05.10.2009

Gefühlslosigkeit

Gestern ist im sog. Fall Kassandra - so berichtet die FAZ - gegen einen "vierzehn Jahre alte[n] verhaltensgestörte[n] Jugendlichen" ein Haftbefehl erlassen worden. Er habe das neunjährige Mädchen schwer misshandelt, verletzt und dann in einen Gullischacht geworfen. Der Jugendliche wirke, so die FAZ weiter und Polizei und Staatsanwaltschaft zitierend, "völlig gefühllos".

Die Gefühllosigkeit ist ein Krankheitsbild, das mal als Soziopathie, mal als Psychopathie, mal als schizoide Persönlichkeitsstörung (nicht zu verwechseln mit Schizophrenie) bezeichnet wird. Beschrieben werden die Menschen als durch Empathie nicht zugänglich, bzw. als gespalten zwischen ihren Gefühlen und ihren Kognitionen. Häufig seien die Menschen rational, würden aber bisweilen von Affekten überschwemmt, die häufig Wutaffekte seien (mit zum Teil massiver Gewalt), manchmal aber auch Trauereffekte (wobei eines der Symptome ein unmotiviertes hysterisches Weinen sei).
Diese Krankheitsbeschreibung hat einige Brisanz. Laut Izard (zit. nach Ciompi: Die affektiven Grundlagen des Denkens, S. 93) basieren Gefühle auf diskreten Emotionen, also Emotionen, die gerade nicht 'fühlbar' sind. Diese diskreten Emotionen haben dagegen eine funktionale Wirkung auf unser Denken. Sie leiten Selektionen von kognitiven Mustern, und sind nicht mit den Gefühlen zu verwechseln, die sozusagen als Sekundärgefühle aus diesen diskreten Emotionen entstehen. (Diese Stelle habe ich etwas freier paraphrasiert und zwischen den diskreten und den fühlbaren Emotionen einen Bruch gesetzt, der keineswegs bewiesen ist. Selbst Izards Annahme der diskreten Emotionen ist umstritten. Die Neurophysiologie gibt hier, auch zehn Jahre nach Ciompis Buch, keineswegs Aufklärung über diesen Sachverhalt.)
Aber gehen wir erst mal davon aus, es verhalte sich so. Die diskreten Emotionen liegen dann gleichsam unterhalb der fühlbaren Emotionen und selegieren kognitive Strukturen, d.h. weitestgehend Begriffe und Begriffsordnungen.
Wären Soziopathen nicht zu Gefühlen in der Lage, dann könnten sie - folgt man den Voraussetzungen - ihre Körperbewegungen nicht auf die Umwelt abstimmen, d.h. sie würden kein Verhalten entwickeln und schlichtweg lebensunfähig sein. Man darf also die impliziten Gründe dieses Krankheitsbildes in Zweifel ziehen, gerade weil die Wissenschaft uns noch nicht darüber aufklären kann.

Zweifellos ist die Tat, die an Kassandra begangen wurde, eine bitterst schreckliche. Zweifellos wäre es ebenso schlimm, sollte sich dieser an sich schon auffällige Junge als der Täter erweisen (wobei der andere Fall nicht unbedingt beruhigender ist).
Doch sieht man sich die Kommentare zu dem Artikel an, fühlt man sich geradezu verpflichtet, diese moralinsauren Ego Shooter auszubremsen. Ja, diese Schnellschüsse von irgendwelchen Menschen, die das Gesetz anscheinend für sich gepachtet haben, sind durchaus mit dem Geballer von Splatter-Spielen vergleichbar.

Was mich an der ganzen Geschichte sehr viel eher interessieren würde, ist, wie stark Geschichten in der Familie des Jungen gepflegt werden, wie sehr bestimmte, evtl. traumatische Ereignisse verschwiegen werden, wie offen in der Familie mit der 'Verhaltensauffälligkeit' umgegangen wird. Erfahrungsgemäß werden verhaltensauffällige Kinder eher in ein Netz von gut gemeinten Manipulationen eingespannt, angefangen bei überbehütendem Verhalten, Verschweigen, Schuldvorwürfen gegen sich und andere, 'erlernter' Hilflosigkeit, etc.
All dies sind Variablen, die im Hintergrund von Alltagserzählungen mitwirken. Erzählungen sind nicht nur Probeläufe für Verhalten, Reflexionsmöglichkeiten für Verhalten, sondern auch Basis für den Aufbau von Begriffen. Ja, man kann vermuten, dass Begriffe gleichsam 'entzeitlichte' Erzählungen sind (dies legt z.B. Jürgen Straub nahe, in: Geschichten erzählen, Geschichte bilden, S. 106, in ders. (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein). Begriffe erfassen die Welt in kleinen Stücken, machen sie gleichsam handhabbar und distanzierbar. Wer sich distanzieren kann, kann sich entscheiden. Das sind zwar keine absoluten Entscheidungen, keine sozusagen existentiellen Wählbarkeiten, aber mit mehr Begriffen sind mehr Entscheidungen möglich (womit nicht verschwiegen werden soll, dass mehr Entscheidungen auch mehr Risiken bergen können).

