25.01.2012

Uexküll und Deleuze

Ich bin seit Tagen wieder dabei, Uexküll und Deleuze zu lesen, Uexküll, weil ich den seit einem Jahr am Wickel habe und nie richtig dazu komme, mit für ihn Zeit zu nehmen, Deleuze, weil sich für mich einiges klärt, was er so schreibt, seit ich Uexküll lese.

Hier sind einige meiner Anmerkungen, die ich heute fabriziert habe:

Ganzheit 
Driesch: Ganzheit als Charakteristikum des Lebendigen, "denn die anorganischen Natur kennt nur Summen, jedoch keine Ganzheit, die — ich kann mich nicht anders ausdrücken — eine planmäßige Anordnung ihrer Teile darstellt." (Seite 293) 

Die Ganzheit organisiert sich durch Funktionen. Die Ganzheitlichkeit (zum Beispiel des Menschen) muss also in den Funktionen gesehen werden, die dieser tatsächlich ausübt, also in den Affekten, die ein Mensch in (also zusammen mit) seiner Umwelt "hat". (Zu Seite 293) 

Planmäßigkeit
Uexküll erörtert dann den Begriff der Planmäßigkeit: 
"Kant hat die Kausalität der konstitutiven Tätigkeit des Verstandes zugerechnet, dagegen die Planmäßigkeit dem regulativen Gebrauch der Vernunft zugewiesen. Das erweckt den Eindruck, als könne ein Plan niemals der integrierende Teil eines Gegenstandes sein, sondern sei bloß eine, wenn auch mit Notwendigkeit hinzugedachte menschliche Regel. Driesch hat diese Frage eingehend behandelt und nachgewiesen, dass die Planmäßigkeit ebenfalls zu den konstitutiven Eigenschaften zu rechnen sei." (Seite 293 f.) 
Das ist allerdings eine Geschmacksfrage. Natürlich sind Gegenstände in irgendeiner Weise strukturiert. Aber die Frage ist natürlich, wie diese Struktur und die Planmäßigkeit der Vernunft zusammenhängen. Ist die Planmäßigkeit die Arbeitsweise der Vernunft, kann diese nicht den Gegenständen eigen sein. Es ist jedoch klar, dass die Planmäßigkeiten ebenso wenig nützlich ist, wenn Sie nicht auf die Struktur eines Gegenstandes Rücksicht nimmt. 
Die Planmäßigkeit drückt sich deshalb auch nicht darin aus, dass die Vernunft dem Gegenstande eine Regel zukommen lässt, sondern darin, dass überhaupt eine Regel erdacht wird. So qualifiziert Uexküll sonst argumentiert, geht er hier fehl. Die Planmäßigkeit ist ein Vermögen der Vernunft, keine Eigenschaft der Dinge. Die Vernunft verarbeitet die erfahrenen Kausalitäten zu Regeln. 
Und natürlich kann die Vernunft nichts verarbeiten, was sie nicht an Stoff vom Verstand geliefert bekommen hat. 

"Wenn man Gestalt und Ganzheit ihren Teilen gegenüberstellt, wird man bei den Teilen der Gestalt sogleich auf den unterschied von leitenden und begleitenden Eigenschaften stoßen, …" (Seite 293) 

Gegen den populären Begriff des ganzheitlichen Denkens 
Folgt man dem Begriff der Ganzheit, wie Uexküll ihn hier zitiert, dann besteht ein Mensch aus zahlreichen Ganzheiten und nicht, wie dies der populäre Begriff suggeriert, als eine Ganzheit an sich. Letzten Endes sind Ganzheiten nur die funktionalen Zusammenhänge, die ein Mensch tätigt oder erleidet. 
Deleuze und Guattari schreiben irgendwo in ihrem Kafka-Buch, dass auch eine Sackgasse ein Ausweg sei. Und das liegt natürlich daran, dass auch eine Sackgasse in einen funktionalen Zusammenhang eingebunden ist. Es gibt keine unfunktionalen Ganzheiten, bzw. keine Elemente, die nicht irgendwie eingebunden sind. (Zu Seite 293) 

