27.08.2016

Werte und Normen in Erzählungen

Gelegentlich, im Moment aber wirklich nur sehr gelegentlich, versuche ich den derzeitigen Diskussionen ein konstruktives Argument abzugewinnen. Was macht man in solchen Situationen? Nun, ich kann sagen, was ich mache: ich ziehe mich in die Lektüre zurück, meine einzige wirkliche Heimat.
Kenneth Gergen schreibt in seinem Aufsatz Erzählung, moralische Identität und historisches Bewusstsein (in Straub: Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Frankfurt am Main 1998) über die Funktion der Erzählung für die moralische Identität und das historische Bewusstsein. Man kann soziale Erzählungen häufig recht parallel zu Abenteuergeschichten, bzw. zur Heldenreise lesen. Heldenreise, für all die, die dieses Wort in seiner undefinierten Bedeutung hören, ist ein feststehender Begriff der Narratologie, also dem Teil der Kulturwissenschaft, der sich mit dem Erzählen auseinandersetzt.

Werthaltiger Endpunkt

Mit diesem etwas umständlichen Begriff bezeichnet Gergen die Tatsache, dass jede Geschichte einen oder mehrere Werte demonstriert und dadurch an der moralischen Identität von Erzähler und Zuhörer/Leser mitwirkt. Allerdings stört mich an dem Artikel dann ungemein, dass Gergen relativ abstrakt auf den Ort eingeht, an dem sich dieser Wert genau demonstriert. Er unterscheidet nicht zwischen gesetzten und demonstrierten Werten (was ich gleich erklären werde), und nicht zwischen instrumentellen und absoluten Werten. Zudem ist das Wort „Endpunkt“ missverständlich, so als würde sich der Wert am Ende einer Geschichte finden.
Unterteilen wir ein wenig.

Ein Reichsbürger in Reuden

Schauen wir uns dazu zunächst eine Geschichte an, damit wir einen Untersuchungsgegenstand besitzen. Es ist, wie ich in dem Artikel Die Fabel hinter der Fabel gezeigt habe, nicht einfach nur eine einzelne Geschichte, sondern eine Geschichte, die aus mehreren Teilen besteht. Am Donnerstag, dem 25. August 2016, wurde in Reuden ein Haus zwangsgeräumt, das den Schwiegereltern des früheren Mister Germany Adrian Ursache gehört hat. Grund der Zwangsräumung waren Grundschulden. Der Artikel, auf den ich mich beziehe, heißt: Wie aus Mister Germany ein „Staatsmann“ wurde. Er stammt vom 24. Juni 2016, also ziemlich genau zwei Monate vor der Zwangsräumung, bei der Ursache während eines Schusswechsels schwer verletzt wurde.
In dem Artikel werden drei Geschichten erzählt. Er ist auf vier Internet-Seiten verteilt.
Auf der ersten Seite findet sich eine Beschreibung der Situation, die allerdings mit einem Geschehen versehen ist, einem Geschehen, wie es ein distanzierter Beobachter schildern könnte. Interessant dabei ist allerdings, dass dieser distanzierte Beobachter vor allem ein Video beschreibt, welches wohl von Adrian Ursache selbst aufgenommen worden ist. Trotzdem kann man nicht davon sprechen, dass der Journalist hier die Innenperspektive nachgezeichnet hätte.
Die zweite Seite bringt dann die Geschichte eines Verfalls oder Niedergangs. Sie erzählt, wie Ursache sich von Mister Germany zu einem Reichsbürger entwickelt habe. Die Ursache für diese Entwicklung wird gleich mitgeliefer, wenn auch - undeutlich - als Spekulation markiert.
Die letzten beiden Seiten sind dem Umgang Ursaches mit den Behörden in den letzten Jahren gewidmet.

Werte und Normen

Zunächst müssen wir zwischen Werten und Normen unterscheiden. Werte, so definiere ich im Anschluss an Niklas Luhmann, drücken positive Verhaltensweisen aus, wie zum Beispiel Mitgefühl, Aufrichtigkeit, Gewissenhaftigkeit. Normen wiederum bezeichnen Schwellen im Verhalten von Menschen, bei deren Übertreten eine mehr oder weniger deutliche Sanktion stattfindet.
Wir können nun an dieser Geschichte beobachten, dass sie zugleich Werte und Normen verdeutlicht. Als positiver Wert wird hier der Realitätssinn beschworen, im engeren Sinne dann die Anerkennung historischer Tatsachen, wie zum Beispiel die Existenz der Bundesrepublik Deutschland (die Adrian Ursache leugnet). Mit dieser Leugnung überschreitet Ursache nach und nach eine ganze Reihe von rechtlichen Normen. Er erkennt die Staatsgewalt nicht an, leugnet Verträge, verschleppt Zahlungen, bedroht und beleidigt Polizisten. Die ersten Sanktionen, in Form von Geldstrafen, erkennt Ursache nicht an: er hat, wie er sagt, sein eigenes Reich gegründet, und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland gelten dort nicht. Daraufhin folgte diesen Donnerstag die Zwangsräumung, als wohl die schärfste Sanktion, die man bei Grundschulden verhängen kann.

