Ich blättere zwischendurch in meinen Notizen zu Judith Butler. Was mir an ihren Texten auffällt, mag ein reines Übersetzungsproblem sein: Butler spricht vom Körper, meint aber, wenn man die philosophische Tradition in Deutschland berücksichtigt, den Leib.
Bilder seiner selbst
Spätestens seit Kant weiß man vom konstruktivistischen Unterbau unseres Welterlebens. Hier wird dann auch die Trennung zwischen Körper und Leib wichtig: der Leib ist die Rekonstruktion des Körpers, der Körper das nicht mehr zu erreichende Reale.
Diese Ansicht kann heute neurophysiologisch bestätigt werden: das Nervensystem innerviert zwar den ganzen Körper, aber durchaus sehr unterschiedlich. Sämtliche Muskeln sind doppelt mit Nerven durchzogen, einmal mit steuernden Nerven und einmal mit sensiblen Nerven, die den Stellungssinn des Körpers ausmachen. Natürlich ist auch die Haut mit Nervenzellen versehen, wobei es hier sensible Zonen (Lippen, Fingerspitzen, …) und weniger sensible Zonen (Rücken) gibt. Dritter im Bunde ist der Gleichgewichtssinn, der sich im Bereich des inneren Ohrs befindet.
Die daraus entstehenden Reize werden als Nervenimpulse an das Gehirn übertragen und dort vom Gehirn zu einem Körperbild rekonstruiert.
Zeit und Handlungsfähigkeit
Ein wesentliches Problem, sowohl der Philosophie wie auch der Neurophysiologie, ist die Rekonstruktion von Zeit. Damit ist auch die Körperzeit gemeint: welche Abfolgen man zum Beispiel braucht, um einen Weihnachtsstern zu basteln, ein Buch zu lesen, ein Buch zu lesen, um seinem Lehrer zu gefallen, ein Buch zu lesen, um danach selbst eins zu schreiben, ein Computerspiel zu spielen, ein Essen zu kochen, usw.
Im Gegensatz zu den einfachen Sinnesdaten sind die zeitlichen Abfolgen sehr viel stärker von den kulturellen Bedingungen geprägt. Und zwischen Menschen werden sie von Anfang an eine zentrale Stellung einnehmen: dazu gehört die Verlässlichkeit, wie die Bedürfnisse eines Neugeborenen befriedigt werden, der Blickkontakt, der Austausch des Lächelns zwischen Bezugsperson und Kind, schließlich all die dialogischen Gesten, die Ersatzleistungen, die von den kompetenteren Personen für das Kleinkind geleistet werden, dem Heranbringen der Kuscheldecke, dem Streicheln des Bauchs, …
Kultur
Die Kultur schreibt sich als Verzeitlichung sinnlicher Daten in den Aufbau des Bewusstseins ein. Zunächst. Denn von Anfang an gibt es auch ein biologisch angelegtes System, welches die Sinnesdaten sozial gewichtet: dies ist das System der geteilten Aufmerksamkeit. Säuglinge zeigen relativ schnell für das Aufmerksamkeit, wofür die Bezugsperson aufmerksam ist. Sie sind offensichtlich in der Lage, den Blick anderer Menschen zu erfassen und diesem zu folgen. Auch dies ist eine Art und Weise, wie sich die Kultur in die biologischen Grundlagen einschleicht und den kleinen Menschen von Anfang an prägt.
Eine dritte, recht grundlegende Prägung wird durch die ersten Symbolisierungen erreicht. Eine Symbolisierung erlaubt Menschen etwas zu bezeichnen, was abwesend ist, aber als vorhanden gedacht werden kann. Diese ersten Symbole scheinen Ordner zu bilden, die den Rest der Sprache um sich herum versammeln und strukturieren. Viel wichtiger aber ist, dass diese Symbole eine andere Form des Miteinander-Handelns erlauben, also eine neue Qualität in den sozialen Beziehungen. Vor allen Dingen sind Dialoge explizit sozial, da sie von etwas handeln, was materiell nicht da ist; zugleich aber sind sie durch die körperliche Präsenz des Gegenübers materiell.
