerade das gelingt der Autorin eben ganz hervorragend.
Ein anderer Grund, was dieses Buch so einzigartig macht, so ganz anders als andere Bücher, die eine literaturwissenschaftliche Interpretation anbieten, sind die Verweise auf Themen, die nicht im Buch behandelt werden. Wo andere Werke in sich geschlossen erscheinen, ohne natürlich wirklich geschlossen zu sein, schreibt die Autorin auf ganz faszinierende Weise ihre eigene Theorie mit: der nie vollständig abgegrenzte Text (Dekonstruktion), die nie zu Ende zu führende Interpretation (Psychoanalyse), die immer wieder neu herzustellenden Mannigfaltigkeiten (Nomadologie). Und ich erinnere mich an das Buch ›Das Schiboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift‹ (Achim Geisenhanslüke), ein hervorragendes Buch, sehr klug, sehr klar geschrieben, und doch fehlt diesem Buch die Offenheit, dieses intensive Gefühl, hier und sofort weitermachen zu können, hier und jetzt noch vieles entdecken zu können. Geisenhanslüke klärt, und doch ist die institutionelle Abschottung spürbar. Lücke schreibt trotz vieler gemeinsamer Themen und einem ebenso hohen Anspruch ganz anders – anregender, offener, produktiver.
Man soll am Ende eine Rezension, so ist das ja irgendwie üblich, auch noch irgendwie eine Kaufempfehlung schreiben. Doch genau das werde ich nicht tun. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, Rezensionen zu schreiben, weil ich diese zu begrenzt, zu eng, teilweise völlig borniert oder klaustrophobisch empfinde, manchmal sogar beides zusammen. Es sollte klar geworden sein, was mich an diesem Buch begeistert. Und zunächst, auch das dürfte klar sein, sollte man ein paar Werke von Frank Witzel kennen. Die lohnen sich nämlich wirklich, so auch zum Beispiel das Werk, welches ich zuletzt gelesen habe, ›Humor und Gnade‹ (erschienen bei Matthes & Seitz), welches von Bärbel Lücke zwar nicht thematisiert wird, aber mit ihrem Buch in einer ständigen Zwiesprache zu stehen scheint.
Also keine Kaufempfehlung? Nun, Bücher sind keine Memoranden, Rezensionen auch nicht, und die Welt ist groß und hoffentlich morgen noch genauso offen für schöne Bücher, schöne Leseerfahrungen, schöne Schreiberfahrungen, schöne Entdeckungen wie heute. Wo sich aber Lust und Erkenntnis treffen, da ist man immer richtig. Und in diesem Sinne empfehle ich das Buch natürlich.

30.04.2024

Roman Jakobson und die ästhetische Funktion

Kennen Sie Roman Jakobson?
Neuerdings wissen die Leser der Welt ja, welch ein Glück!, dass sie in ihrem unermüdlichen Kampf gegen den Genderismus den Beistand einer der wichtigsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts erhalten haben; denn, so weiß ein Artikel der Welt zu berichten, hassen die Genderistinnen Roman Jakobson. Kannten Sie Roman Jakobson vorher? – Nicht? – Und wissen Sie jetzt, warum Jakobson eine so zentrale Figur im 20. Jahrhundert geworden ist? Nun, ich kann Ihnen verraten, es liegt nicht daran, dass Roman Jakobson sich gegen den Genderismus gewandt hat. Und dass Genderistinnen ihn hassen würden, ist nicht die einzige schräge, man möchte sagen verlogene Behauptung in diesem Artikel. Denn sichtlich ist das Argument, dass alle Bürger zur Wahl gehen dürften, genau dann falsch, wenn nicht alle Bürger zur Wahl gehen dürfen, weil nämlich etwa Frauen, die ja, laut generischem Maskulinum, auch Bürger sind, erst seit 1918 wählen dürfen. Hat man vorher gesagt: Alle Bürger sind zur Wahl aufgefordert; dann hat man die Frauen selbstverständlich nicht mit gemeint.
Und ebenso dürfte dem Autor dieses Artikels, einem gewissen Herrn Krischke, entgangen sein, dass Feministinnen wie Julia Kristeva, Judith Butler, Barbara Johnson oder Elaine Scarry natürlich ihre Arbeiten auch auf Jakobson stützen, wo nicht ganz direkt, so doch über gut bekannte Umwege, etwa Jacques Lacan oder die Semiotik im Allgemeinen.
Schließlich ist die Behauptung, dass die Opposition von markiert/unmarkiert ein sprachökonomisches Prinzip sei, keine Begründung für das generische Maskulinum, sondern nur eine Darlegung. Wer also sein Heil darin sucht, anhand solcher Argumente die Gender-Sprache aushebeln zu wollen, hat grundsätzlich nicht verstanden, welches die wissenschaftstheoretischen Fundamente des linguistischen Konstruktivismus (Prager Schule) oder des linguistischen Strukturalismus (Genfer Schule) sind. »Eine Kommunikation teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein.« (Luhmann 1992, 7)
Oder anders gesagt: dass ein strukturelles Phänomen in Sprachen festgestellt werden kann, sagt noch nichts über Sinn oder Unsinn sprachpolitischer Strategien. Denn wo die Antigenderisten meinen, sich über Linguistik zu unterhalten, sprechen sie doch von ausschließender Sprachpraxis, d. h. von Politik, und damit nicht im Refugium von Jakobson.

Die ästhetische Funktion

Überblick

Nun gäbe es auch noch eine ganze Menge anderes zu Roman Jakobson zu sagen, Kluges, Bedenkenswertes. Das gerade aber wird nun nicht besprochen. Im Folgenden möchte ich deshalb den Blick auf einen wesentlich wichtigeren Begriff lenken, den der ästhetischen Funktion. Jakobson hat mit diesem der modernen Ästhetik ein nicht gerade einfaches Erbe mitgegeben; dies werde ich an dem deutsch-niederländischen Kabarettisten Piet Klocke und an Theodor Storms früher Novelle ›Auf der Universität‹ diskutieren.
Zuvor müssen wir uns allerdings etwas ausführlicher mit Jakobson beschäftigen. Denn die ästhetische Funktion beruht nicht nur auf zwei zentralen Begriffen, die Jakobson, wo nicht entdeckt, so doch ausführlich und in großer Breite angewendet hat: Paradigma und Syntagma. Um dies aber für die ästhetische Funktion genauer darstellen zu können, müssen wir uns zunächst über die verschiedenen ›strukturellen‹ Ebenen von Texten informieren; und zudem müssen wir die ›inneren Mechanismen‹ der ästhetischen Funktion genauer betrachten, einem alten Bekannten für alle Leserinnen meines Blogs, die rhetorischen Figuren.
Ich gehe im Folgenden also zunächst grundlegend auf die ästhetische Funktion ein, wie Jakobson sie dargestellt hat, dann auf die verschiedenen Textebenen, um von dort aus zu erläutern, wie die rhetorischen Figuren die ästhetische Funktion genauer bestimmen. Dies wird zunächst an einem bekannten Gedicht von Goethe vorgeführt. Von hier aus problematisiere ich die ästhetische Funktion aber in zwei Richtungen, einmal in die des Humors – deshalb hier ein Stück Sprachkunst aus dem Kabarett –, und einmal in die einer komplexen Verflechtung rhetorischer Mittel aus einer Novelle des sogenannten ›Bürgerlichen Realismus‹.
Dort werden wir beispielhaft sehen, dass sich humoristische Texte zwar ebenfalls mit der ästhetischen Funktion erklären lassen, aber einen entscheidenden Zwischenschritt benötigen; dort, wo ›ernsthafte‹ Texte auf eine ästhetische Konvergenz setzen, ist dies bei ›humoristischen‹ Texten genau entgegengesetzt, nämlich eine ästhetische Divergenz. Zu klären ist also, wie rhetorische Figuren im Sinne einer ästhetischen Funktion so eingesetzt werden können, dass sie zu einem divergenten Text führen.
Die Novelle von Storm wiederum verflicht dicht gedrängt realistische Szenen mit symbolischen, zum Teil spukhaften Passagen, ohne den Realismus zu verlassen. Dies führt zu einer Vieldeutigkeit, die man mit einer schlichten Anwendung der ästhetischen Funktion nicht mehr erklären kann. Auch hier ist eine Erweiterung durch Zwischenschritte notwendig, um zu sehen, dass Jakobsons Begriff trotzdem weiterhin erklären kann, was diese Novelle so kunstfertig macht.

Das Syntagma

Die ästhetische Funktion lässt sich zunächst als die Syntagmatisierung eines Paradigmas definieren.
Syntagma und Paradigma sind zwei grundlegende Begriffe des sogenannten Prager Konstruktivismus, zu dem Roman Jakobson gehört. Das Syntagma bezeichnet eine Ordnung verschiedener Elemente hintereinander, so etwa die Wörter in einem Satz oder die Szenen in einem Theaterstück. Ihre grundlegende Funktion ist die Kombination; die Kombination von Wörtern zu einer größeren Einheit: dem Satz, die Kombination von Szenen zu einer größeren Einheit: dem Theaterstück. Dasselbe gilt für Buchstaben und Wörter, Handgriffe und zum Beispiel den Zutaten und dem Kochen, den Tönen und der Melodie, Verkehrszeichen und Verkehrlenkung, usw.
In jedem Zeichensystem gibt es mindestens eine syntagmatische Beziehung; in komplexen Zeichensystemen, wie etwa der menschlichen Sprache, gibt es unendlich viele.

Das Paradigma

In jedem Syntagma stehen die einzelnen Elemente an bestimmten Positionen. Diese Positionen werden durch eine Grammatik geregelt. So ist für die Positionen der einzelnen Wörter in einem deutschen Satz die Deutsche Satzgrammatik zuständig. Dabei ist aber klar, dass an einer bestimmten Position eines Satzes sehr verschiedene Wörter stehen können, nur nicht mehrere gleichzeitig. Alle Wörter, die an eine solche Position gesetzt werden können, bilden ein Paradigma. Das Paradigma bezeichnet also eine Menge von Elementen, die für eine bestimmte Position in einem Syntagma verwendet werden können, von denen aber eines ausgewählt werden muss. Das Grundprinzip des Paradigmas ist also die Selektion.
Solche Paradigmen tauchen nicht nur abstrakt auf der Wortebene auf, sondern auch recht alltäglich, zum Beispiel als Kategorien, etwa Nutztiere, Molkereiprodukte, Abenteuerromane, Farben, Biersorten, Gartenzwergsammlungen. Es lässt sich natürlich fragen, wo das Syntagma etwa in der Gartenzwergsammlung zu finden sei: man kann eben zwei Gartenzwerge nicht an denselben Platz stellen; und auch wenn die Aufstellung von Gartenzwergen ein räumliches Syntagma ist und sehr privaten Regeln gehorcht, so handelt es sich trotzdem um eine immer irgendwie geordnete Aufstellung. Nicht jede Grammatik ist ausformuliert und nicht jedes Syntagma ist linear (man vergleiche zum Beispiel die fiktiven Landkarten zu Beginn mancher Fantasy-Romane).

Die Syntagmatisierung

Wir müssen nun allerdings klären, wie ein Paradigma syntagmatisiert werden kann. Denn zunächst schließen diese beiden Begriffe sich scheinbar aus, gerade weil sie sich ergänzen. Eine einfache Überlegung kann uns allerdings sofort auf die richtige Spur bringen: man kann die Elemente aus einem Paradigma natürlich mehrfach hintereinander verwenden, denn auch wenn in einem Satz bestimmte Wörter nur an bestimmten Positionen stehen können, kann man doch mehrere Sätze hintereinander verwenden, oder innerhalb eines Satzes mehrere Positionen finden, auf dem ein Element aus dem Paradigma stehen darf; so etwa in der Wendung ›Lied der Lieder‹: die Genitiv-Konstruktion erlaubt zwei Substantive hintereinander und deshalb nicht nur ›Hund des Nachbarn‹ und ›Begierde der Nacht‹, sondern auch ›König der Könige‹ oder ›Spiel der Spiele‹. Weiter unten werden wir sehen, dass auch die grammatischen Funktionen in diese ›ästhetische Funktion‹ hineingenommen werden können.
Betrachtet man ein Paradigma etwas genauer, dann bildet dies eine Gruppierung; in dieser Gruppierung sind alle Elemente auf bestimmte Weise gleich und verhalten sich deshalb zueinander gleichwertig (= äquivalent). Zugleich aber unterscheiden sich die Elemente auch untereinander und schließen einander aus (= disjunkt) (vgl. dazu Greimas 1971, 14 f.). Rot und grün sind Farben, darin also äquivalent, aber rot ist eine andere Farbe als grün, also dadurch disjunkt. Dadurch, dass man dies auf die Ebene der Kombination überträgt, werden im Syntagma zugleich die Äquivalenzen als auch die Disjunktionen betont (vgl. Hawkes 1977, 61).

