26.08.2016

Lesekompetenz

Zu einer der wichtigsten Aufgaben der Schule gehöre, so lässt sich lesen, die Vermittlung von Lesekompetenz. Dem wird wohl niemand widersprechen. Probeweise möchte ich dies hier trotzdem tun.

Doktrinen des Lesens

Die Relevanz

Immer wieder wird von einer Relevanz des Lesens gesprochen, wobei damit aber nicht das Lesen als solches, sondern meist eine bestimmte Art und Weise des Lesens gemeint ist; oft gesellen sich dazu dann auch entsprechende Aufforderungen: was zum Beispiel die Kernaussage eines Textes sei.
Nun hat der Begriff der Relevanz eine bewegte Geschichte, seit er als einer der Kernbegriffe der phänomenologischen Soziologie (Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt) auf die wissenschaftliche Bühne getreten ist. Seitdem wird das Zufällige der Relevanz immer wieder betont. Ricœur zum Beispiel schreibt:
Außerhalb der Geschichte betrachtet ist das Ereignis nichts anderes als ein Vorfall, d.h. etwas, das auf eine bestimmte Art und Weise geschieht, aber auch anders oder überhaupt nicht geschehen könnte, was die Definition der Kontingenz schlechthin ist.
Ricœur, Paul: Zufall und Vernunft in der Geschichte. Tübingen 1985, S. 11.
Und überlesen wir nicht, dass das Ereignis nicht wesenhaft relevant ist, sondern durch die Geschichte, also durch den Kontext, relevant gemacht wird. Relevanz kommt einem Ereignis nicht substantiell, sondern nur akzidentiell zu.

Bewusste Selektion

Diese Konstellation kennen wir aus der Evolution. Die Evolution ist zufällig, und zwar nicht deshalb zufällig, weil der Zufall dann umgekehrt das absolute, wesenhafte Ereignis ist (dies wäre eine simple Umkehrung der Relevanz), sondern weil sie nicht in die Logik des Systems passt, aber es trotzdem betrifft. Man spricht von einem systemrelativen Zufall.
Beim Lesen geschieht dies auch. Lehrer kennen das. Bevor ein Lesetext der Klasse unterbreitet wird, macht sich der Lehrer über die möglichen Antworten der Schüler Gedanken und legt sich Antworten dafür zurecht. Dann aber kommt eben doch ein Schüler an und hat den Text ganz anders verstanden, und der Lehrer kann nicht sagen, ob dieses andere Verstehen sinnig oder unsinnig ist. Es fällt aus der Klassifizierung heraus.

Interpretieren: was einem zufällt

Ich mag an dieser Stelle nun nicht wieder auf die zum Teil grotesken Aussagen der Interpretationshilfen zum Homo Faber zurückkommen; aber ja: Interpretationshilfen sind dem Sinn des Interpretierens genau entgegengesetzt: Interpretieren heißt, sich auf die zufälligen Wirkungen einzulassen, die einem beim Lesen kommen. Und es heißt, diese zufälligen Ereignisse nach und nach zu systematisieren, zu verbinden, in ihrer Reichweite zu erforschen.
Damit ist keine Beliebigkeit gemeint, wie man jetzt befürchten könnte. Der Zufall, ich erinnere daran, existiert nur relativ zum System. In anderen Systemen kann das zufällige Ereignis als notwendig wahrgenommen werden. Und es bedeutet auch nicht, dass man den Zufall hinzunehmen habe.

Zurück ins System?

Man kann diesen Zufall überschreiten, außer Kraft setzen, indem man die Grenzen des Systems, also die Grenzen der eigenen Logik verschiebt. Eine nicht ganz so einfache, zum Teil sogar recht unangenehme Aufgabe. Gelegentlich wird man dabei mit seinen eigenen Ängsten, seinen verborgenen Monstern konfrontiert.
Interpretationshilfen dagegen vernichten diesen Prozess. Sie schränken ein, sie lassen den Leser nicht zu sich selbst kommen. Aber das dürfte auch klar sein: interpretieren bedeutet, selbst zu denken. Interpretationshilfen nehmen einem dieses Denken weg. Und insofern helfen sie einen beim Interpretieren, indem sie das Interpretieren verhindern. Um es mit Kant zu sagen: Interpretationshilfen sind für Pinsel; Pinsel nennt man die Menschen, die eine Hand brauchen, die sie führt.