Eine gewisse Buchstabentreue

In einer Sache muss man bei solchen Artikeln allerdings auch vorsichtig sein, einer Sache, die dem Interpreten dann gelegentlich auch ziemlich Mühe bereitet. Weder die Werte noch die Normen werden direkt benannt. Die Geschichte wird als traurig bezeichnet, die gewählten Worte (des Journalisten) sind deutlich distanzierend: er [Adrian Ursache] wittere überall „Betrug und Rechtsbruch, Übervorteilung und Behörden, die nur darauf aus sind, ihm Übles anzutun“; kurz danach schreibt der Journalist: „Wie ein Kind, das meint, wenn es sich die Augen zu hält, sei es beim Versteckspiel nicht mehr zu sehen.“ – Der Realitätsverlust wird angedeutet, die Paranoia und möglicherweise die Schizophrenie ebenso, aber nie als solche benannt. Der Autor des Artikels bleibt alltagssprachlich: er sei aus dem Traumleben gerissen worden, irgendetwas sei in ihm zerbrochen, er verrenne sich.
All das sind Normierungen (oder, besser gesagt, negative Wertschätzungen), aber sie bezeichnen eben noch nicht genau die Norm, die mit dieser Geschichte verdeutlicht werden soll. Bei der Interpretation tut man also gut daran, sich zunächst auf positive und negative Wertschätzungen zu stützen, so wie sie in dem Text selbst auftauchen. Buchstäblichkeit und Buchstabentreue ist zwar nur ein Teil der Interpretationskunst, aber doch ein wichtiger Regulator, um mit den Deutungen nicht in die Irre zu gehen.

Gesetzte und demonstrierte Werte

Daran schließt sich meine Unterscheidung von gesetzten und demonstrierten Werten an. Gesetzte Werte finden sich gleichsam am Rande der Geschichte, während demonstrierte Werte aus dem Erzählfaden heraus erschlossen werden können.
So hält es der Journalist für offensichtlich selbstverständlich, dass man mit der Polizei freundlich umgeht, dass man Behördenbriefe beantwortet, und dass man nicht einfach seinen eigenen Staat auf einigen 100 m² Land mitten in Deutschland gründet. Ob das rechtens ist oder nicht, diskutiert der Journalist nicht. Er setzt zum Beispiel Freundlichkeit als Normalverhalten und Anerkennung des Staates als selbstverständlich voraus. Wenn man nun in ganz andere Gebiete wechselt, etwa die deskriptive Philologie oder postmarxistische Staatskritik, dann findet man ganz andere Werte, die für selbstverständlich angenommen werden. Oder: mich frappiert immer wieder, mit welch einer Selbstverständlichkeit von einer deutschen Kultur gesprochen wird, als sei diese etwas Kompaktes und Definierbares. (Und in diesem Fall erinnere ich immer wieder gerne daran, dass ich Hegel nicht in Deutschland lesen gelernt habe, sondern in Sfax. Meine Geschichte dazu ist eine Geschichte der Umwertung.)
Demonstrierte Werte findet man nun in diesem Artikel wenig, dafür aber demonstrierte Normen. Er zeigt, wie sich Realitätsverlust, Querulantentum oder eine, wie man ja vermuten könnte, psychische Störung auf das Leben eines Menschen auswirken. Und suggeriert, dass man sich von solchen Sachen wie Polizistenbeleidigung und Staatsgründungen besser fernhalten solle.