Spezifischere Paradigmen

In der Anwendung von der ästhetischen Funktion können wir ganz allgemein sagen, dass sich ein oder mehrere beliebige Paradigmen über ein Syntagma verteilt finden lassen. Für das sprachliche Kunstwerk muss man dies allerdings etwas genauer fassen. Wir würden nicht jeden Text als ästhetisch bezeichnen, auch wenn dieser ausschließlich grammatisch korrekte Sätze beinhaltet, und an jeder Stelle für ein Substantiv aus dem Paradigma ›deutsche Substantive‹ eines ausgewählt worden ist. Denn solche Texte umfassen auch Kochanleitungen, Beipackzettel oder (scheußliche) politische Reden.
Als erstes kann man beobachten, dass zum Beispiel Fantasyromane Substantive eines bestimmten Bereichs relativ häufig verwenden, zum Beispiel ›Zauberstab‹, ›Drache‹, ›Königsburg‹ und ähnliches. Sie verwenden also nicht mehr irgendwelche Substantive, sondern Substantive aus dem Paradigma ›Fantasywelt‹. Zur ästhetischen Funktion gehören also ausgesuchte Paradigmen. Wie solche Paradigmen ausgesucht werden, hängt zum Teil von der gesellschaftlichen Praxis ab – man spricht hier von Modeströmungen oder auch Epochenpoetiken; wie etwa in der Weimarer Klassik häufig, wenn auch nicht ausschließlich, auf antike Sagengestalten Bezug genommen wurde, so dass dies das Paradigma mit den Elementen Prometheus, Theseus, Ikarus, Ganymed, usw. bildet.

Textebenen

Für Texte muss man dann noch die verschiedenen Ebenen beachten, die gerade ästhetische Texte sehr bewusst verwenden. In der Lyrik wird zum Beispiel besonders die klangliche Qualität von Wörtern genutzt, was uns in der Alltagssprache eher hindern würde.
Plett zählt in seiner ›Systematischen Rhetorik‹ sieben Ebenen eines Textes auf: 1. phonologische, wobei er diese in eine phonemische und eine metrische aufteilt, 2. morphologische, 3. syntaktische, 4. semantische, 5. graphemische, 6. textologische und 7. intertextuelle Ebene. Dies sind allerdings nur die Ebenen der klassischen Rhetorik, während zum Beispiel für die erzählende Literatur noch die (sehr komplexe) narrative Ebene mitbeachtet werden muss.
Auf allen diesen Ebenen können die Mechanismen der ästhetischen Funktion Verwendung finden; deutlich dürfte aber sein, dass nicht notwendig jede Ebene in einem Sprachkunstwerk ästhetisiert wird.
Sprechen wir also von der Ästhetik eines Werkes, müssen wir zunächst darauf achten, auf welchen Ebenen die Verfasserin ein Paradigma syntagmatisiert, und aus welchen Paradigmen sie auswählt. Gedichte sind gewöhnlicherweise auf mehreren Ebenen ästhetisiert; zu der ausgesuchten klanglichen Qualität der Wörter (phonologische Ebene, etwa Reime) gesellt sich die metrische Qualität, die syntaktische und die semantische, bei konkreter Poesie zum Beispiel auch die graphemische, usw.

Goethe: Ein Gleiches

Die unbedarfte Leserin erwartet zumindest vom klassischen Gedicht, dass dieses ein ebenes Versmaß besitzt, also zum Beispiel pro Vers vier Iamben. Goethes Gedicht ›Ein Gleiches‹ weicht darin von der üblichen Vorstellung ab (wie häufiger bei Goethe).
Es lautet:
Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. (Bd. 1, 142)
Die Versfüße sind ungleichmäßig: der erste Vers besteht recht eindeutig aus einem dreihebigen Trochäus; der Trochäus besteht aus einer betonten, gefolgt von einer unbetonten Silbe. Doch schon der zweite Vers bricht damit: hier scheint ein Jambus vorzuliegen, also eine unbetonte, gefolgt von einer betonten Silbe. Mit dem fünften Vers werden die Versfüße dreihebig und vermitteln etwas Tänzerisches, aber auch Stolperndes.
Ich möchte hier den Blick aber nur auf zwei Aspekte richten. Denn egal, wie man die gebrochene Metrik des Gedichtes interpretieren mag, so liegt doch ein durchgängiges und sehr klassisches Reimschema vor. Um der Metrik und dem Reimschema zu entsprechen, fügt Goethe mehrfach ein ›e‹ in die Wörter ein, ›spürest‹ statt ›spürst‹, ›Walde‹ statt ›Wald‹, ›balde‹ statt ›bald‹ und ›ruhest‹ statt ›ruhst‹.
Wir haben viermal eine Hinzufügung (auch Addition oder adiectio) auf der phonologischen (lautlichen) Ebene, zweimal in der Mitte des Wortes und zweimal am Ende; alle vier bilden neue, unbetonte Silben und greifen damit direkt ins Versmaß ein. Die entsprechenden rhetorischen Figuren nennen sich Epenthese (Hinzufügung in der Mittelstellung) und Paragoge (Hinzufügung in der Endstellung).
Wichtig ist hier vor allem aber, dass diese klanglich und metrisch veränderten Wörter zu den morphologisch korrekten Wörtern paradigmatisch angeordnet sind; sie werden hier ausgewählt, um das metrische Syntagma zu verändern.
Dies ist aber bei den rhetorischen Figuren wichtig, und wir werden diesem Phänomen weiterhin begegnen: die rhetorische Figur verändern auf der einen Ebene des Textes etwas, aber zugleich auch auf einer anderen; auf der einen ist sie paradigmatisch, auf der anderen syntagmatisch. Und kürzer gesagt: rhetorische Figuren dienen der Syntagmatisierung von Paradigmen, also jener ästhetischen Funktion, von der Jakobson gesprochen hat, aber sie bezeichnen oftmals nicht die Ebene, auf der syntagmatisiert wird. Denn die Paragoge wird nur als lautliche Hinzufügung genannt, obwohl sie zugleich eine Änderung auf der metrischen Ebene bewirkt.
Das gleiche können wir zum Beispiel auch auf ganz anderer Ebene beim oben angesprochenen Fantasyroman sehen; auf der lexikalischen Ebene existiert ein Paradigma mit typischen ›Fantasywörtern‹, welches auf der Ebene des Erzählens in eine bedeutungsvolle Abfolge gebracht wird. Das zunächst lexikalische Paradigma überträgt sich bei der Syntagmatisierung auf die Ebene der Narration.
Dies ist aber noch sehr banal. Es gilt also, zu ausgewählten Beispielen überzugehen.

Piet Klocke: Die Hummel

Einige typische rhetorische Figuren

Dieses kurze Kabarettstück ist für Klockes Sprachwitz recht typisch. Ich möchte hier nur auf einige rhetorische Figuren hinweisen, die er gerne verwendet:
  • contaminatio: damit sind Wortneubildungen gemeint, die durch die Mischung zweier bekannter Wörter entstehen; ein typisches Beispiel ist das Wort ›famillionär‹ (Heine) aus ›familiär‹ und ›Millionär‹, und hier – im Video – benutzt Klocke die Wendung ›der ... Philosoph Jean Klockteau‹, offensichtlich eine Mischung aus seinem eigenen Namen und dem des französischen Dichters Cocteau (das ist nun nicht der beste Sprachwitz)
  • »falsche« Metaphern, bzw. fast unsinnige Wortersetzungen, wie: ›warum ZIERT man sich nicht einfach in Schale‹
  • syllepsis: der Gebrauch zweier verschiedener Bedeutungen desselben Wortes in engem Zusammenhang: ›Wenn einem die Worte ausgehen, ja [dann geht und] feiert [man] mit‹ – darauf werden wir gleich zurückkommen
  • Anakoluth: dies sind grammatisch falsche Sätze; hier existieren drei verschiedene Formen, einmal als Satzabbruch (Ellipse): ein Satz wird nicht zu Ende geführt, sondern ein neuer begonnen, – als retractio wird der Satz abgebrochen und korrigierend teilweise neu formuliert (›Er war verliebt, nein, eigentlich schon besessen …‹), – und schließlich das ›eigentliche‹ Anakoluth, die Vermischung zweier nicht zusammenpassender Sätze (›Zwar ist es ziemlich teuer, und es ist klein.‹) → Klocke verwendet aber vorwiegend den Satzabbruch, also die Ellipse
  • Personifikation und ›Institutionalisierung‹: mit der Personifikation gemeint ist, dass etwas Nicht-Menschliches wie eine Person behandelt wird, in diesem Fall zum Beispiel die Hummel, die hier deutlich besserwisserische, und zugleich inkompetente Eigenschaften aufweist; parallel dazu wird ein natürlicher Bereich wie eine Institution behandelt, in diesem Fall die Evolution: dabei ist es wichtig, dass sowohl die Hummel als auch die Evolution keine positiven menschlichen Eigenschaften aufweisen, auch keine bösartig negativen, sondern gerade nur die lästig-negativen (wie etwa die Bürokratisierung, sprich: Korinthenkackerei), um dies für das Kabarettstück auszunutzen.

Die syllepsis: die mehrfache Monosemierung

Betrachten wir beispielhaft die syllepsis. Ein Meister der syllepsis war Heinz Erhardt; in einem Lesestück – ›Der arme Poet‹ – finden sich ungefähr folgende Sätze: »›Ich gehe aus‹, sagte seine Frau Mama zu ihm, ›besonders davon, dass du brav bist.‹ … Ihm war kalt, denn nicht nur die Frau Mama war ausgegangen, sondern auch der Ofen.«
Das Wort ›ausgehen‹ ist mehrdeutig. In einem Wörterbuch werden, meist durch Zahlen markiert, die verschiedenen Bedeutungen aufgeführt. Das ist das Paradigma zu diesem Wort: es ist polysem. Wird ein solch mehrdeutiges Wort gewöhnlich gebraucht, kann man aus dem Kontext heraus erschließen, welche Bedeutung ausgewählt wurde. Diesen Vorgang nennt man Monosemierung, d. h. die im Lexikon vorkommende Polysemie wird getilgt; dies ist für die verständliche Alltagsrede notwendig. Die syllepsis bricht aber gerade mit dieser Alltagsverständlichkeit, fügt zwei konkurrierende Kontexte der Monosemierung hintereinander und erzeugt dadurch einen (komisch-)verwirrenden Effekt.
Das Prinzip ist also, wie dies Jakobson für die ästhetische Funktion dargestellt hat, eine Syntagmatisierung eines Paradigmas.

