29.08.2016

Archetypen der Performanz

Man kennt das von Nietzsche: den Archetypen, der nicht mehr eine irgendwie unbewusst entstandene Konstellation ausdrückt, sondern eine soziale Konstellation, wie zum Beispiel dem Priester, der bei Nietzsche aus dem Ressentiment einen sekundären Krankheitsgewinn zieht, daraus neue, schöpferische, gleichwohl aber entstellte, weil abgeleitete Kräfte gewinnt. Der Priester entsteht so an einer bestimmten Position, nicht komplett notwendig, aber doch durch das Kräftespiel innerhalb des Zustands eines Volkes gleichsam folgerichtig hervorgerufen.

Giorgio Agamben und die Archetypen der Performanz

In seinem Buch Was von Auschwitz bleibt schreibt Agamben vom Zeugen, vom Gedemütigten (bzw. eigentlich vom Muselmann, von dem ich schon vor ein paar Tagen berichtete), vom Schamvollen und vom Archivar. Nun habe ich das Buch noch immer nur sehr flüchtig gelesen. Aber es fällt doch auf, dass die Archetypen, von denen Agamben hier berichtet, Träger performativer Äußerungen oder mnestischer Produkte sind. Mit einer performativen Äußerung wird etwas „hergestellt“, das nur in der Kultur existiert und das sich materiell nur in Statussymbolen ausdrückt, aber doch einen realen Effekt auf das Zusammenleben der Menschen hat. Heiraten ist ein solches typisches Beispiel, und die Aussage, die man in fast jedem Buch über performative Äußerungen finden dürfte, ist folgende: Ich erkläre euch zu Mann und Frau. Andere performative Äußerungen sind zum Beispiel Versprechen und Drohungen. Beide haben reale Effekte auf die Beziehungen zwischen Menschen. (Deshalb bekommt performativen Äußerungen auch die Anonymität so schlecht: eine anonym ausgesprochene Drohung oder Beleidigung, wie dies im Internet immer wieder zu finden ist, ist zugleich irreal und monströs: Sie basiert auf Sozialität, ist aber zugleich, durch die Anonymität, völlig beziehungslos.)

Performative Aussagen

Bezeugen ist ebenfalls eine performative Aussage. Im Grunde ist sie ein Versprechen, nämlich das Versprechen, die Wahrheit zu sagen, obwohl die realen Geschehnisse von anderen nicht so gut überprüft werden können, vielleicht gar nicht.
Da sich die Wirkungen performativer Aussagen vor allem auf das Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Menschen beziehen, muss man ihnen einen wesenhaft politischen Charakter zuschreiben. Alles andere ist daraus dann abgeleitet. Dass die Eheleute nach der Hochzeit einen Ehering tragen, ist zwar eine gewisse Gewohnheit, und bei vielen immer noch Tradition (also eine aus der Vergangenheit kommende, übernommene Gewohnheit), aber für den eigentlichen performativen Akt nur eine Zugabe.
Es liegt also nahe, aus bestimmten performativen Äußerungen Archetypen herauszuarbeiten: der Zeuge bezeugt, der Terrorist droht (mit zu verbreitendem Schrecken), der Verräter droht auch (mit der Veröffentlichung von peinlichen Geheimnissen), usw.

Mnestische Produkte

Was aber sind mnestische Produkte? Das sind Produkte, die nur indirekt den performativen Äußerungen dienen, also all das, was als Träger von menschlichem Wissen dienen kann. Dazu gehören nicht einfach nur die klassischen Archive. Jedes Buch enthält Wissen, jede historische Vase und jeder mittelalterliche Löffel, ein Aquarell von Ende des 19. Jahrhunderts wie die Gartengestaltung am sächsischen Kurfürstenhof während des Barocks.
Der Witz allerdings an mnestischen Produkten ist eigentlich nicht, dass sie Wissen „speichern“, sondern dass ihnen Wissen unterstellt wird. Gehen wir davon aus, dass nur der Mensch etwas wissen kann, dann können es Bücher und Archive nicht. Sie bewahren das Wissen in einer anderen Form auf, einer nicht-wissenden Form (etwas, was ich, in einem verallgemeinerten Sinne, Grammatik nenne).