Gewohnheiten
Alles, was man häufig tut, wird gedanklich abgekürzt. Das Gehirn ist ein ökonomisches Organ: wenn es Energie sparen kann, dann spart es diese ein. Wiederholungen werden nach und nach zu Handlungsautomatismen verknappt, die nicht mehr explizit gedanklich begleitet werden müssen. Mir passiert dies zum Beispiel bei bestimmten Telefonnummern: ich kann diese nicht mehr explizit abrufen, aber sobald ich ein Tastentelefon vor mir habe, kann ich sie fehlerlos eintippen.
Vieles, was wir zunächst in der Sozialisation mühsam erlernt haben, wird später zu einer Gewohnheit, von der wird gelegentlich noch nicht einmal mehr wissen, dass es eine Gewohnheit von uns ist, so selbstverständlich gebrauchen wir diese und so selbstverständlich verlassen wir uns auf sie. Ein anderes Beispiel für einen solchen Automatismus ist die Orientierung im Zahlenraum. Kinder müssen sich diesen erst mühsam erarbeiten, mit zahlreichen Fehlern und Verkennungen darin, während die Erwachsenen ihn ohne Nachdenken für komplexere Rechnungen nutzen.
Leibliche Gewohnheiten
So ist der Leib vor allem ein Abbild von Gewohnheiten. Irgendwann haben wir Laufen gelernt, aber wir wissen nicht mehr wie. Wir haben Schreiben gelernt, aber wir denken nicht darüber nach, wenn wir schreiben. Wir ziehen uns an, aber schalten unser Gehirn dabei nur ein, wenn etwas schief läuft. Kleine Kinder dagegen experimentieren mit ihren Socken und Unterhosen herum, sie kommentieren alles, was sie tun, sie zeigen stolz, was sie erreicht haben.
Über all solche Sachen, über familiäre Rituale, individuell gesetzte Ziele (die fixen Ideen kleiner Kinder: das Krokodil im Schrank, das nur nachts herauskommt und das gezähmt werden muss), konstruieren wir unseren Leib zugleich als „fungierende Ontologie“ (Peter Fuchs) und als ausführende Maschine. Wir besetzen den Körper mit Grenzen und unser motorisches System mit Wirkweisen.
Schwierigkeiten mit dem gender
Es ist klar, worauf meine Ausführungen hinlaufen: das biologische Geschlecht insistiert natürlich im Leib. Zugleich aber wird der Körper in seiner Materialität im Gehirn rekonstruiert und dort über Sprache symbolisierbar. Der Leib, so, wie wir unseren Körper denken, ist ein Gemisch aus unterschiedlichen Quellen, aus Sinnesdaten und aus bestimmten äußerlichen Einflüssen. Dass diese äußerlichen Einflüsse, wie zum Beispiel bei der geteilten Aufmerksamkeit, offensichtlich biologisch angelegt sind, heißt nicht, dass sie vom Inhalt her biologisch sind. Hier kann uns Kant helfen: bei ihm werden die Sinnesdaten von der Empfindung geliefert, aber geformt durch die spontane Arbeit der Vernunft. Ersetzen wir das kantsche Vokabular durch ein neurophysiologisches, dann liefert die Aufmerksamkeit eine biologische Form, die mit einem kulturellen Inhalt gefüllt wird.
Häufiger aber ist es umgekehrt: die Sinnesdaten werden von kulturellen Praktiken in eine Form gegossen; sie werden durch gemeinsam und schließlich alleine ausgeübte Handlungen funktionalisiert und in größere (bedingt kulturelle) Zusammenhänge eingebunden.
Damit ist auch das Problem aufgezeigt, welches eine Trennung von biologischem und kulturellem Geschlecht verursacht. Tatsächlich sind diese streng ineinander verwoben.