Divergente Vermischung

Klockes Kabarettstück geht aber weiter. Während die syllepsis zwei verschiedene Bedeutungen eines Wortes in einem Satz ›vermischt‹, findet man dieselbe Strategie bei der contaminatio auf der Ebene des Wortes, beim Anakoluth, zumindest in der dritten Form, auf der Ebene der Grammatik, und bei der Personifikation und ›Institutionalisierung‹ sind dies narrative Figuren, die sich hier, wenn auch undeutlich, überlagern. Die verschiedenen rhetorischen Mittel bilden also selbst wieder ein Paradigma, welches man als ›Figuren der Vermischung‹ bezeichnen könnte.
Da diese Figuren aber nicht dazu dienen, einen zusammenhängenden Sinn zu ergeben (in diesem Falle sind alle Texte in irgendeiner Weise Mischungen), sondern gerade den Sinnzusammenhang möglichst komisch und absurd zu zerbrechen, kann man von ›Figuren der divergenten Vermischung‹ sprechen. Vermischt wird gerade das, was eigentlich nicht zusammenpasst, so wie man in der Schilderung der Hummel den ewig nörgelnden Autofahrer (oder Radfahrer) heraushören kann.
Es lässt sich relativ leicht zeigen, dass dieses Prinzip nicht nur auf Klockes Kabarett zutrifft, sondern sich auch in anderen Formen des Humors, mit anderen rhetorischen Figuren finden lässt. So kann man zum Beispiel in den Filmsatiren des MAD-Magazins das Ineinander von übertriebener Darstellung der Filmfigur und sarkastischer Filmkritik, gelegentlich sogar in derselben Sprechblase, finden. Auch dies ist eine ›Figur der divergenten Vermischung‹.
Jakobsons Schema stimmt also auch für die humoristische Darstellung; sie zielt aber nicht, wie wir dies bei Goethe sehen konnten, auf eine Vereinheitlichung und ein Zusammenstreben durch poetische Mittel, also nicht auf eine Konvergenz, sondern umgekehrt auf ein Zerfallen und auch ein Gegeneinander-Ausspielen, also eine Divergenz.
Zweitens müssen wir Jakobsons Paradigma deshalb um eine zweite Ebene ergänzen. Denn auf der einen Seite gibt es zum Beispiel die polysemischen Wörter, die sich durch Syntagmatisierung auf die Satzebene ausfalten lassen; aber es gibt eben auch die verschiedenen rhetorischen Strategien, die für sich selbst ein Paradigma bilden, im konkreten Text aber ebenfalls syntagmatisiert worden sind. Diese sind recht individuell, wie etwa bei Piet Klocke bestimmte rhetorische Figuren dann auch wie ein Markenzeichen für seine Art des Humors dienen. Man spricht hier von einer Individual-Poietik.

Ellipse und Vortrag

Zum Schluss bleibt zu unserer kurzen Analyse zu sagen, dass diese natürlich nicht vollständig ist. Ein sehr wichtiger Aspekt ist bisher völlig ausgeblendet worden: der Bühnenvortrag. Nehmen wir zum Beispiel die Ellipse, also den Satzabbruch. Wie man leicht im Video erkennen kann, nutzt Klocke diese Ellipsen für sehr unterschiedliche Gesten: er ringt nach Luft, er fuchtelt mit den Händen herum, er wischt sich (scheinbar) den Schweiß ab, usw. – es gibt also ein Paradigma ›exaltierte Gesten‹, aus dem Klocke immer wieder auswählt, aber so, dass daraus eine Charakterisierung seiner Bühnenfigur und zugleich eine weitere divergente Ebene entsteht (die Linguistik spricht hier von ikonischen Gesten, s. Lücking 2013, dort auch zu den ›räumlichen‹ Syntagmen, die den Bühnengesten ähnlich wie der Anordnung der Gartenzwerge eigen ist S. 160-182).
Die Ellipse selbst ist doppeldeutig; sie kann durch wilde Gesten aufgefüllt werden, aber umgekehrt auch durch zum Beispiel lange, bedeutungsvolle Blicke – wie dies zum Beispiel bei Jon Stewart zu finden ist –, oder, und auch das ist typisch für Klocke, der Satzabbruch wird schlichtweg missachtet: ihm folgt keine Pause, sondern gleich der nächste Satz, was ein zum Teil recht abenteuerliches Holterdipolter ergibt. Denn klassischerweise wird die Ellipse dazu verwendet, dass der Zuschauer darüber nachdenken kann, was der Vortragende gerade gesagt hat, vor allem aber, was er verschweigen will. Im Kabarett ist es aber stellenweise sinnvoll, diese Pausen zu eliminieren, um, ganz im Sinne der Divergenz, zwei Sinneinheiten ineinander übergehen zu lassen.

Theodor Storm: ›Auf der Universität‹

Die nicht ganz glatte Erzählung

Im Gegensatz zu Klocke sind die Novellen Storms weitestgehend konvergent. Die verwendeten ästhetischen Mittel erschaffen eine Einheit, eine ›vollständige‹ Geschichte. Allerdings kann man dies nicht dogmatisch behaupten; so findet man immer wieder auch divergente Passagen, ganz allgemein überall dort, wo eine Geschichte Spannung erzeugt; darüber hinaus lässt sich aber diese frühe Novelle nur schwerlich auflösen. Sie wird, und darin ist sie durchaus ein Meisterstück, nicht nach dem ersten Lesen, auch nicht nach tiefergehender Interpretation ›glatt‹, sie lüftet ihr vorgetragenes Geheimnis nicht vollständig.
Wovon handelt die Novelle? Im Mittelpunkt steht eine junge Schneiderstochter namens Lore und der Icherzähler, Philipp. Anfänglich ist der Icherzähler noch sehr in die als besonders schön geschilderte Lore verliebt; mit der Zeit aber sorgt er sich mehr um sie, und durch Ereignisse, die ich hier nicht vollständig schildern kann, da sie uns von unserem Thema abbringen würden, begeht Lore am Ende Selbstmord durch Ertrinken. Ohne dies direkt anzuprangern, schildert Storm die Zwänge, in die eine junge Frau eingebunden ist, die weder reich noch ›von Stand‹ ist; und dass ihre Lust zu tanzen auf schäbige und schließlich mörderische Weise ausgenutzt wird. – Doch dies so zu sagen, hieße schon, die sehr dicht gesponnene Erzählung zu eindeutig zu machen. Storm löst nämlich gerade nicht die Schuldfrage leichtfertig auf; weder sind es die patriarchalen, noch andere tradierte Strukturen, noch die einzelnen Menschen, den Icherzähler eingeschlossen, denen diese Schuld alleinig aufgebürdet wird.

Vieldeutige, d.h. symbolische Szenen

So wichtig die gesellschaftskritischen Darstellungen auch sind, werden sie doch von ästhetischen Strategien in Szene gesetzt; und ohne diese Strategien herauszuarbeiten, würde die Erzählung einfach nur das plumpe Klischee einer patriarchalen Kritik erfüllen. Ich werde hier nur auf einen kleinen Teil der Erzählung eingehen können, also auch nur am Rande auf die Gesellschaftskritik darin hinweisen.
Stattdessen geht es wieder um Grundlagen.
An mehreren Stellen der Novelle finden sich nämlich verdichtete Szenen, die sowohl auf der rein realistischen als auch auf der symbolischen Ebene gelesen werden können. An einer Stelle allerdings bricht Storm mit dieser unterschwellig symbolischen Erzählweise. Aus der Sicht des Icherzählers und in einer fast ›halluzinativen‹ Sequenz wird der Tod der Protagonistin vorweggenommen. Um die Bedeutung dieser Stelle genauer erläutern zu können, brauchen wir wiederum linguistisches Werkzeug, auch, um daran noch einmal Jakobsons ästhetische Funktion zu thematisieren.
Zunächst aber ist es sinnvoll, diese Stelle erst einmal zu kennen. Zuvor hat der Protagonist Lore kennengelernt, mit ihr in der Tanzschule getanzt, und auf dem Abschlussball hat sie mitten am Abend diesen wortlos verlassen und seitdem mit dem Protagonisten, Philipp, nicht mehr geredet. Im folgenden dritten Kapitel findet ein Eisvergnügen auf dem Mühlenteich statt; Philipp sieht dort Lore, und wie es üblich ist, werden die jungen Frauen auf Schlitten über den Mühlenteich geschoben. Philipp, der immer noch verliebt in Lore ist, möchte in ihre Nähe gelangen, überredet den jungen Burschen, der normalerweise den Schlitten schiebt, ihm diesen zu überlassen, und überrumpelt so Lore. Die Szene, die ich nun zitiere, findet sich kurz bevor sich Philipp zu erkennen gibt. Wichtig für die ganze Passage ist dabei auch, dass hier der freie Wille von Lore komplett missachtet wird (und dies wiederholt die Novelle am Ende auf deutlich grausamere Weise). Hier also die Stelle:
»Aber die Mitte des Sees lockte mich; unmerklich wandte ich den Schlitten, und immer größer wurde der Raum, der uns vom Ufer trennte. Schon konnte ich beim Zurückblicken nur noch kaum das Blinken des Schilfes unterscheiden; geheimnisvoll dehnte sich die dunkle Spiegelfläche bis zum anderen weit entfernten Ufer, kaum erkennbar, ob eine feste tragende Eisdecke oder nur ein regungsloses trügliches Gewässer. Endlich war die Mitte erreicht. Jede Spur eines menschlichen Fußes hatte aufgehört; wie verloren schwebte der Schlitten über der schwarzen Tiefe. Keine Pflanze streckte ihr Blatt hinauf an die dünne kristallene Decke; denn der See soll hier ins bodenlose gehen. Nur mitunter war es mir, als huschte es dunkel unter uns dahin. – – War das vielleicht der Sargfisch, der in den untersten Gründen dieses Wassers hausen soll, der nur heraufsteigt, wenn der See sein Opfer haben will? – »Wenn es wäre«, dachte ich, »wenn es bräche!« Und meine Augen suchten die dunklen Hüllen zu durchdringen, in denen ich die liebliche Gestalt verborgen wusste. – –«
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Semem und Verdichtung

Soweit die Stelle; für die genauere Analyse müssen wir auf einige Fachbegriffe zurückgreifen. Ich hatte oben von Wörtern gesprochen, die im Wörterbuch mit mehreren Bedeutungen aufgeführt werden; sie sind polysem. Wörter, allerdings ganz allgemein, wie sie im Wörterbuch stehen, nennt man Lexeme. Lexeme können polysem sein, müssen es allerdings nicht. Davon unterscheiden sich die Sememe. Im Idealfall geht man davon aus, dass ein Semem, also ein Wort im Gebrauch, vollständig eindeutig sei. Ist es im Wörterbuch mehrdeutig, muss es im Gebrauch, so hatte ich das bereits oben genannt, monosemiert, anders gesagt: eindeutig gemacht werden.
Bei dem Wort ›ausgehen‹ ist dies relativ einfach. Wenn ein Mensch ›ausgeht‹, dann verlässt er/sie die Wohnung wegen eines besonderen Anlasses; wenn dagegen ein Ofen ›ausgeht‹, bedeutet das, dass das Feuer in ihm erlischt. Die beiden Kontexte, durch die das Wort eindeutig wird, sind durch eine Differenz gekennzeichnet, durch eine semantische Opposition: menschlich/unbelebt (häufig kommt hier noch ein drittes Merkmal dazu: tierisch; dieses lässt sich aber in diesem Falle weder der einen noch der anderen Bedeutung auf einfache Weise zuordnen).
Insgesamt führt der Duden für das Verb ›ausgehen‹ 14 Bedeutungen und einige Unterbedeutungen an. Welche von diesen gemeint ist, wird allerdings nicht alleine vom Kontext aus gelöst, denn es gäbe durchaus Sätze, in denen keine dieser Bedeutungen passt. Die Darstellung oben ist also ungenau. Vielmehr bietet jede einzelne Bedeutung Teilbedeutungen an, die im Kontext aufgegriffen werden – oder eben nicht. Diese Teilbedeutungen nennt man Seme; jedes Semem besteht aus mehreren Semen, jedes Lexem besteht zunächst aus einem oder mehreren Sememen, und diese wieder aus Semen, sodass ein Lexem unterschiedliche, teilweise auch widersprüchliche Seme aufzählen kann.
Nehmen wir nur die beiden Bedeutungen von ›ausgehen‹, die wir oben verwendet haben, so ist die erste Bedeutung im Duden folgend umschrieben: ›(zu einem bestimmten Zweck, mit einer bestimmten Absicht) die Wohnung verlassen, aus dem Haus gehen‹. Zwecke haben, Absichten haben, das trifft nicht auf Gegenstände zu, sondern nur auf Lebewesen, die einen Willen besitzen, üblicherweise also vor allem auf Menschen. Im Lexem finden sich also Bedeutungen, die nur auf Lebewesen zutreffen, und sofern der Kontext ein Lebewesen präsentiert, wählen wir dann auch nur diese Bedeutungen aus. Andererseits finden wir im Lexem auch Bedeutungen, die normalerweise nicht auf Lebewesen passen, wie zum Beispiel ›(von etwas, was in bestimmter Menge vorhanden ist) sich erschöpfen, zu Ende gehen, schwinden‹. Präsentiert der Kontext eine Menge oder etwas, was auf andere Weise schwinden kann, wird diese Bedeutung ausgewählt.
Die Monosemierung beruht also darauf, dass der Kontext zusammen mit dem eigentlich mehrdeutigen Wort Seme gemeinsam hat, die diese, durch die Wiederholung und durch Seme, die andere Bedeutungen des Lexems ausschließen, eindeutig machen: sie beruht also zugleich auf Semgleichheit zwischen Semem und Kontext, und auf Semdifferenz zwischen dem gewählten Semem und allen anderen Sememen.
Das ist nun eine sehr umständliche, aber eben für eine präzise Erklärung notwendige Beschreibung für einen Vorgang, den wir sonst ganz selbstverständlich und ohne nachzudenken vollziehen. Er hilft uns auch, eine mehrdeutige und deshalb zunächst dunkle Stelle in einem erzählenden Text besser zu verstehen.