Archetypen der Performanz und der Mnestik

Archetypen der Performanz schaffen Sachverhalte innerhalb einer Gesellschaft, während Archetypen der Mnestik grammatische Vorräte anlegen, die später entziffert werden müssen, und die immer in Gefahr stehen, zu viel und zu wenig zu sagen. Schriftsteller gehören zu den letzteren; und so gesehen gehört es zu ihren paradoxen Aufgaben, eine gewisse Sammlung an Nicht-Wissen zu konstruieren, der der Leser aufsitzt, sodass er sein eigenes Wissen an einem anderen Ort, zunächst dem Buch, dann dem Autor, zu finden glaubt.

Aktive und passive Performanz

Wer Agamben schon etwas kennt, wird sich seit Beginn des Artikels gefragt haben, wie denn zum Beispiel der Muselmann, dessen elendes, bewusstloses und selbstverleugnendes Bild der Autor von Was von Auschwitz bleibt so drückend schildert, was also dieser Muselmann bei den Archetypen der Performanz zu suchen hat.
Eine solche Auffassung, dass es eben ganz machtlose Subjekte gäbe, denen unbeschränkt machtvolle gegenüberstünden, impliziert, dass Menschen voraussetzungslos in der Gesellschaft ankommen. Wie leicht zu beweisen ist, ist gerade das nicht der Fall. Bevor ein Kind auch nur die Chance hat, aktiv in soziale Prozesse einzugreifen, wird es mit einem Bündel an Erwartungen und Vorstellungen überzogen. So beginnt die Sozialisation und Subjektivierung von Kindern lange bevor sie gezeugt worden sind; selbst wenn das Kind ungeplant gezeugt wird, hält die Gesellschaft für es langjährige Programme bereit, die von Normen und Werten durchzogen sind. Oder anders gesagt: kein Kind kommt in einem machtfreien Raum zur Welt und hätte demnach die Chance, einen solchen Raum der Macht aus sich selbst heraus zu erschaffen.
So muss, bei aller Determination, die unsere Gesellschaft für bestimmte Menschen bereithält, trotzdem von einer Performanz gesprochen werden, einem Nicht-Ausführen von Äußerungen, die anderen performativen Äußerungen eine andere Wirkung ermöglichen. Wer nicht widerspricht, so könnte man sagen, macht sich mitschuldig; obwohl diese Aussage natürlich zu einfach ist, wie dies bei den Hungerkranken aus Auschwitz nachvollziehbar wird: dort waren die sozialen Determinanten so gestellt, dass sie die Wahl hatten zwischen Sterben und trotzdem Sterben.

Schluss

Ich habe nicht viel Zeit, ich sagte es ja bereits. Gestern Abend habe ich mich an den Computer gesetzt und dann die halbe Nacht durchprogrammiert. Davon kann ich gerade nicht die Finger lassen. Und ansonsten habe ich ja auch einiges zu tun.
Aber so ungefähr darf ich noch andeuten, wohin für mich die Reise geht. In der Auseinandersetzung mit der politischen Kritik hat sich für mich mehr und mehr herausgeschält, dass die Kritik anscheinend von Person zu Person wandert (wie beim Stöckchenspiel), und dass sie vor allem dann gefährdet zu sein scheint, wenn sie an eine bestimmte Person fixiert bleibt. Damit ließe sich auch das Elend vieler politischer Kritiker, aber auch Literaturkritiker erklären, die seit zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren im Geschäft sind. Nun, scheint es ganz sinnvoll zu sein, ein kleines Bestiarium kritischer Archetypen aufzustellen, wozu natürlich in einem weiteren Sinne ein Bestiarium politischer Typen gehört.
Dies ungefähr ist meine Idee.

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