Relevanz als Moment der kulturellen Evolution

Man kann solche Begriffe wie zum Beispiel die Relevanz als metasprachliche Bezeichnung für Effekte der kulturellen Evolution begreifen. Die Relevanz bezeichnet, dass etwas ausgewählt worden ist oder ausgewählt werden soll; sie bezeichnet, mit anderen Worten, die Selektion als Prinzip.
Als Begriff des Tadels (du hast die Bedeutung/Relevanz des Textes nicht begriffen) ist sie zugleich Prinzip der Variation (lies den Text unter anderen Gesichtspunkten).
Einigt man sich auf eine bestimmte Relevanz, stabilisiert man das Milieu der Aussagen (also die Interpretation). Zugleich erschafft man sich damit eine eigene Logikblase, und eventuell eine, die eine größere Anzahl von Menschen umfasst (das, was ich im Anschluss an Antonio Gramsci Hegemonie nenne).

Der literarische Kanon

Roland Barthes stellt in einer kurzen Rede zwei Strategien oder Techniken vor, um eine solche Relevanz zu erzeugen: die erste ist der literarische Kanon, der allerdings in einer Zeit, in der Bücher den Modeartikeln ähnlich geworden sind, sich auf ein „Das musst du gelesen haben!“ beschränkt. Einstmals diente der literarische Kanon dazu, bestimmte Ideen zu tradieren. Und natürlich ist es augenfällig, dass sich Subkulturen, zu denen auch die wissenschaftlichen Disziplinen gehören, um eine gewisse Anzahl genau bestimmter Bücher herausbildet: die Bibel, der Goethe, die Werke Sigmund Freuds, das MEW. Der eine Schule begründet, muss des Schreibens (eines Werkes) mächtig sein.

Denotation werden …

Die andere Strategie, die Leseereignisse einzuschränken und gefügig zu machen, lassen sich unter vielfältigen Begriffen zusammenfassen: hier ist es, bei Barthes, die Denotation. Ich bezeichne dieses gerne als einen Zustand der Bequemlichkeit und der Feigheit. Das ist allerdings nicht ganz richtig.
Tatsächlich gehört es zu den Strategien der guten Lektüre, aus den Zufällen des Lesens, also eigentlich den Zufällen der Gedanken, die einem beim Lesen kommen, etwas Systematisches zu machen, also die Konnotation durch Systematisieren in eine Denotation zu wandeln. Den Zufall zu systematisieren bedeutet, siehe oben, die Grenzen des eigenen Denkens und der eigenen Logik zu überschreiten (eine solche Technik hat also weder etwas mit Willkür noch mit Anarchie zu tun).
Des weiteren gilt es, genau darauf zu achten, dass die Logik immer im Denken stattfindet. Sie ist dem Denken immanent.

… aber nicht Denotation sein

Wer das nicht beachtet, wer diese Innerlichkeit in der Äußerlichkeit wiederzufinden meint, landet in paranoiden Systemen. Dies kann man bei allen Formen des Populismus' beobachten, sei dieser nun rechts oder links oder was auch immer (ich bevorzuge die Bezeichnungen bürokratischer, nationaler und ökonomischer Populismus, entlang den drei großen menschenverachtenden Systemen des Stalinismus, des Nationalsozialismus und des Kapitalismus).
Den Zufällen des Denkens nachzuspüren, das ist wohl auch die Aufgabe des aufmerksamen Lesers, des aufmerksamen Interpretens. So gesehen ist Lesen Selbsterfahrung und Selbstveränderung. Wer sich dem nicht aussetzt, macht sich der Bequemlichkeit, eventuell sogar der Feigheit schuldig.

Logikblasen

Was ist falsch an der Denotation?

Vielleicht gar nichts. Die Denotation ist jener Teil unseres sprachlichen Systems, der als objektiv markiert ist. Er bietet Verlässlichkeit. Verlässlichkeit ist nicht Wahrhaftigkeit und auch nicht Wahrheit. Verlässlichkeit ist vor allem ein soziales Moment. Mit ihm zeigt man, dass man sich auf eine Vergangenheit geeinigt hat, von der aus man weiter machen kann. Ohne eine solche Vergangenheit ist die Zukunft so unterdeterminiert, dass längerfristige Ziele gar nicht verfolgt werden können: Sie werden zu unsicher.
Unter dieser Verlässlichkeit taucht der Vertrag auf, der als eine Art Gesellschaftsvertrag bezeichnet werden kann.