Das Unheimliche im Realismus

Die oben zitierte Passage aus der stormschen Novelle weist nun mindestens eine Doppeldeutigkeit auf, die sehr bewusst gesetzt ist; dies ist das Wort ›die dunklen Hüllen‹. Dazu gesellt sich der Wunsch des Icherzählers, dass ›es bräche‹. Unklar ist dann auch, ob der Icherzähler mit ›die liebliche Gestalt‹ Lore oder den Sargfisch meint.
Hier liegt nun, rein rhetorisch gesehen, eine genau umgekehrte Strategie zur Monosemierung vor, die Polysemierung. Nimmt man weitere semantische Oppositionen dazu, verdichtet sich diese kurze Stelle zu einer symbolischen Zusammenfassung eines Großteils der Geschichte; die Entführung in die Einsamkeit (im Gegensatz zur Geselligkeit des Eisvergnügens) durch (männliche) Betrügerei, die Opposition von Liebe und Tod, aber auch ihre gegenseitige Bedingtheit (lieben oder sterben), hell/dunkel, Wasser/Land, verbergen/offenbaren, reden/schweigen, usw.
Eine der wichtigsten Oppositionen dagegen ist nicht so offensichtlich. Der hier zitierte Sargfisch gehört ins Reich der Mythen; seine Evokation wird durch einen ›halluzinatorischen‹ Moment, einer halb rhetorischen Frage des Icherzählers motiviert. Im Gegensatz zur romantischen Literatur zeichnet sich der Bürgerliche Realismus dadurch aus, dass Märchenfiguren und Spukgestalten nicht so einfach auftreten können. Storm selbst hat dies später in seiner berühmten Novelle ›Der Schimmelreiter‹ noch einmal thematisiert; ob jenes geisterhafte Pferd, welches sich dann als ein echter Schimmel entpuppt, eine fleischgewordene Spukgestalt oder nur immer schon ein Pferd gewesen ist, welches nur durch das Geschwätz der Leute zunächst zu einem Trugbild erhoben wurde, bleibt unklar. Der Zusammenprall von Aberglaube und nüchterner Rationalität ist aber nicht nur ein kritisches Moment in Storms Erzählungen, sondern auch ein kompositorisches Prinzip. Dies gilt hier, für den Sargfisch, ebenso.
Nimmt man nämlich die verschiedenen semantischen Oppositionen, die ich oben aufgezählt habe, vor allem aber die Gleichsetzung von Lores dunklem Mantel mit der ebenso dunklen Eishülle, dann verdichten sich hier gegensätzliche Elemente, die in der Novelle selbst vielfach wiederholt werden. Mehrmals wird Lore als undurchdringlich geschildert; und fast durchgängig schweigt sie zu ihren Motiven. Die Erzählung lässt hier nun offen, in welchem Maße sie sich durch gesellschaftliche Zwänge dazu genötigt fühlt. Deutlich wird aber, dass ihre zunehmende Isolation, ihr Schweigen und die immer ›dunklere‹ (= rätselhafte, abweisende) Verhaltensweise sie auf die andere Seite, ins Reich des Sargfischs, ins Wasser treibt.

Das symbolische Knoten und die semantische Ausstrahlung

Storm verdichtet also an dieser Stelle zentrale semantische Merkmale der gesamten Erzählung. Es wirkt wie ein Paradigma, von dem aus die Wiederholung der einzelnen Seme (zum Beispiel schweigen), bzw. auch Sem-Oppositionen (reden/schweigen) durch den ganzen Text nachverfolgen lassen. Dieser ›symbolische Knoten‹ bildet also ebenfalls auf doppelter Art und Weise, wenn auch ganz anders als bei den humoristischen Strategien, ein Paradigma aus. Zunächst bildet jedes Sem ein mögliches Paradigma, insofern es in einem Text häufiger auftaucht. Das ist eine billige Beobachtung, denn nehmen wir einen beliebigen Abenteuerroman, so werden wir darin immer das Sem ›menschlich‹, und dieses immer in Opposition zu ›unbelebt‹ finden; Texte bestehen nun einmal aus Wörtern, und Wörter setzen sich aus Semen zusammen.
Solche Wiederholungen eines gleichen Sems nennen wir Isotopien; ich habe mich schon früher darauf bezogen. Wichtig ist allerdings, dass wir nun nicht jede Isotopie vorrangig beachten müssen (wir könnten es auch vermutlich aus Zeitgründen gar nicht). Nehmen wir zum Beispiel das Auftauchen von verschiedenen Farben in einem Roman; manchmal sind diese einfach so erwähnt, weil die Autorin dem Text eben ›etwas Farbe geben möchte‹. Man könnte dann zwar immer noch die Farben untersuchen und daran Beobachtungen aufstellen, aber nicht mehr behaupten, die Farben hätten eine bewusste Symbolik. Wenn ich dagegen einen Roman vor mir liegen habe, in dem der Protagonist ein Schachspieler ist (unter anderem, nicht hauptberuflich), seine ehemalige Liebhaberin mal in einem weißen, mal in einem schwarzen Kleid auftaucht, zudem die Rassenfrage thematisiert wird, und das ›Schwarzwerden‹ (durch Fäulnis) wie das ›Weißwerden‹ (durch Ausbleichung) auftaucht, dann hat man sehr viel stärkere Gründe, die Farben als motiviert gesetzt zu betrachten und die Isotopien ›weiß‹ und ›schwarz‹ genauer zu beachten (dies ein Beispiel aus Frischs Roman ›Homo Faber‹).
Isotopien gibt es nun haufenweise in einem Text, selbst in einem kurzen. Das macht es schwierig, zu begründen, warum man diese oder jene vorrangig für die Interpretation auswählt. Zunächst kann man aber empfehlen, dies nach dem ersten Augenschein zu tun, denn was auffällt, ist eben auffällig. Dann aber gibt es ebenjene ›starken‹ Momente in einem Text, an denen sich offensichtlich Isotopien auf sehr grundlegende Art und Weise zusammenballen, die scheinbar offensichtlich vom Autor ganz bewusst ›zusammengeschmissen‹ werden.
Nun läge es nahe, diese Isotopien gleichzeitig auch als Paradigmen zu behandeln. Das wäre aber nur eine Verdopplung von Begriffen; vielmehr sind es die Isotopien, die in einem Text Paradigmen erschaffen, indem sie, als Seme, in bestimmten Sememen auftauchen. Oben hatte ich das Schachbrett genannt, und die Rassenfrage, die durch die Komposition des Romans damit parallelisiert wird (oder auch nicht: Frisch ist da sehr komplex). In Storms Novelle taucht nun eine ganz andere Parallelisierung auf, die nur dadurch auffällig wird, wenn man die Verteilung der Seme gründlicher beachtet: die zwischen Tanzen (= Geselligkeit) und Schweigen (= Isolation). Dann liest sich die betrügerische Entführung Lores auf dem winterlichen Mühlenteich als eine eben solche Pervertierung eines geselligen Vergnügens wie später Lores Inbesitznahme durch den sogenannten ›Raugrafen‹. Und was dort auf dem Mühlenteich durch eine noch halb jungenhafte Fantasie nicht ausgeführt wurde, nämlich das ›Ins-Wasser-gehen‹, wird später umso sicherer durch die sehr realen, männlichen Besitzansprüche verwirklicht.
Zumindest für narrative Texte kann man nun sagen, dass der eine Typus von Paradigmen durch das Auftauchen eines gleichen Sems darin gebildet wird. Der andere dagegen wird durch besondere Konstellationen sichtbar; diese können nun recht unterschiedlich sein, etwa durch einen ähnlichen Vorgang, zum Beispiel dem Tanzen: solche Tanzszenen tauchen im zweiten und im vorletzten Kapitel der Novelle auf, wie das erste Kapitel die Bekanntschaft des Icherzählers und seines Jugendgefährten Fritz mit Lore berichtet, das letzte Kapitel, wie der Icherzähler und eben jener Fritz auf einer gemeinsamen Wanderung zu einer Gruppe von Menschen stoßen, die gerade den Leichnam Lores aus dem Wasser geborgen haben. Die ersten und die letzten beiden Kapitel spiegeln sich also. Sie verknüpfen sich über bestimmte Themen miteinander und kontrastieren sich ebenso, wie auch die Tanzszenen und das Thema Tanzen selbst nicht nur eine Ebene der Bedeutungsgleichheit erschafft, also eine Isotopie, sondern auch eine Ebene der Bedeutungsvariationen.
Tanzen ist deshalb in gewisser Weise auch wieder unbestimmt, da es verschiedene Elemente integrieren kann. Ein anderes Beispiel sind all die verdichtenden Textabschnitte, zu denen der oben zitierte ›Sargfisch‹-Abschnitt zählt. Von diesen gibt es allerdings noch mehr, so etwa im zweiten Kapitel, als Lore ein goldenes Kettchen im Tanzsaal findet, dieses anprobiert und es dann nicht mehr lösen kann. Auch hier verdichten sich symbolisch zahlreiche Bezüge: die Nachlässigkeit des anderen Mädchens, ein so wertvolles Schmuckstück einfach liegen zu lassen, Lores Lust, dieses Schmuckstück zu tragen, aber auch ihre Schwierigkeit, es dann wieder abzunehmen, sowie, dass es sich hier um ein ›goldenes Kettchen‹ handelt, also um eine Art Oxymoron (= scharfer Widerspruch: schön, aber gefangen). Daraus lässt sich dann das Paradigma ›symbolisch verdichtete Stellen‹ herleiten, und dieses Paradigma ist gerade nicht thematisch oder semantisch voreingestellt, vermutlich sogar noch nicht einmal gut objektiv beschreibbar; dazu sind diese Stellen zu verschieden (und lassen sich ja auch nicht gut abgrenzen).
Bleibt zu klären, wo hier die rhetorischen Figuren zu finden sind. Wer sich mit diesen bereits gründlich beschäftigt hat, wird dies schon gelesen haben. Ansonsten sei dies hier noch einmal verdeutlicht: der ›Sargfisch‹, der ins Bodenlose gehende See, die dünne kristallene Decke, all dies sind nicht einfach nur Beschreibungen, nicht der realen Gegend und nicht des fantasievollen Innenlebens, sondern zugleich auch Metaphern, die es gerade erst ermöglichen, dass Gegenstände wie die ›dunkle Hülle‹ an anderer Stelle als rätselhaftes Schweigen auftauchen. Sie sind nicht nur sinnliche Phänomene, sondern eine Struktur und über diese Struktur, nämlich: kristallenes Äußeres und zugleich dunkle Hülle, tauchen sie auch vorher und später in ähnlicher Weise wieder auf. Damit werden sie aber zu einem strukturierenden Prinzip nicht nur der Erzählung selbst, sondern der darin enthaltenen gesellschaftlichen Kritik an den damals herrschenden Frauenrollen.
Roman Jakobson hat nicht nur eine ästhetische Funktion innerhalb der Sprache formuliert und ausgearbeitet; er hat gezeigt, im Anschluss an Bühler, dass die Sprache ›polyfunktional‹ ist, also verschiedene Funktionen gleichzeitig ausüben kann. Darauf stützt sich die ›realistische Erzählung‹; sie kann zugleich referentiell sein, das soll heißen, dass sie auf mögliche konkrete Objekte in der Welt zeigt, als auch ästhetisch, also die Erzählung in symbolischen Knoten verdichten und aus symbolischen Knoten heraus wieder entfalten kann. Sie kann zudem implizit an die Leser appellieren, etwa den Blick auf die ungerechte Einschränkung weiblicher Lebensgestaltung richten. (Zu einer ausführlicheren Darstellung aller sprachlichen Funktionen bei Jakobson siehe Holenstein 1979.)