Im Fall von Soziopathen (oder schizoiden Persönlichkeitsstörungen) scheint mir vor allem eine sprunghafte Selektion von Weltstrukturen zu sein, also eine Kluft zwischen Lebensbereichen, die kognitiv und emotional nicht verarbeitet werden kann. Daher kommt es, folgt man dieser Sicht, an bestimmten Stellen zu einem Kippen der Verhaltensstrukturen, von einem eher angepassten zu einem eher unangepassten Verhalten.
Und immer wieder - doch vielleicht bin ich da auch gerade zu beeindruckt von meinem eigenen Thema - erscheint hier die Erzählung auf der Bildfläche. Erzählungen sind polyreferentiell. Sie eignen sich besonders gut, Verhalten und symbolische Medien (Sprache) zu verschränken. Erzählungen sind Kommunikation. Nach Luhmann tauchen Gefühle in der Kommunikation nur als Themen auf. Was Erzählungen aber leisten können, ist, sowohl den Personen als auch der Interaktion die Verschränkung von Emotionen, Kognitionen und Volitionen (Gefühle, Gedanken, Willen) zuzumuten. (Ich bin hier etwas knapp: die Polyreferentialität von Erzählungen ist ein Kernstück meiner derzeitigen Arbeit, aber eher eine Hypothese als eine gesicherte Erkenntnis. Trotzdem glaube ich, so viel sagen zu können, dass Gewalt immer mit einem langwierigen und gravierenden Ausschluss von bestimmten Erzählungen einhergeht und dass Erzählungen explizit das Modell für Bewältigungsstrategien liefern.)
Ich arbeite mich hier nur langsam vor. Aus eigener Erfahrung ist mir eine in ihrer Kindheit wohl schwer traumatisierte Frau bekannt (gewesen), die ihre Umwelt mit einem Netz von Erzähl- und Erinnerungsverboten und künstlichen Ereignissen (sog. Lügen) überzogen hat. Auffällig an dieser Frau war auch, dass sie 1) ihre Gefühle immer in einem fordernden Ton ausgesprochen hat, bzw. diese sofort mit einer Funktion versehen hat, in der der andere etwas tun musste und 2) die Menschen in ihrer Umgebung - obwohl sonst eher friedlich oder konfliktscheu - äußerst reizbar, bzw. streitsüchtig erschienen. (In der Neurophysiologie werden die Ursachen in mnestischen Blockaden gesucht. Dort allerdings wird nicht untersucht, wie sich mnestische Blockaden in der Interaktion auswirken. Gedächtnislücken widersprechen explizit der Kontinuitätsannahme, die Menschen in der Gesellschaft zugemutet wird. Traumatisierte Menschen müssen also mehr oder weniger konfliktreich zwischen Erinnerungslücken, traumatischen Weltorganisationen und einem von außen eingeforderten Kontinuitätszwang vermitteln. Das dürfte nicht einfach sein. Zu den mnestischen Blockaden siehe Markowitsch, Hans J.: Das Gedächtnis, S. 64ff.)
Sprunghafte Wechsel in der Weltstruktur sind möglicherweise traumatisch. Traumatisierte Kinder erfahren wohl so etwas, wenn das schlimme Ereignis ihre Sinnstrukturen 'verwüstet'. Sprunghafte Wechsel sind aber auch konflikthaft. Konflikte sind zunächst Weltstrukturen, die sich nicht gut vermitteln lassen. Diese Vermittlung wird von Erzählungen massiv gestützt, jedenfalls kann man so zahlreiche Therapieprogramme mit traumatisierten Menschen und Gewaltpräventionsprogramme auf eine gleiche Perspektive hin lenken (vgl. zum Umfeld auch mein Fragment zum Nicht-Wissen).
Soziopathie müsste - vielleicht gibt es hierzu schon Literatur - auf Erzählungen hingelenkt werden.
Es wäre zu klären, ob 'erzählnahe' Familien Kinder mit höherer 'emotionaler Intelligenz' ins Leben entlassen als 'erzählferne' Familien. Es wäre zu untersuchen, ob Gewalttäter besondere Arten des Erzählens haben oder auch besondere Arten des Ausblendens von Erzählungen, bzw. Erzählaspekten. Insbesondere aber wäre zu klären, ob Erzählungen Gefühle 'einpflegen' können (wobei mir noch keineswegs klar ist, wie Gefühle in der Kommunikation geordnet sind: dort sind es ja zunächst nur Themen). - Also ein umfangreiches Programm.
Spannend ist vor allem, ob die Mikro-Selektionen bei Kommunikation und die diskreten Emotionen bei kognitiven Inhalten Kopplungstendenzen aufweisen. (Zu den Kopplungen siehe mein Fragment zum Trauma.)

Zuallererst aber wird ein genaueres Modell des Erzählens notwendig sein, eines, das sich auf die systemtheoretische Begrifflichkeit und nur auf die systemtheoretische Begrifflichkeit einlässt. Danach lassen sich Einzeluntersuchungen anschließen und die eng an Kommunikation angelehnte Diskussion wieder auf psychische Systeme (=Menschen) ausdehnen.

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