Die Evolution des Vertrages

So gesehen ist der Gesellschaftsvertrag kein Produkt der Rationalität, sondern der kulturellen Evolution. Menschen neigen dazu, füreinander Verlässlichkeiten herauszubilden. Es scheint so, als gäbe es aus einer biologischen Notwendigkeit heraus, der Absorption von Unsicherheit, Vertragsbildungen (und ich spreche hier bewusst im Plural) vor jeglichem rationalen Vertrag. Man höre hier bitte auch, dass solche Verträge zwar auch auf biologischen Bedingungen beruhen, aber deshalb keineswegs biologisch sein müssen.

Der Gender-Begriff

Das erste und einzige Mal, da ich mich ganz bewusst von dem Gebrauch des Wortes „frauenfeindlich“ distanziert habe, war und ist beim Homo Faber. Es gibt bezüglich des Themas gender eine Gefahr, die jenseits der rechtspopulistischen Kritik an der sogenannten „gender-Ideologie“ existiert. Ich hatte mehrfach darauf hingewiesen, und bin nicht nur gelegentlich, sondern geradezu systematisch auch missverstanden worden.
Ich habe überhaupt kein Problem mit dem gender-Begriff. Ich habe früher schon gezeigt, dass er sich durchaus biologisch rechtfertigen lässt (und bisher bin ich noch nie deswegen von einem echten Biologen eines Besseren belehrt worden, abgesehen von Kutschera, über den ich mich dann lustig mache).

Die Gender-Ideologie

Trotzdem habe ich mich gelegentlich auch gegen ihn gewandt. Das ist bei all jenen Artikeln gewesen, von denen ich glaubte, dass dort der gender-Begriff einfach nur gesetzt worden ist. Natürlich ist es erlaubt, einen Begriff zunächst zu postulieren. Ihn aber nicht ableiten zu können, oder die Ableitung darstellen zu können, das erscheint mir als unwissenschaftlich und als schlechte Ideologie.
An einem solchen Vorgehen ist nicht nur kritisierenswert, dass es sich nicht durch Argumentation, sondern durch Dogmatismus halten müsste (und dies gelegentlich ja auch tut), sondern dass die Vertreter eines solchen Begriffs den Prozess gesellschaftlicher Aufklärung verkennen: selbst wenn der Begriff legitim ist (und nichts anderes behaupte ich ja), muss er so lange in der Öffentlichkeit diskutiert werden, und kontrovers diskutiert werden, bis er auf eine breite Verlässlichkeit stößt.

Die Gender-Theorie

Umgekehrt ist es natürlich eine Frechheit, wenn man sich aufgrund einiger, auf mangelnde Beschäftigung beruhende Aussagen gegen die gender-Theorie wendet. Es liegen mittlerweile genügend Werke vor, die zu lesen sich lohnt. Wer die gender-Theorie kritisiert, und damit natürlich auch ein wichtiges moralisches Feld, hat eine gewisse Fürsorgepflicht. Fürsorge im Hinblick darauf, dass er (oder sie) solche Werke liest (und bitte schön: gründlich liest), und Fürsorge im Hinblick auf die Öffentlichkeit, seine Gedankengänge und Argumentationslinien zur Diskussion zu stellen. Einfach nur zu behaupten, die gender-Theorie sei eine Ideologie (was an sich schon eine dummdreiste Behauptung ist) und dann in einen blinden Aktionismus auszubrechen, das ist wohl die Anti-Aufklärung schlechthin. Dummheit und Faulheit waren eben noch nie gute Ratgeber.
Und damit darf ich hier ein kleines politisches Bekenntnis abgeben: weder werde ich die AfD noch die Grünen wählen, und zwar nicht aus gegensätzlichen Gründen, sondern aus den gleichen. Zumindest nicht, was den Umgang mit dem Gender-Mainstreaming angeht. Sollte ich die eine oder andere doch wählen (was unwahrscheinlich ist), dann, weil man letztlich bei jeder Partei Abstriche machen muss.