Zusammenfassung

Ein Paradigma ist eine Menge von Elementen, die einander innerhalb einer Abfolge ersetzen können. Da immer nur ein Element für eine bestimmte Position ausgewählt werden kann, ist das grundlegende Prinzip des Paradigmas die Auswahl.
Ein Syntagma ist eine geordnete Abfolge von Elementen; deren Ordnung wird in einer Grammatik beschrieben. Hier ist das grundlegende Prinzip die Kombination und, da die Ordnung nicht einzelne Elemente streng festlegt, sondern immer nur Elementtypen (zum Beispiel immer nur Substantive), ist sie auch kontingent.
Von Syntagmatisierung spricht man, wenn verschiedene Elemente des gleichen Paradigmas in ein Syntagma übertragen werden.
Solche Paradigmen können in Sprachkunstwerken sehr individuell sein und aus sehr individuellen Prinzipien gebildet werden.
Ästhetische Funktion ist zunächst die Übertragung eines Paradigmas in ein Syntagma, also eine Syntagmatisierung; sie wird aber verstärkt und dadurch erst deutlich als ästhetische Funktion sichtbar, wo mehrere solcher Syntagmatisierungen zusammenwirken, also zum Beispiel Versmaß, Reimschema und ausgesuchte semantische Oppositionen.
Als innerer Mechanismus in der Syntagmatisierung kann man rhetorische Figuren benennen. Rhetorische Figuren verteilen aber nicht nur ein Paradigma auf ein Syntagma, sondern verbinden auch verschiedene Ebenen eines Textes miteinander, etwa die oben genannten sieben linguistischen Ebenen, darüber hinaus aber eben auch narrative Phänomene.
Diese Verbindung kann konvergent oder divergent verlaufen. Divergente Syntagmatisierungen sind typisch in humorvollen Texten zu finden, konvergente typisch in ernsten und spannungsvollen Erzählungen.
Humorvolle Texte wählen aus den rhetorischen Mitteln, meist sehr individuell, bestimmte aus und wiederholen diese als Strategie auch immer wieder. Dadurch bilden sie eine Art übergeordnetes Paradigma von ›Figuren der divergenten Vermischung‹.
Konvergente Texte, dies sind realistische oder spannende, aber auch informierende Texte, verwenden bestimmte Seme, die über den Text hin ausgebreitet werden. Sie bilden damit innerhalb des Textes Isotopien. Dabei sind Seme Bedeutungspartikel von Sememen; Sememe sind (nicht ganz korrekt gesagt) Wörter im Gebrauch, und diese Wörter werden in ihren verschiedenen Bedeutungen in einem Lexikon festgehalten und Lexeme genannt. Lexeme können mehrdeutig sein (polysem); als Sememe sollten sie zumindest normalsprachlich hinreichend eindeutig sein. Um eine solche Eindeutigkeit zu erreichen, muss man im Kontext entsprechende Seme aufgreifen und verstärken; den Vorgang nennt man auch Monosemierung. Der Monosemierung kann aber bewusst zuwider gehandelt werden.
Eine Möglichkeit, solche Isotopien enger mit der ästhetischen Funktion zu verknüpfen, besteht darin, sie in symbolischen Szenen zu verdichten. Diese Strategie geht damit einher, dass die Wörter nicht nur reale Gegenstände referenzieren, sondern auch metaphorisch Strukturen andeuten, die an anderer Stelle auf struktureller Ebene wiederholt werden.

Schluss

Aus den zahlreichen Möglichkeiten, diese ganzen Begriffe in einen Zusammenhang zu bringen, habe ich nur sehr wenige ausgewählt. An diesen haben wir jedoch gesehen, dass Jakobsons These von der ästhetischen Funktion in durchaus sehr unterschiedlichen Texten wiederzufinden ist. Dabei ist aber auch deutlich geworden, dass die genaue Ausarbeitung einer Textinterpretation nicht bei der ästhetischen Funktion stehen bleiben darf; diese bleibt ein Zwischenschritt für die Interpretation. Eine solche haben wir hier aber weitestgehend ausgespart, da es zunächst um grundlegende Methoden ging.
Wer hier anfänglich Zweifel anmeldet, ob er/sie jemals etwas damit wird anfangen können, dem/der sei versichert, dass dieser Zweifel zu einem großen Teil daraus erwächst, dass die einzelnen methodischen Schritte so klein, handwerklich eigentlich schon banal sind. Man kann sie aber auf jeden Text anwenden; und hier gibt es eigentlich nur eine wirklich große Herausforderung, nämlich die für diesen Text typischen rhetorischen Figuren zu benennen und zu zeigen, zwischen welchen Textebenen diese vermitteln. Denn von den rhetorischen Figuren gibt es zahlreiche; zum Teil sind diese dann auch noch sehr unterschiedlich benannt, bzw. sehr unterschiedlich definiert. Manche sind sogar so alltäglich geworden, dass sich niemand mehr die Mühe um eine präzise Definition macht, wodurch solche Begriffe wie die Metapher ihre frühere scharfe Bedeutung verlieren. Wer also mit rhetorischen Figuren arbeiten möchte, sollte sich gerade bei solchen Allerweltsbegriffen in der wissenschaftlichen Literatur rückversichern, denn ein schlecht definierter Begriff ist sowohl für die Textproduktion (also zum Beispiel das Schreiben von humoristischen Texten) als auch für die Textanalyse ein schlechtes Werkzeug.
    Literatur:
  • Goethe, Johann Wolfgang von: Ein Gleiches. in ders.: Hamburger Ausgabe Bd. I, S. 142
  • Greimas, Algirdas J.: Strukturale Semantik, Braunschweig 1971
  • Hawkes, Terence: Structuralism and Semiotics, London 1977
  • Holenstein, Elmar: Einführung: Von der Poesie und Polyfunktionalität der Sprache, in: Jakobson, Roman: Poetik, S. 7-60
  • Jakobson, Roman: Poetik, Frankfurt am Main 1979
  • Lücking, Andy: Ikonische Gesten. Grundzüge einer linguistische Theorie, Göttingen 2013
  • Luhmann, Niklas: Reden und Schweigen, in: Luhmann/Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt am Main 1992, S. 7-20
  • Plett, Heinrich F.: Systematische Rhetorik, München 2000
  • Storm, Theodor: An der Universität, in ders.: Sämtliche Werke Bd. 3, S. 7-48, Sonderdruck des Weltbild-Verlags ohne Jahresangabe

31.01.2022

Böhmermann und die Ratten

Und weil sich gerade wieder mal ein gewisses politisches Spektrum über Jan Böhmermann aufregt: dieser habe nämlich, so ihrer Aussage nach, Kinder mit Ratten verglichen.
Sieht man sich aber diesen Vergleich an, stellt man fest, dass es sich um eine Verhältnisgleichheit handelt, also gerade nicht darum, dass Kinder wie Ratten seien, sondern dass sie ein gleiches Verhältnis einnehmen. Gleich aber ist eben nur das Verhältnis, bzw. gleichgesetzt. Logisch gesehen ist dies eine Analogie (= Verhältnisgleichheit), ein für den Humor wichtiges rhetorisches Mittel. Von der Logik her gesehen ist die Analogie allerdings eine schwache und kritisierenswerte Form des Schlusses.
Kinder also durchseuchen derzeit die Gesellschaft mit Covid, wie einstmals die Ratten mit Pest.
Würde man diese etwas widersinnige Logik der Böhmermann-Gegner auf andere Analogien anwenden, dann wäre die Taube Kants von diesem mit dem Bewusstsein gleichgesetzt worden; und wenn sich die Beine zum Hund wie die Räder zum Auto verhalten, dann doch nicht, weil irgendjemand auf die (idiotische) Idee kommt, dass Beine genau dasselbe wie Räder seien. Ansonsten müssten gewisse Herren aus der Welt-Redaktion damit zufrieden sein, wenn man ihnen statt eines Autos einen Hund in die Tiefgarage stellt.
Aber es gehört wohl zu einem gewissen politischen Spektrum auch dazu, logische Haarspaltereien dann zu betreiben, wenn es dienlich ist, und diese komplett zu vergessen, wenn es ebenfalls dienlich ist. Dann mag man immerhin das eine noch logisch nennen, auch wenn es haarspalterisch ist, doch die Idee der Logik, die subjektiven Interessen aus der Argumentation herauszuhalten, wird damit komplett ad absurdum geführt.
Mindestens wird aber diese Art von „Kulturkampf“ nie aufhören, ist doch jedes dichterische Werk, sei es tragisch, sei es komödiantisch, eine subjektive Betrachtung; und dort, wo dies noch in die Politik hineinspielt, bei der subjektive Interessen objektiv vermittelt werden müssen, stößt dies auf besonders umständliche und zum Teil auch schwer zu erfassende Bedingungen. Satire ist darin ein Freiraum, der sich in gewisser Weise von der Komplexität einer umsichtigen politischen Diskussion befreien darf; tragisch dagegen ist, wenn dieser Freiraum auf so unsinnige Weise in die politische Diskussionskultur hineingetragen wird. Dass sich eine Zeitung wie die Welt, vornehmlich auch ein solch politischer Stoffel wie Rainer Meyer (genannt: Don Alphonso), auch die ganzen, sonst nie um eine Herabwürdigung verlegenen AfD-Politiker*innen in gleichem Maße empört geben, zeigt vor allem, wer hier um echte Argumente verlegen ist und mit Gegenpositionen nicht umgehen kann.

30.01.2022

Ideologie

Ideologie ist zu einem abwertenden Begriff geworden, meist auch nur noch zu einer ausschließenden Floskel, die man dem Gegner vorwirft. Ursprünglich bedeutet Ideologie die Lehre von den Ideen. Ideen sind neben den Begriffen und den Urteilen Bestandteile des Bewusstseins. Begriffe werden durch Abstraktion vom Sinnlichen gewonnen. Sie haben immer einen sinnlichen Gehalt. Urteile verknüpfen das Allgemeine mit dem Besonderen, bzw. den Begriff mit der Anschauung. Ideen dagegen können nicht durch Abstraktion gewonnen werden; sie verwirklichen sich in Beispielen.

Vernunft

Laut Kant ist es die Vernunft, die die Ideen erschafft. Die Vernunft ist noch nichts besonderes, das einzelne Menschen mehr oder weniger auszeichnet (so jedenfalls im alten Gebrauch, nicht, wie heute die Vernunft willkürlich einem Menschen zu- oder abgesprochen wird). Sie ist jedem Menschen eigen; man kann aber die Vernunft gut oder schlecht, d. i. die Ideen gut oder schlecht gebrauchen.

Ausdruck

Die Idee lasse sich nur durch Beispiele ausdrücken; sie zeigt sich, wie sich ein Naturgesetz zeigt. Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil ihn die Schwerkraft dazu veranlasst, sondern im Fallen des Apfels drückt sich die Schwerkraft aus. Und so verursacht eine Idee nicht ein bestimmtes Phänomen oder eine Situation, sondern diese drückt sich darin aus: Sie artikuliert und verwirklicht sich darin. Weil sie sich darin verwirklicht, weil sie immer wieder neu in anderen Situationen verwirklicht werden kann, ist die Idee unendlich. Weder weil sie angeboren, noch weil sie göttlich ist, ist eine Idee unendlich; hier widerspricht Kant älteren Ideenlehre.