Wenn der Mensch aus Ganzheiten besteht, dann ist es grundsätzlich auch möglich, dass solche Ganzheiten "verschwinden" oder neue dazu gelernt werden können. Und setzt man diese Gesamtheit der Ganzheiten mit der Seele gleich (oder der Psyche), dann kann ein Mensch seine Seele ausweiten oder einschrumpfen. (Zu Seite 293) 

Es gibt, um ein Wort von Nietzsche zu verwenden, eine Diätetik der Seele, also eine Sorge um die eigenen Ganzheiten, die eigenen funktionalen Zusammenhänge. 

Die Ganzheiten sind immer heterogen. Sie bestehen aus einer Gewohnheit (zyklische Zeit) und einem Produkt (lineare Zeit). Das Produkt ist immer "außen", während die Gewohnheit "innen" ist. Aber doch letzten Endes ist das nur eine analytische Trennung, keine, die in der Praxis ebenfalls getrennt werden könnte. 
Wer eine Ganzheit "hat", "hat" auch das Produkt und die Gewohnheit. 
Deshalb schreibt Deleuze auch, man müsse das Kind seiner Ereignisse werden. Es ist nämlich völlig unsinnig, gegen ein Produkt anzukämpfen; stattdessen muss man die Gewohnheit in einen anderen Zusammenhang bringen, sie ausspielen, mit einem Wort: man muss "werden". 

"Es ist nicht schwierig, sich davon zu überzeugen, dass jeder Gebrauchsgegenstand und jede Maschine ein Planträger ist." (Seite 294) 
Wenn man meine Kritik (oben) ernst nimmt, dann sind Gegenstände und Maschinen nur Merkmalsträger. Aber diese Merkmale werden dann so verarbeitet, dass sie in einem Plan funktionieren. Bzw. natürlich nicht funktionieren, wenn der Plan nicht zu dem Gegenstand oder der Maschine passt. 

Der Begriff (die Deleuze und Guattari ihn definieren) ist ein solcher Plan. (Zu Seite 294) 

Uexküll vollzieht übrigens die gleiche Trennung, nur eben nachdem er den Plan auch in die Gegenstände hineingelegt hat (ich rede von der Trennung zwischen Planmäßigkeit und Struktur eines Gegenstandes): 
"Es ist nicht schwierig, sich davon zu überzeugen, dass jeder Gebrauchsgegenstand und jede Maschine ein Planträger ist. Bedeutsam ist dabei zweierlei: erstens, dass jeder Plan, obgleich er die Form der Materie bestimmt und die Bewegungen der Maschine beherrscht, selbst wieder Stoff noch Bewegung ist und zweitens, dass der Plan in allen menschlichen Erzeugnissen heteronom ist, d.h. nicht aus der Maschine selbst stammt im Gegensatz zu allen Lebewesen, deren Pläne autonom sind." (Seite 294) 
Was ich also als Planmäßigkeit und Gegenstandsstruktur bezeichnet habe, bezeichnet Uexküll als autonome und heteronome Pläne. 

Karte und Territorium
Hier können wir auch die Begriffe von Karte und Territorium (die mir bei Deleuze in der Vergangenheit viel Schwierigkeiten gemacht hat) verschieben. Die Karte besteht nicht aus den Vorstellungen, die ich mir von einem "Territorium" mache, sondern aus den Merkmalen. Das Territorium dagegen entwickelt sich entlang dieser Merkmale, es sind die Ganzheiten, die sich herausbilden, sobald ich mit einer Karte "tätig" umgehe. Das Territorium ist also nicht die Realität (wie man dies im Konstruktivismus häufiger als Begriff findet), sondern gehört zum Menschen (zu seiner Seele) notwendig dazu. Der Mensch (seine Seele) ist das Territorium, das er bewohnt.

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