Logikblasen

Aber das sind alles nur Nebensächlichkeiten. Der Stammtisch hat sich noch nie durch Gründlichkeit oder Wissenschaftlichkeit ausgezeichnet, ob dort nun Prosecco oder Bier getrunken wird.
Es ist eine Beobachtung, die ich bei kleinen Studiengängen, mit denen der Kriminologie, der Verhaltensgestörtenpädagogik oder derzeit auch der Didaktik der Informationstechnologie beobachte: auf der einen Seite bekommen diese zu wenig Forschungsgelder, um weitreichende Untersuchungen anzuleiern, und auf der anderen Seite kennt man sich gegenseitig (zumindest im deutschsprachigen Raum): es scheint zu wenig Variation und zu viel Stabilisierung zu geben; die Forschung bewegt sich kaum weiter, und ebenso wenig die Theorie.
Das erweckt den Anschein, als würden diese kleinen Wissenschaften auf der Stelle treten und ihre eigenen Subsysteme gegen Anforderungen von außen abschotten.
Allerdings ist es nicht ganz so einfach. Denn natürlich kann man hier den Vorwurf machen, dass diese Wissenschaften in ihrer eigenen Logikblase stecken bleiben. Doch das ist nicht die erste Frage, die man sich stellen muss. Fraglich ist doch, ob man jemals einem System entkommt, was den Vorwurf der Logikblase nicht mehr verdient.

Zurück zur Relevanz

Noch einmal: was heißt Relevantes lesen?

Wir können nun feststellen, dass der Begriff der Relevanz zwar nicht dem interpretierten Text immanent ist, aber auf ein Verhältnis verschiedener Interpreten eines bestimmten Textes hinweist (zum Beispiel auf das Verhältnis von Lehrer und Schüler).
Zudem können wir feststellen, dass der Begriff der Relevanz ambivalent ist: nur indem er die Zukunft einschränkt (gleichsam dogmatisiert), ermöglicht er eine gewisse Verlässlichkeit. Und so bleibt es der Gesellschaft oder bestimmten Gruppen überlassen, über den Sinn und Unsinn einer Relevanz zu diskutieren, zum Beispiel: ist es wichtig, dass sich der Islam säkularisiert? Ist es wichtig, Computer von Beginn an im Unterricht zu nutzen? Ist es wichtig, demokratisch verträglichen Randgruppen (wie zum Beispiel Homosexuelle) eine besondere Plattform für die Sichtbarkeit zu geben (zum Beispiel den Christopher Street Day)?
Und natürlich gibt es dann auch noch die zahlreichen Relevanzen, die vielleicht nicht ganz so wichtig sind: was zum Beispiel bedeutet die Weide in Christa Wolfs Roman Kassandra? (Obwohl, wie ich gestehen muss, das für mich eine sehr schöne Frage ist.)

Wie zeigt sich Logik? Argumentation und Idee

Ich hatte mal zu Dobelli geschrieben (Hacker, Toaster, Zoe Beck und Dobelli), dass sich Argumentationen immer nur in Bezug auf Ideen als richtig oder als falsch erweisen. Man kann dies etwas präziser sagen, als ich es damals getan habe.
Argumentationen bestehen zunächst aus einer Sammlung von Urteilen (und ich meine dies hier in streng logischem Sinne als die Zuweisung eines Prädikats zu einem Subjekt, wobei das Subjekt irgend ein Begriff sein kann, während das Prädikat ein Merkmal ausdrückt). Weiterhin bestehen sie aus Schlussfolgerungen, zu denen die ableitende Regel und der Schluss gehört. Günstigstenfalls ist das Urteil ein Wahrnehmungsurteil (die Rose ist rot), schlechtestenfalls ist es eine Meinung (die gender-Ideologie ist unsinnig). Die Idee drückt sich in der Wahl von Urteilen ebenso aus, wie in der Wahl der ableitenden Regel. Dementsprechend ist dann auch der Schluss ideologisiert. Wollen wir also zu einer spezifischen Logik eine genauere Aussage treffen, dann müssen wir von einer inhaltlichen Betrachtung der Argumentation zu einer genetischen Betrachtung übergehen: wie überhaupt ist es zu einem solchen Urteil gekommen? Was sind die Bedingungen dafür, dass ein solches Urteil auftaucht?

Wie zeigt sich Logik? Enthymeme und kulturelle Grenzen

Folgt man den Theorien der kulturellen Evolution (wie ich dies hier tue), kann man diese Bedingungen nicht in einem metaphysischen Bereich finden, sondern in den Dispositionen vergangener Zeiten. Zudem muss man, wie ich oben ausgeführt habe, davon ausgehen, dass es in jeder Kultur Bindungen gibt, die der Rationalität der betreffenden Kultur nicht ohne erhebliche Mühen zugänglich sind. Diese habe ich, im Anschluss an Aristoteles, Enthymeme genannt: fraglos gewordene Überzeugungen.
Eine solche Behandlung der Logik muss sich eine gewisse Paranoia bewahren: wenn sie schon keine menschlichen Akteure auf den Hinterbühnen erwartet, so doch eben jene Enthymeme, die im Verborgenen wirken. An sie zu rühren bedeutete, an den Grenzen der jeweiligen Kultur zu rütteln. Und in diesem Sinne ist die Aufklärung jenes Unternehmen, was sich beständig selbst überwinden muss.