Die konsequente Denkungsart

Die Vernunft, und somit die Ideen gut zu gebrauchen, weist Kant der dritten Denkungsart zu, die er konsequente Denkungsart nennt. Sie beruht auf den beiden anderen Denkungsarten, der vorurteilsfreien Denkungsart, d. i. die Denkungsart des Verstandes und der Begriffe, der erweiterten Denkungsart, d. i. die Denkungsart der Urteilskraft und der Urteile; und diese
»kann auch nur durch die Verbindung beider ersten, und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung desselben, erreicht werden.« (KU A 158)
Konsequent bedeutet bei Kant nun gründlich und fest, sich nämlich nicht mit dem ersten Augenschein begnügen zu lassen, und auch nicht mit dem ersten Beispiel. Gründlichkeit meint, sich jedes Beispiel (exemplum) aufs genaueste anzuschauen; da sich die Idee nämlich nur im Material ausdrückt, nicht aber selbst als materielles Element darin enthalten ist, bedarf es der Auslegung, d. i. der Erläuterung, warum dieses oder jenes Beispiel eine Idee gut oder schlecht oder auf halbem Wege ausdrückt. Diese Darstellung (Hypotypose) ist, wenn sie sich auf Ideen bezieht, analogisch, also durch eine Verhältnisgleichheit, nicht also dem Inhalte nach.

Das Exemplum

Wenn Kant den Verstand im Verhältnis zu Sinnlichkeit mit einer Taube vergleicht, die im luftleeren Raum nicht fliegen könne, da ihr der Widerstand unter den Flügeln fehle, so will er nicht damit sagen, dass der Verstand wie eine Taube sei, sondern dass die Sinnlichkeit auf der einen Seite im Verstande widersteht, ihm auf der anderen Seite aber erst zum Aufschwung verhelfe.
So plastisch dieses Beispiel auch ist, so irreführend ist es: Ideen verwirklichen sich nicht nur ausnahmsweise, sondern immer; sie sind ein integraler Bestandteil des Denkens – und insofern ist die Ideologie gar nicht politisch gemeint, sondern schlichtweg ein Teil der Selbstaufklärung und des guten Gebrauches seines Denkens. Die Vernunft allerdings erzeugt und reproduziert die Ideen spontan; Spontanität: d. i. bei Kant die Aktivität des Bewusstseins, die immer schon vor dem Bewusstwerden geschieht, also nur im Nachhinein bewusst gefasst werden kann; insofern bleibt vieles im Bewusstsein vorbewusst, nicht reflektiert. So ist es auch mit den Ideen. Sich über sich selbst aufzuklären heißt damit auch, sich seiner Ideen und ihres Gebrauches bewusst zu werden.

Tugenden

Mit Einschränkung ersetzen hier die Ideen die antike Tugendlehre: war diese noch stärker von äußeren Handlungen geprägt, d. h. zum Teil ritualisiert, wird bei Kant jede Handlung den Ideen gemäß prüfbar und der Prüfung verpflichtend. Dies ist aber zunächst eine Prüfung des eigenen Denkens, also eine Aufgabe der Selbstdisziplin. Die Tugend zeigt sich damit als gründlich durchdacht und in ihrer Ausführung fest.
Dies ist dann auch der Umgang mit Ideen: Gründlichkeit und Festigkeit.

Gründlichkeit

Gründlichkeit meint, nicht nur eine, sondern viele Erscheinungen und Situationen nach einer Idee zu durchdenken und ihre Verwirklichung wertzuschätzen. Festigkeit dagegen ist weniger eine Hartnäckigkeit, aus der leicht eine Hartherzigkeit werden mag, sondern sich weder durch Widerstände noch durch die eigene Bequemlichkeit von der Interpretation der Phänomene abbringen lassen; man mag das so verstehen, dass dies zunächst ein schonungsloser Blick auf sich selbst und den eigenen Gebrauch der Ideen sei.
Nun gibt es zwei Formen der Gründlichkeit. Da jegliche Situation, jegliches Verhalten eine Idee nur ausdrückt, dies aber nie in materieller Form, lässt sich auch jede Situation oder Verhalten nach verschiedenen Ideen durchmessen. So ist die eine Form der Gründlichkeit, eine Idee auf vieles und Verschiedenes anzuwenden; die andere aber, viele Ideen auf das eine und gleiche als Maßstab zu legen. Dass dies nicht ungewöhnlich ist, sondern etwas alltägliches, sieht man überall dort, wo Menschen durch den menschlichen Verkehr in Konflikt miteinander geraten. Doch der Konflikt ist schon etwas Sekundäres; die eigentliche Anwendung der Ideen auf ein Phänomen mag auseinanderstrebend oder zusammenführend verlaufen, ist aber von einem Vorrang oder einem Machtinteresse befreit. So mag man die Waldstein-Sonate Beethovens nach ihrer Schönheit oder nach ihrer musikgeschichtlichen Bedeutung beurteilen; die Ergebnisse müssen sich nicht notwendig ausschließen, ja noch nicht einmal für einander eine große Bedeutung haben – was man an all den Musikstücken sieht, die Menschen zwar als schön empfinden, die für die Musikgeschichte aber eine unbedeutende Rolle spielen.
Trotzdem gebührt die Betrachtung mehrerer Ideen am gleichen Sachverhalt insofern ein Vorrang, als sich hier nicht einfach nur das Maß der Verwirklichung diskutieren lässt, sondern die Ideen einander beeinflussen, kooperieren oder im Widerstreit stehen. Auch wo der Mensch sich nur auf eine einzelne Idee beruft, setzt er diese als absolut, d. i. eine fixe Idee.

Das Trügerische der Ideen

Insofern bleibt die Reflexion auf die Ideen auf doppelte Weise schwierig; sie ist, ihren Verwirklichungen nach, unendlich, diesem Zusammenhang nach, also ihrer empirischen Erscheinung nach, trügerisch, scheinhaft. Denn die Aussagen der Empirie führen immer nur zu Begriffen, die durch Abstraktion gewonnen sind, nicht zu Ideen, die durch Analogie erschlossen werden können. Hier spielt auch mit hinein, dass die Analogie ein schwacher und missbräuchlicher Schluss ist, also gerade nicht der Strenge eines rationalen Denkens zuträglich und deshalb der besonders strengen Beobachtung nötig.

Der schlechte Gebrauch der Ideen

Den schlechten Gebrauch der Ideen kann man wie folgt einteilen: durch unklare, monotone oder falsche Ideen. Die unklaren sind jene, die man nicht gründlich diskutiert, die monotonen jene, die man nicht in ein Wechselspiel mit anderen Ideen gesetzt hat. Von den falschen Ideen gibt es zweierlei; die ersten beruhen auf der empirischen Verwechslung. Ein schönes Bild drückt zwar die Schönheit aus, ist aber nicht die Idee selbst, so wie ein Verhalten aus Nächstenliebe noch nicht die Idee der Nächstenliebe selbst ist. Diese Verwechslung ist allerdings von minderem Schaden, solange sie sich in der Wirklichkeit als solche nützlich erweist.

Die theologische Verwechslung

Die andere beruht auf der theologischen Verwechslung; so sind Weltbilder, seien diese christlich, muslimisch oder säkularisiert, keineswegs Ideen, sondern Ideenspender. Wie sich das Christentum durchaus in sehr unterschiedlichen Ideen zeigt, zum Teil auch widersprüchlichen, so kann generell den Weltbildern keine Einheitlichkeit zugesprochen werden, da diese in der Benennung nur zusammenfassend, nicht aber definierend sind. Dies gilt für fast alle Ismen, sei es die Nationalismen, der Feminismus oder der Kommunismus. Wer also Gebrauch von diesen Weltbildern macht, hat wenig gesagt, wenn er nicht die Ideen benennt, die er sich daraus entnimmt.

Innere Freiheit

Freiheit nimmt unter den Ideen eine besondere Stellung ein. Zwar muss man bei Kant zwischen einer äußeren und einer inneren Freiheit unterscheiden, und gemeint ist hier nur die innere, d. i. intellektuale Freiheit, doch ist diese die Voraussetzung für die äußere, d. i. gesellige.
Freiheit sei a priori und die einzige Idee, die a priori sei. Um etwas konsequent zu durchdenken, muss ich dies wollen. Um etwas zu wollen, muss ich wählen können; dazu aber brauche ich die Freiheit (die innere, wohl gemerkt). Die Freiheit ist damit die Bedingung der Ideen und damit die einzige Idee, die nicht in Konkurrenz oder Kooperation mit anderen Ideen besteht, sondern die Bedingung ihrer freien, d. i. gewählten Anwendung.
Aber die Freiheit kann nur dann geklärt werden, wenn 1.) Ideen konsequent, d. i. gründlich und hartnäckig bedacht werden, und 2.) die Ideen sich aneinander gegenseitig beschränken und einschärfen. Nimmt man das erstere nicht ernst, so nutzt man seinen Willen nur auf schwache Weise, d. h. man bricht ab, bevor man die fiktionale Totalität der Idee erreicht hat, und bleibt inkonsequent; und im zweiten setzt man die eine Idee, die man gewählt hat, an die Stelle der Freiheit und wird damit unfrei.
Die beiden Tendenzen sind widerstrebig: einmal die fiktive Ganzheit der Idee, die nie erreicht und nie zu Ende gedacht werden kann, und einmal die „Absolutheit“ der Idee, die nur existieren kann, wenn sie sich von anderen konsequenten Denkweisen, also anderen Ideen absetzt.

Kritik

Kritik ist die Verneinung am Leitfaden einer Idee; hier zuvorgegangen sein muss die gute Einübung, die gründliche Diskussion. Da immer eine Mehrzahl an Ideen auf ein Phänomen anwendbar sind, ist auch die Kritik mehrfach; so wie sich die Ideen in ihrem positiven Gebrauch nicht ausschließen, so schließen Kritiken einander nicht aus, gleichwohl sie sich gegenseitig erhellen können. Verneinung bedeutet, dass ein Sachverhalt eine Idee schlecht oder gar nicht verwirklicht; sie ist von der empirische Verneinung abzugrenzen, die besagt, dass ein Sachverhalt nicht vorliegt oder zwei Sachverhalte zueinander anders stehen, als bisher angenommen. Von Interesse sind solche ideellen Verneinungen, also Kritiken, allerdings erst, wenn sie zugleich eine Klärung ermöglichen, d. i. sie vergleichend, begründet, gründlich und umsichtig sind.

Schluss

Diese Zusammenstellung ist als Übersicht gedacht. Sie ist dogmatisch formuliert, um sie knapp zu halten; aber auch, weil ein wesentlicher Teil ihrer Begründung auf eine umfassendere Darstellung Kants referieren müsste, insbesondere auf die sehr hintersinnige Verbindung der Begriffe und der Ideen (die Kant auch Verstandes- und Vernunftbegriffe nennt, weil die empirischen Begriffe dem Verstand, die ideellen Begriffe oder Ideen der Vernunft zugehören).

02.01.2022

Selbstdenken

»Jeder trägt einen Prüfstein bei sich, den er nur anzuwenden braucht, um Wahrheit und Schein zu sondern.«
(J. Locke, Über den richtigen Gebrauch des Verstandes, Leipzig 1920, S. 8)
»Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt / Den leidgen Stein zum Anstoß in sich selbst.«
(Kleist, Heinrich von: Der zerbrochene Krug, Z. 5-6)

Selbstdenken bei Kant

Jüngst ist der Begriff des ›Selbstdenkens‹ wo nicht zu einem Miss-, so doch zu einem sehr einfältigen Gebrauche gekommen. Blind aber, wer per se anderen Menschen überhaupt Gedanken abspricht. Denn mit dem Selbstdenken ist nicht das Denken-können gemeint, sondern letzten Endes das Verhältnis der Gedanken zu sich selbst, zu denen anderer Menschen, schließlich der Menschheit insgesamt.
Dabei ist der Begriff nicht unschuldig, denn im ersten Moment möchte man glauben, dass es neben dem Selbstdenken auch ein Nicht-Selbstdenken gäbe. Immanuel Kant jedoch hat dazu eine ganz andere Erläuterung. Es lohnt sich, diese genauer anzuschauen. In einem Einschub in seiner Kritik der Urteilskraft, genauer: § 40, legt Kant zunächst dar, was er unter dem gemeinen, bzw. gesunden Menschenverstand versteht, um dann auf drei Maximen zu verweisen, die diesen gesunden Menschenverstand ausmachen. Wohl gemerkt handelt es sich hier um Maximen, also »praktischen Grundsätzen«; diese Feinheit lässt aufhorchen: das Selbstdenken ist demnach weder eine allgemeingültige Beschreibung, noch eine Art Begabung, die dem einen mehr, dem anderen weniger zukommt, sondern etwas, um das man sich aktiv kümmern muss.
Selbstdenken ist also nur ein Emblem; wichtiger ist die Erläuterung, die Kant dann dazu gibt.
Kant teilt zunächst den ›gemeine Menschenverstand‹ auf:
»1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.« (KU 226)

Die Maxime des Selbstdenkens

Die erste Maxime, die uns hier insbesondere interessiert, führt Kant auch unter dem Begriff der vorurteilfreien Denkungsart auf. Nun ist der ganze Witz an dieser Stelle, dass uns Kant nie die Maxime direkt sagt, sondern diese nur umschreibt:
»Die erste ist die Maxime einer niemals passiven Vernunft.«
Dieser Satz lässt sich zweifach lesen, bzw. auf zweierlei Arten in eine Maxime umwandeln. Die erste ist »Denke stets aktiv« oder auch »Nutze deine Vernunft stets aktiv«; die zweite dagegen »Beachte, dass du immer (und ausschließlich) aktiv denkst« – ein passives Denken wäre demnach eine Selbsttäuschung, oder, wenn es von anderen vorgeworfen wird, eine Fremdtäuschung. Obwohl die folgenden Sätze dann zunächst die erste Lesart zu bevorzugen scheinen, wird die zweite nicht ausgeschlossen.
Kant definiert dann das Vorurteil und den Aberglaube, bevor er zur (Nicht-) Erläuterung der zweiten Maxime kommt. Er bleibt also bei seiner indirekten Definition des ›Selbstdenkens‹.