Instrumentelle und absolute Werte

Als absoluten Wert kann man all jene Werte bezeichnen, die sich in einem „happy-end“ ausdrücken (oftmals: erfüllte Liebe, Familienglück, friedliches Leben), oder die als unumstößlich gelten (wie zum Beispiel die Pressefreiheit oder die Schulpflicht).
Instrumentelle Werte dagegen sind all jene Werte, die den Weg zu einem absoluten Wert ermöglichen, wie zum Beispiel in der Aussage: „wer Deutsch sein will, muss kämpfen“, wobei die Kampfbereitschaft instrumentell ist, Deutschsein absolut.
Schwieriger dagegen sind instrumentelle und absolute Normen zu bestimmen. Unser Strafrecht zum Beispiel ist so ausgelegt, dass darin eine Verbesserungsfähigkeit des Menschen angenommen wird. Und insofern gibt es auch einen erzieherischen Grundzug bei den Strafen, die verhängt werden. Als eine absolute Sanktion, die aber in Deutschland untersagt ist, gilt die Todesstrafe. Und insofern gibt es auch in unserer politischen Landschaft keine absolute Norm, weil eben die absolute Sanktion fehlt.
Was dem Staat "fehlt", muss bei einzelnen Personen aber nicht so sein. Offensichtlich hat die Polizei, als sie vor zwei Tagen die Zwangsräumung des Hauses von Adrian Ursache durchführen wollte, bei diesem eine absolute Norm überschritten, denn er war wohl dazu bereit, einen oder mehrere Polizisten zu töten.
Für einen Philologen dagegen ist, relativ zu seiner Disziplin, dann eine Norm überschritten, wenn die Buchstabentreue nicht so gut es geht beachtet wird (der dazugehörige Wert ist das genaue Zitieren, bzw. das Begründen, warum man etwas so und so gelesen/verstanden hat). Sicherlich ist die Norm, die zwischen Philologen und Nicht-Philologen unterscheidet, nur eine relative; trotzdem gibt es Fehlinterpretationen, vor denen sich ein Philologe verwahren würde, weil er einem Nicht-Philologen doch eine gewisse Gebildetheit zutraut, die auch Methoden der Interpretation umfasst.

Der tweet von Renate Künast

Werte und Normen auseinander zu halten, das fällt vielen Diskutanten auch schwer. Renate Künast hatte nach dem Attentat in Würzburg auf Twitter geschrieben:
„Tragisch und wir hoffen für die Verletzten. Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden?“
Darüber ist dann eine Welle der Empörung hochgeschwappt. Ich frage mich, warum. Ein Menschenleben sollte doch als Wert möglichst unantastbar sein, auch als Demonstration für denjenigen, der diesen Wert missachtet. Ansonsten lässt sich aus diesem tweet herauslesen, dass Künast auch das Menschenleben der Verletzten für hoch erachtet. Wie zum Beispiel Rafael Behr zu der Aussage kommt, Künast würde suggerieren, hinter dem Vorgang würden handwerkliche Fehler stecken, also dass Künast implizit den Polizisten ein Fehlverhalten vorwirft, erschließt sich mir nicht. Noch dreister ist allerdings die Aussage von Michael Fuchs, der tweet ginge zulasten Dritter (welcher denn, fragt man sich). Und Tobias Huch von der FDP hält diese Frage sogar für beleidigend und dumm und schließt weiter, Künast hasse die Polizei.
Jetzt könnte ich noch jenen unerträglichen Artikel von Thomas Schmoll aus der Welt auseinandernehmen.
Aber ich möchte hier doch auf einen ganz anderen Wert zurückkommen, den der Buchstäblichkeit und Buchstabentreue, auch der Sachlichkeit und der vorsichtigen Interpretation. All diese Werte hat Künast, zumindest in diesem tweet, nicht verraten (also die "irgendwie dazu gehörigen" Normen verletzt). Schwieriger ist zu sagen, ob sie sie vertreten hat, denn darüber sagt der tweet uns nichts. Dagegen ist zum Beispiel der tweet von Tobias Huch – „Ich entschulde [sic!] mich für die dumme und beleidigende Frage von Frau Renate Künast. Sie hasst einfach die Polizei.“ – wohl eine Fehlinterpretation par excellence. Sachlichkeit spürt man auf keinen Fall. Wohl aber könnte man ihm Profilierungssucht oder einfach eine gewisse Idiotie unterstellen. Doch dafür ist auch dieser tweet zu kurz.

Zeigen und sagen; der performative Selbstwiderspruch

Das erinnert an das Wittgenstein-Zitat, das ich gestern in meinem Artikel zur Lesekompetenz benutzt habe:
„Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit.“
Werte und Normen lassen sich relativ leicht sagen, aber sie zu zeigen ist gelegentlich recht schwierig. Man kann Menschen in etwa daran beurteilen, wie bei ihnen gezeigte und gesagte Werte auseinanderklaffen. Und man sollte mit einiger Vorsicht an die Interpretation gezeigter Werte herangehen: diese sind, wie ich oben an dem Artikel zu Adrian Ursache gezeigt habe, keineswegs so einfach zu erschließen, selbst bei einem so langen Text nicht, und schon gar nicht, wie es bei dem tweet von Renate Künast dann so selbstverständlich getan wurde.

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