Status eines Softskills: die Lesekompetenz

Was aber hat das alles mit der Lesekompetenz zu tun, von der ich zu Beginn so viel, und jetzt scheinbar gar nicht mehr gesprochen habe?
Nun, zunächst kann man feststellen, dass sich im akademischen Bereich (und gelegentlich auch im populären) Lesekompetenz dadurch ausdrückt, dass man einen Text zustimmend liest, aber auch dadurch, dass man ihn widerlegend liest. Lesekompetenz drückt sich damit durch zwei sich widersprechende Ergebnisse aus.
Sammelt man dann Methoden des Lesens, philosophische, literaturwissenschaftliche, kreative, findet man ein ganzes Bestiarium (oder Herbarium) solcher Verfahrensweisen.
Und mit Rücksicht auf die kognitive Psychologie kann man schließlich von Assimilationsschemata sprechen, aus denen sich die Lesekompetenz zusammensetzt, und zum Teil sehr verschieden zusammensetzt. Ein Slavoj Zizek liest Hegel komplett anders als ein Gilles Deleuze. Eine generelle Lesekompetenz wird man beiden aber wohl schwerlich absprechen können.

Lesekompetenz und Assimilationsschemata

Ich gehe nun davon aus, dass sich die Lesekompetenz nicht wirklich fassen lässt. Sie setzt sich aus zu vielen solcher Schemata zusammen; sie strukturiert sich auch je unterschiedlich (manche Leser verschaffen sich zunächst einen Überblick über einen Text, andere lassen sich eher von einzelnen Stellen faszinieren, usw., auch wenn beide sowohl des Überblicks als auch der Mikrolektüre fähig sind). Es käme also darauf an, die Lesekompetenz nicht an einer bestimmten Vorgabe festzuhalten, sondern an einer hinreichend großen Anzahl solcher Assimilationsschemata. Aber wie relevant sind solche Assimilationsschemata für sich genommen: welche Rolle spielt es, dass ich zu Beginn von Kassandra an das Hier und Jetzt aus Hegels Phänomenologie des Geistes denke, am Ende aber an den Homo Faber, der mit dem gleichen Satz endet wie Wolfs Kassandra? Und was daran ist nun genau die Lesekompetenz? Besteht sie darin, überhaupt Verbindungen zu ziehen, oder besteht sie darin, genau diese Verbindung zu ziehen?
Roland Barthes schreibt dazu im bereits zitierten Artikel:
… ich weiß nicht, ob das Lesen nicht grundlegend ein vielzähliges Feld aufgesplitterter Praktiken und irreduzibler Effekte ist und folglich die Lektüre der Lektüre, die ›Metalektüre‹, selbst nichts anderes als ein Aufblitzen von Ideen, Ängsten, Wünschen, Lustempfindungen und Unterdrückungen, von dem es nur fallweise, gleichsam im Plural … zu sprechen gilt.
Barthes, Roland: Über das Lesen. in Barthes, Roland: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt am Main 2005, S. 33

Wie zeigt sich Logik? Zeigen und Sagen

Das Problem der Sprache (und damit das Problem des Lesens) findet sich in den verschiedenen Ebenen, die die Sprache durchkreuzen. Nur zu gerne erinnere ich daran, wie Roman Jakobson und Claude Lévi-Strauss über Seiten hinweg das zwölfzeilige Gedicht ›Les Chats‹ von Baudelaire beschreiben, woraufhin die Antwort von Michel Riffaterre noch umfangreicher ausfällt.
Man fühlt sich hier daran erinnert, was Wittgenstein zur Sprache geschrieben hat:
Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit.
Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, 4.121
Der sprachliche Ausdruck zeigt die logische Form, aber sagt sie nicht. Und demnach entgleitet die logische Form immer wieder der inhaltlichen Darstellung. Damit ist die Logik aber seltsamerweise nicht mehr der beruhigende Grund, auf den sich eine (mehr oder weniger) wissenschaftliche Diskussion verlassen kann, sondern eine beunruhigende Kluft, über die sich die eine Logik mit der anderen Logik nur in Form von Tautologien und Missverständnissen austauschen kann.
Lesen wäre, sofern es nicht mechanisches Lesen sein soll, eine Folge von Missverständnissen und Fehllektüren. Oder, um dies in der ganzen paradoxen Erscheinung zusammenzudampfen: Lektüre ist Fehllektüre, dank der Kluft zwischen Zeigen und Sagen. (Siehe dazu auch: Form und Übersetzung, Sprachen lernen)