Vorurteil und Aberglaube

Das Vorurteil sei »der Hang […] zur passiven Vernunft«, also gerade nicht aktiv zu denken. Nun gibt es ein zweites Missverständnis, welches wir hinreichend klären müssen, um den Unterschied zwischen einer passiven und einer aktiven Vernunft zu verstehen. Etwas weiter unten korrigiert Kant sich nämlich und nennt die erste Maxime die Maxime des Verstandes. Der Verstand ist nun das Vermögen eines Menschen, Wahrnehmungen zu Begriffen zusammenzufassen; und auf der Rückseite bedeutet dies, dass der Verstand in der Lage ist, Einzelheiten wegzulassen, also zu abstrahieren. Erst dadurch ist es möglich, solche Begriffe zu bilden, die mehrere Objekte zu einer gleichen Menge ordnen. Der Kern dieser Tätigkeit besteht allerdings in der (durchaus naiven) Wahrnehmung alldessen, was die Sinne einem zu bieten haben.

Aktive und passive Vernunft

So gewendet bildet die aktive Vernunft auch aktiv Begriffe, während die passive Vernunft nur Begriffe von anderen übernimmt. Die passive Vernunft kümmert sich also, so lässt sich zwischen den Zeilen lesen, zu wenig um die sinnliche Wahrnehmung; dies erinnert an Kants wohl berühmtesten Satz
»Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (KrV A 51),
um daran anzuschließen:
»Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).«
Damit ist dann aber eine doppelte Aufgabe bestimmt: die Begriffe zu versinnlichen, die sinnlichen Anschauungen zu verbegrifflichen.
Dadurch erklärt sich auch, warum die passive Vernunft als Quelle der Vorurteile gesehen wird: denn wenn sich die passive Vernunft weder um Veranschaulichung noch um Verbegrifflichung kümmert, entleert sie die Gedanken und wird blind für die reale, vor einem sinnlich und greifbar liegende Welt. Die Begriffe, so sie einfach übernommen werden, bezeichnen nichts mehr. Sie werden unbrauchbar. Schlimmer noch bezeichnen sie nicht mehr das, was ein Mensch durch aktives Denken erschaffen hat. Wozu ein solcher, freilich doch unangenehmer Zustand nützlich sein sollte, liefert Kant dann gleich mit:
»… indem die Blindheit, worin der Aberglaube versetzt, ja sie wohl gar als Obliegenheit fordert, das Bedürfnis, von anderen angeleitet zu werden, mithin den Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht.«

Anschaulichkeit und mediale Vermittlung

Man kann, als Zwischenhalt, festhalten, dass die mediale Vermittlung von Wirklichkeit, also Zeitungen, Fernsehen, Blogs und Video-Kanäle, trügerisch ist. Sie vermittelt uns die Wirklichkeit durch die Augen anderer, und leider auch allzu oft durch deren Rhetorik und der darin liegenden Zweckentfremdung. Zweifelsohne lässt sich die Komplexität der Welt von einem einzelnen schlecht erfassen, oder, um es mit Kant zu sagen, gibt es so viele Begriffe, dass wir uns dazu zu selten zu einer gründlichen Anschauung verhelfen können.
Gehen wir auf die aktuelle Situation zurück, so lässt sich zunächst nur sagen, dass die Erkenntnisse zu den Auswirkungen von Corona nur von den wenigsten anschaulich erschlossen werden kann. Den Bürger*innen liegen im allgemeinen nur medial vermittelte Sachverhalte vor, also ›leere Gedanken‹; und dies gilt sowohl für all diejenigen, die die gravierenden Folgen von Corona-Erkrankungen leugnen, wie diejenigen, die auf sie hinweisen. Bedenkt man nun, dass es sich ja eigentlich um eine wachsende Kluft zwischen Begriff und Anschauung handelt, kommt man nicht umhin, in den verhärteten Parteien der ›Leugner‹ und ›Befürworter‹ genau jenes Auseinanderdriften wiederzufinden. –
Es ist hier nicht Sinn und Zweck, einen Ausgang aus diesem Konflikt aufzuzeigen; ganz allgemein sei aber angemerkt, dass die Gesellschaft zwei Möglichkeiten anbietet: dies ist einmal der Sachverstand, zu dem sich jeder Mensch selbst verhelfen möge, hier also das Wissen um Virologie, Epidemiologie und Evolution im allgemeinen, zum anderen das geprüfte Vertrauen. Geprüft ist ein Vertrauen dann, wenn es auf vielfältige, unterschiedliche Quellen zurückgreifen und diese sachverständig beurteilen kann, sodass die Ergebnisse der Prüfung auf jene Menschen zurückfällt, denen wir unser Vertrauen schenken oder entziehen möchten. So bleibt als Fundament nichts anderes übrig, als seinen Sachverstand zu bilden; und erst darauf kann man, zumindest vorläufig, eine Parteilichkeit begründen. Dass es derzeit oftmals umgekehrt läuft, ja dass sich dieser Konflikt durch Beleidigungen und Bedrohungen zunehmend verselbstständigt, bietet zwar alles mögliche, jedenfalls aber nicht eine vorurteilfreie Denkungsart, kein Selbstdenken.

Die erweiterte Denkungsart

Deutlicher wird das Verhältnis zwischen Selbstdenken, Begriff und Anschauung, wenn man sich die zweite Maxime vor Augen führt. Kant nennt diese die ›Maxime der erweiterten Denkungsart‹, bzw. ›Maxime der Urteilskraft‹. Nun ist ein Urteil, zumindest das philosophische, zunächst nur eine Merkmalszuweisung, wie etwa ›Die Rose ist rot.‹. Hier wird aber klar, dass das Urteil die Anschauung, hier also die Rose, im Urteil in einen Begriff umwandelt; denn gleich wie die Rose dort auch immer sein mag, das Urteil hat an ihr vieles weggelassen. Erweitert ist diese Denkungsart nun, wenn ein Mensch »sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils … wegsetzt«. Dazu muss er »aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert«. Dabei sollte klar sein, dass es sich hier nicht einfach nur um beliebige andere Urteile handelt, sondern um Urteile, die einen bestimmten Sachverhalt betreffen. Wer dieser Maxime nicht folgt, ist nur zu einem bornierten (also beschränkten) Urteil fähig.

Gesunder Menschenverstand

Damit kehrt Kant aber auch zu dem Beginn seines Umweges über die Denkungsarten zurück. Hier definiert er den gesunden Menschenverstand, den er auch Gemeinsinn und gemeinschaftlichen Sinn nennt. Nachdem er zunächst die vulgäre Bedeutung dieses Wortes zurückgewiesen hat, schreibt er:
»Unter dem sensus communis aber muss man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken … Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluss haben würde. Dies geschieht nun dadurch, dass man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes anderen versetzt, in dem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert …« (KU A 155)
Kants Definition birgt nun einige Unsicherheiten. So ist das faktische Urteil eines, welches sich durch Überprüfung und Absicherung objektivieren lässt; dagegen steckt in jedem Urteil auch ein subjektiver Anteil, von dem Kant hier absehen möchte. Da sich aber viele Urteile nur bei genügend Sachverstand von ›subjektiven Privatbedingungen‹ abstrahieren lassen, bei anderen, den rein politischen Urteilen, dies sogar gar nicht möglich ist, denn hier ist die Parteilichkeit geradezu Bedingung des Urteils, kann man zwar das einfache, bornierte Urteil überwinden, den gemeinschaftlichen Sinn vollumfänglich aber nicht erreichen.

Die Mängel der ›Querdenker‹

In der Szene der so benannten ›Querdenker‹ finden sich alle die Merkmale wieder, gegen die Kant hier angeschrieben hat: ein fragloses Übernehmen von Begriffen, ohne diese durch Anschauungen genügend geprüft zu haben; oftmals findet man zwar solche Anschauungen, aber nur als Medium, sodass man eigentlich nur ein Medium ansieht, und hier noch einmal zusätzlich, und bevor man den Inhalten glaubt, dieses Medium selbst überprüfen müsste. Das ungeprüfte, und zum Teil nicht überprüfbare Medium nennt man dann üblicherweise ›Fake News‹.
Der zweite Mangel ist dann der zu enge Bereich der Urteile, die in Betracht gezogen werden. Teilweise geschieht den Urteilen genau dasselbe, wie den Begriffen: Sie werden passiv übernommen; damit gehören sie aber zum Aberglaube, dem Gegenteil der Aufklärung.

Schluss

Kants recht verstreute Ausführungen über die Denkungsarten sind natürlich wesentlich komplexer als hier dargestellt. Es ginge aber auch nicht darum, eine möglichst präzise philologische Analyse zu liefern, sondern das ›Selbstdenken‹ präziser zu fassen; damit wird das abergläubische Denken, welches sich bei den Querdenker findet, hoffentlich konstruktiver kritisierbar. Zur Parteilichkeit möchte ich hier trotzdem nicht aufrufen. Die Corona-Leugner sind zwar aus vielen Gründen politisch weder sachlich noch anständig; dass dies sich aber automatisch bei ihren Gegnern finden ließe, lässt sich daraus nicht schließen. Auch dort ist Kritik, zum Teil deutlich scharfe, angebracht. Aber es wäre eine Kritik, die sich gerade von der der Querdenker deutlich unterscheiden müsste.
Selbstdenken jedenfalls ist die aktive Konstruktion von Begriffen; es steht, im Zusammenhang mit dem ›gesunden Menschenverstand‹, nicht alleine, sondern mit zwei anderen Denkungsarten, von denen ich hier nur eine etwas weiter ausgeführt habe. Das erweiterte Urteil dagegen ist ein anhand anderer Urteile geprüftes eigenes Urteil; dieses erweiterte Urteil bedingt eine bessere Begründung, deren Kern entweder anschaulich ist (also direkt auf ein sinnliches Phänomen hinweist) oder zumindest auf hinreichend geprüfte Quellen verweist (was einer Quellenkritik bedarf).
Meinungen, die hier übrigens gerne ungebührlich hineingemischt werden, können zwar durch gut konstruierte Begriffe abgesichert werden, gehören aber nicht in die Sphäre des Selbstdenkens. Meinungen sind subjektive Einschätzungen, wie ein sozialer Sachverhalt sich auf das eigene Leben einwirkt: sie sind entweder intuitiv (unbegründet) oder rational (begründet). Eine Aussage wie »Covid ist nicht schlimmer als eine Grippe« ist keine Meinung, sondern nur die Vorbereitung einer Meinung. Sie unterliegt deshalb auch nicht der Meinungsfreiheit, sondern ihrer jeweiligen Disziplin und muss deren Gesetzen, Begriffen und Urteilen gehorchen.