Ein Kanon der Leseverfahren? - Schulbücher

Grundsätzlich bekenne ich mich dazu, die neuen Schulbücher zu lieben. Sie sind keinesfalls, wie dies Ursula Sarrazin vor einigen Jahren behauptet hat, anspruchsloser geworden, im Gegenteil. Ab der zweiten Klasse findet man in jedem Schulbuch methodische Hinweise, zum Teil ganze Methodenseiten, und so natürlich in den Deutschbüchern auch Seiten zum Training der Lesekompetenz. Hier werden Methoden eingeübt, wie zum Beispiel den wesentlichen Begriff eines Absatzes zu identifizieren, dem Absatz eine Überschrift zu geben, aus einer kurzen Geschichte den wesentlichen Konflikt und das Moment, in dem dieser Konflikt gelöst wird, zu identifizieren. Und schon in der zweiten Klasse leiten die Schulbücher auch dazu an, die Ergebnisse zu vergleichen und zu hinterfragen, also kritisch mit den eigenen und den fremden Leistungen umzugehen.

Individuelle Leseverfahren

Soviel zum Lob. Und trotzdem: ganz verlassen dürfen wir uns auf die Schulbücher nicht. Schon die Kinder in der ersten Klasse bringen eine ganze Menge Assimilationsschemata mit. Und eine ganze Reihe dieser bereits erworbenen Muster eignen sich hervorragend zur Interpretation von Texten und dem Verfassen von Geschichten, selbst wenn die Schüler noch nicht schreiben können. Von all dem wissen die Schulbücher nur im Allgemeinen, nicht im Besonderen. Hier ist es gelegentlich die Aufgabe des Lehrers, solche Lesemuster aufzugreifen und für die Klasse fruchtbar zu machen, obwohl sie gerade nicht im Schulbuch enthalten sind.
Ein gewisser Kanon ist also sinnvoll, weil man sich so auf Gemeinsames verlassen kann. Aber eine gewisse Variation ist auch nicht schlecht. Manchmal, so darf ich gestehen, ist es einfach bezaubernd, was Kinder aus Texten machen, die man als sehr simpel bezeichnen würde. Genau das gilt es zu würdigen, mit und gegen den Kanon.

Zum Abschluss: die unsinnigen Diskussionen

Im Internet findet man mittlerweile so zahlreich Diskussionen, die eigentlich nur noch aus der gegenseitigen Beleidigung der Diskutanten bestehen, dass man nicht explizit auf eine bestimmte Seite verweisen muss. Ich tue es an dieser Stelle trotzdem. Es gibt von Harald Lesch ein Video, in dem er die Aussagen der AfD zum Klimawandel kritisch begutachtet. Er kommt zu dem Schluss, dass die AfD sich hier höchst unwissenschaftlich verhält. Das hat natürlich zu sehr viel Unmut, aber auch zu sehr viel Fürsprache geführt. Und egal, ob Harald Lesch recht hat oder nicht, und egal, ob die meisten dieser darunter stehenden Aussagen einfach nur Beleidigungen sind oder doch irgendwie zu einer sinnvollen Diskussion gehören: die Aufforderung, seine Aussagen zu begründen, zielt nicht nur darauf, ob diese inhaltlich richtig sind, sondern darzulegen, wie jemand zu diesen Aussagen kommt, also sich selbst zu begründen.
Diese Aufforderung ist nicht unsinnig, sondern vielleicht sogar das Wesentliche an solchen Diskussionen: nur darüber lässt sich genauer sagen, mit welcher Sorgfalt ein Diskutant bestimmte Aussagen zu betrachten bereit ist. Auch hier geht es zunächst nicht um das Ergebnis als solches, sondern um die Lesekompetenz. Auch hier geht es um die darunterliegenden, unausgesprochenen Verträge. Und natürlich geht es um die Idee, die sich in einer solchen Lesekompetenz anzeigt.

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