12.07.2021

Kippfiguren im Denken

Philosophische und mathematische Vernunftbegriffe

Kant teilt in seiner Logik die Vernunftbegriffe (unter anderem) in philosophische und mathematische auf (Logik A 22). Unterschieden werden diese dadurch, dass die philosophischen durch Intuition, die mathematischen durch Konstruktion erzeugt werden.
Diese Antwort kann aber kaum befriedigen; sie kann die moderne Leser*in nicht befriedigen, nicht nach einem Jahrhundert konstruktivistischer Theorien. Deleuze und Guattari formulieren in ihrem Buch Was ist Philosophie?: „Die Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen.“ (6). Und sie kann die Kant-Leser*in nicht befriedigen, denn der Begriff als solcher ist auch bei Kant auf einer zeitlichen Synthese beruhend. Diese müsste nun auch in der Intuition zu finden sein, die den philosophischen Begriff gibt.

Muster und Überautomatisierung

Tatsächlich hält die Kognitionspsychologie hier ein „Theoriestück“ bereit, jenes nämlich, welches behauptet, dass jedes wahrgenommene Muster durch hinreichende Übung zu einem wahrnehmenden Muster wird, soll heißen: ein Muster, welches wir intuitiv in die Umwelt hineinsehen. Dieser Prozess wird auf der Handlungsseite durch Übungen erreicht, auf der Seite des Denkens durch eine zunehmende Automatisierung, die dann in einer „Überautomatisierung“ gipfelt, also jenem Moment, in dem ich mir nicht mehr bewusst bin, dieses oder jenes Muster anzuwenden. – Beigefügt werden soll, dass sich Denken immer in Mustern vollzieht und der Mensch bei der Selbstreflexion gar nicht hinter seine Anfänge zurückkehren kann. Vermutlich sind die allerersten Denkmuster biologisch geprägt, und werden dann durch Umwelterfahrungen und Lernen zunehmend in Richtung kulturell angeeigneter Muster verschoben.

Dianoia

Dies führt uns zu einem wesentlich älteren Philosophen zurück, Platon, der in seinem Menon-Dialog ein schönes Beispiel davon liefert, was er als dianoia bezeichnet. In diesem betreffenden Abschnitt lässt Sokrates einen Sklavenjungen ein geometrisches Problem lösen. Was auch immer dieses geometrische Problem ist: Platon möchte hier zeigen, dass der Junge die Lösung weiß, somit also die Idee angeboren sei.
Dabei ist die dianoia ein Mittelglied:
„Die platonische dianoia als die für alle Wissenschaften konstitutive Verstandestätigkeit ist dann im platonischen System der Erkenntnisvermögen dadurch bestimmt, dass Anschauen und Denken eine spezifische Verbindung eingehen, insofern sinnlich wahrnehmbare Figuren und Zahlen als unsinnliche mathematische Objekte gelten und auf diese Weise auch eingesetzt werden.“
Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Berlin 2016, 155 f.)

Kippfigur und Evolution: von der Intuition zur Konstruktion

In diesem Sinne ist die dianoia eine Kippfigur im Denken: eine geometrische Konstruktion, eine mathematische Formel, ein informationstechnisches Diagramm (etwa die für die Software-Architektur so wichtigen Entwurfsmuster) bilden sowohl eine anschauliche Materie wie ein unsinnliches Denkmuster.
Warum aber ist genau dieser Zwischenbereich so interessant? Es geht nicht nur darum, die Trennlinie aufzulösen, die Kant zwischen den philosophischen und den mathematischen Begriffen, der Intuition und der Konstruktion zieht. Vielmehr richtet sich hier das Augenmerk auf die Lehre, durch die wir in der Lage sind, philosophisch und philosophisch neu zu denken. Dass dies eine Lehre ist, keineswegs aber eine interne Dialektik des Geistes, wie sie von Hegel postuliert wurde, verschiebt die ganze Dialektik aus einer Notwendigkeit der Entwicklung in eine gewisse systemabhängige Zufälligkeit, mithin in den Bereich der Evolution. Erinnern wir uns daran, dass die Evolution nicht einfach nur eine stabile Abfolge von Entwicklungsschritten ist; zunächst zeigt sie sich in einer Population und darin, wie diese Population Ereignisse verarbeiten kann: indem sie diese gewohnheitsmäßig aufnimmt (sie assimiliert), diese jenseits ihrer Verarbeitungsgrenzen durchlaufen lässt (sie ignoriert oder durch diese zerstört wird) oder indem sie sich diesen anpasst (sich akkomodiert).
Offensichtlich ist also die Lücke, die zwischen Intuition und Konstruktion klafft, keineswegs nur eine qualitative, sondern eine qualitativ-temporale; so dass etwa die mathematischen und die philosophischen Begriffe nicht zwei verschiedene Sphären bilden, sondern ineinander übergehen können. Folgt man dem Prinzip der Überautomatisierung, also dem Wechsel vom Interpretierten zum Interpretierenden, so gilt dies auch für andere Bereiche.

Freiwerden der Muster

Was die Muster angeht, so zeichnen sich diese, sobald man sie übt, durch eine zunehmende Freiheit aus. Sind sie zunächst ganz an den Fundort gekettet, an dem wir sie zum ersten Mal wahrgenommen haben, können diese nach und nach in andere Bereiche übertragen werden und heften sich irgendwann „wie von selbst“ an Erkenntnisobjekte. Diese Unfreiheit mögen die meisten schon so erfahren haben, dass sie eine Kolleg*in, der sie Tag für Tag auf der Arbeit begegnen, bei einer Begegnung in der Freizeit zuerst nicht erkannt haben. Und die zunehmende Freiheit wird jedem deutlich vor Augen stehen, den einmal ein Einfall getroffen hat, der zunächst mit der Situation nichts zu tun hatte, dann aber nach und nach seinen Grund preisgegeben hat, warum genau dieser Einfall in dieser Situation aufgetaucht ist.
Auch in der Pädagogik verfolgt man diesen Ansatz, wenngleich auch oft nicht mit dieser Begründung: hier wird mit lebensweltlichen und praxisorientierten Theorien argumentiert; so soll etwa die Geometrie anhand von „echten“ Aufgaben, der Konstruktion von Papierbrücken, der Berechnung einer Baumhöhe anhand von der Länge des Schattens und des Winkels, usw. eingeübt werden. Damit soll vor allem der pragmatische Nutzen verdeutlicht werden. Für die kreative Arbeit mit Mustern scheint das aber nicht zu reichen. Im Gegenteil wird oft sogar das Vorgefundene in den Mittelpunkt gestellt, nicht das konstruktive Experiment. So wird aus der Erfahrung der Lebenswelt häufig eine Einfriedung in der Lebenswelt. Den Aufgaben fehlt das Freiwerden der Muster.

Philosophieren lernen

Kant scheint dies gespürt zu haben. Zwar schreibt er, dass die Logik „eine Vernunftwissenschaft nicht der bloßen Materie, sondern der Form nach“ sei (A 9), aber er schreibt doch, dass auch die Logik selbst historisch erworben werden könne (A 21), womit er meint, dass ein Mensch diese erwerbe, also lerne:
„Es kann also objektiv etwas ein Vernunfterkenntnis sein, was subjektiv doch nur historisch ist.“ (A 21)
Ohne dies auf die Weise auszuführen, wie ich dies hier mit Hilfe der Kognitionspsychologie getan habe (also gerade nicht philosophisch!), kommt auch Kant zu einer Engführung der Begriffe der Übung und der Freiheit:
„Der philosophieren lernen will, darf dagegen alle Systeme der Philosophie nur als Geschichte des Gebrauchs der Vernunft ansehen und als Objekte der Übung seines philosophischen Talents.
Der wahre Philosoph muss also als Selbstdenker einen freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft machen. Aber auch keinen dialektischen, d. i. keinen solchen Gebrauch, der nur darauf abzweckt, den Erkenntnissen einen Schein von Wahrheit und Weisheit zu geben. Dieses ist das Geschäft der bloßen Sophisten; aber mit der Würde des Philosophen, als eines Kenners und Lehrers der Weisheit, durchaus unverträglich.“ (A 27)

Freies Denken als Kippfigur

So mag es sein, dass die Evolution, sofern sie biologisch ist, uns an die Scholle bindet, während die Evolution, sofern sie kognitiv ist und uns Menschen als Kulturwesen betrifft, uns von dieser löst. Dass dies aber nicht ganz so einfach zu verwirklichen ist, darauf weist die platonische dianoia: auch in ihrem ersten und weitergehenden Wirken bleibt das freie Denken auf diese Kippfigur, bleiben das Interpretierte und das Interpretierende aufeinander angewiesen.
  • Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie? Frankfurt am Main 2000
  • Kant, Immanuel: Logik. in ders.: GW Band VI, 415-582
  • Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Berlin 2016

24.05.2019

Grammatik als Heilmittel

Analogiebildung

Dabei, bei der unterstellten Ähnlichkeit, kann man auch von komplexeren Konstellationen ausgehen, etwa, dass es mehrere Elemente gibt, für die eine gewisse Ähnlichkeit unterstellt wird, da sie untereinander zusammenhängen. Wenn diese Elemente dann untereinander auch noch so verbunden sind, wird hier nicht nur mehrfach eine Ähnlichkeit unterstellt, sondern ein ganzes Modell auf eine wahrgenommene Situation oder ein wahrgenommenes Phänomen projiziert. Dies ist dann die Verbindung zur Analogiebildung und zur Wissenschaftlichkeit, die in empathischen Prozessen mit enthalten ist.
Breithaupt macht das dann an dem (berühmten) Beispiel der Fledermaus fest:
Wenn wir etwa versuchen, uns in eine Fledermaus einzufühlen, so das berühmte Beispiel von Thomas Nagel, so tun wir es, indem wir die Gleichartigkeit der Erfahrung unterstellen, und etwa das Echolot in Sicht zurück übersetzen und das Flügelschlagen als Armbewegung auslegen (was es evolutionär ja auch war).
Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie. Frankfurt am Main 2009, S. 18f.

Grammatik als Heilmittel

Insofern hat aber auch Wittgenstein recht, wenn er die Grammatik, bzw. die Betrachtung der Grammatik als Heilmittel gegen die Empathie, bzw. die unterstellte Ähnlichkeit ansieht. Er fragt immer wieder danach, was wir aus einem Schmerzausdruck schließen können, inwieweit wir in der Lage sind, ihn zu verstehen.
Wenn Wittgenstein also nach Regeln und Gesetzen fragt, dann auch in der Art und Weise, dass er nach der Kombination von Ähnlichkeiten und Differenzen fragt, nach dem Aufbau unserer Welt entlang von Ähnlichkeiten und Differenzen und dass er diese Kombinationen genauestens betrachtet wissen will.

Einmaligkeit

Einmaligkeit ist ein ambivalentes Wort. Einmalig kann quantitativ oder qualitativ gebraucht werden: einmalig als Ereignis oder Handlung, die/das einmal notwendig ist (oder faktisch vorgekommen ist), um dann getan zu sein, und einmal als Erlebnis, zu dem es nichts Vergleichbares gibt.
Beide Arten sind falsch: eine quantitative Einmaligkeit wäre rein formal und inhaltlich nicht an irgendeine Sinnlichkeit gebunden. Eine qualitative Einmaligkeit wäre so außerhalb unserer Erfahrung, dass sie uns als reiner, flüchtiger, sogar unbemerkbarer Zufall erscheinen müsste — eine unbemerkbare Erscheinung zeigt, wie paradox eine solche Annahme wäre.

13.05.2019

Mathe lernen

Nun, ein Problem, das vielleicht nicht nur ich, sondern sehr viele Menschen haben, ist, dass man Mathe nicht nur können muss, sondern dass man Mathe dort sehen können muss, wo sie bisher noch nicht stattfindet. Man muss die Formeln in die Welt hinein- und aus ihr heraussehen. Das aber braucht die Automatisierung, und diese erreicht man nur durch Üben, soll heißen: vielfältige Übersetzungen. (Zur Automatisierung habe ich zum Beispiel in der Tunnelblick und die Theorie geschrieben.)
Dann aber darf man nicht einfach nur Gleichungen lösen, sondern muss diese immer wieder auf ihre Äquivalenz zu Weltfragmenten, zu Ausschnitten aus der Realität überprüfen. Oder sich für diese Vorstellungen erfinden.