Heteronormativität
Unter dem Begriff der Heteronormativität werden kulturelle Phänomene verstanden, die keinen eindeutigen Ursprung haben und nicht aus einer Ursache heraus entstehen. Dieser Begriff wird zwar häufig mit dem dekonstruktivistischen Feminismus verbunden, stammt von seinen Gedanken her allerdings aus der Evolutionstheorie Darwins. Hier ist sie allerdings weniger mit der Gesetzmäßigkeit der Evolution im Großen verbunden, als mit der Ökologie: demnach besiedeln Arten bestimmte Milieus und bilden darin Populationen. Diese Population ist an ihr Milieu in einer gewissen Art und Weise angepasst. Nun dringt von außen in dieses Milieu ein Ereignis ein, welches die Population unter Druck setzt und eine stärkere Selektion bewirkt (oder umgekehrt schwächen sich die selektierenden Faktoren ab). Dadurch verändert sich die Population, allerdings nicht aus sich selbst heraus, sondern durch zufällige, ungeplante (nicht-biologische) Ereignisse. So ist ein grundlegender Zug der Evolution, dass sie aus verschiedenen Ursprüngen heraus betrachtet werden muss; sie ist heteronormativ.
Kulturelle Evolution
Auch die kulturelle Evolution muss aus diesem Blickwinkel betrachtet werden: so hat der zunehmende Handel im frühen Mittelalter zu einem stärkeren Austausch zwischen breiteren Bevölkerungsschichten geführt und damit einen Druck auf die Entwicklung von komplexeren Verständigungsmöglichkeiten auf der Basis einer gemeinsamen Sprache ausgeübt. Zugleich hat der Handel Materialien zugänglich gemacht, die vorher häufig nur vom nahe liegenden Kloster oder dem entsprechenden Landesherren zur Verfügung gestellt werden konnten. Damit hat sich nach und nach eine erste „bürgerliche“ Schicht verselbstständigt, die wiederum zu einer allmählichen Ablösung von der lateinischen Sprache geführt hat, zu ersten altdeutschen Dichtungen, zu fahrenden Sängern und hier wieder zu einer neuen Art der Beziehung zwischen Mann und Frau, der höfischen Minne.
An diesem Beispiel, welches ich hier allerdings sehr verkürzt wiedergebe, mag man ermessen, wie bedingungsreich und in wie vielen Wechselwirkungen sich eine Kultur verändert.
Frauenleiber
Die Wechselwirkungen zwischen der Rekonstruktion des eigenen Körpers und der umgebenden Kultur unterliegen historischen Wandlungen. Man kann zwar mit Sicherheit annehmen, dass die Sinneszellen noch genauso funktionieren wie vor 100.000 Jahren, aber die weitere Einbindung, zum Beispiel in Handlungsabfolgen, in der gemeinsamen Gewichtung von Wesentlichem und in der Art und Weise, wie diese dann symbolisiert werden, hat sich in den letzten 2000 Jahren vielfach und zum Teil gravierend verändert. Der Körper der Frau (aber natürlich auch der Körper des Mannes) ist dabei zugleich durch seine insistierenden biologischen Grundlagen und die durch die kulturelle Evolution bewirkten Muster geprägt. Die Leiblichkeit ist insofern heteronormativ.
In den letzten Jahrhunderten hat sich zunehmend der Glaube herausgebildet, dass Frauen dem natürlichen Prinzip näher stünden, dass sie „biologischer“ seien, während Männer das kulturelle Prinzip vertreten: Sie seien „geistvoller“, „intelligenter“, vornehmlich zur Politik, Kunst und Philosophie befähigt. Die neurophysiologische Forschung erschüttert noch einmal diesen Glauben, vielleicht ein letztes Mal im europäischen Denken.
In diesem Sinne verstehe ich auch Judith Butler: Sie erschüttert die Trennung von Natur und Kultur und damit eine alte Begründung für die Trennung und Binarisierung von biologischem und sozialem Geschlecht, die zugleich auch vorzugsweise den beiden biologischen Geschlechtern zugesprochen wird: so sei die Frau das biologisch biologische Geschlecht, während der Mann das sozial-kulturelle biologische Geschlecht sei.
Handlungsfähigkeit
Abgesehen davon, dass die Grenze zwischen sex und gender nicht eindeutig gezogen werden kann, muss sich der Leib der Formung durch die Kultur unterwerfen, da nur so gemeinsames Handeln möglich ist. Wollte man die beiden Formen, den biologischen Körper und den kulturellen Leib (um es hier mal etwas neutraler zu formulieren), radikal voneinander trennen, würde man dem Menschen seine Handlungsfähigkeit nehmen. Er müsste dann auf der einen Seite reine Sinnlichkeit bleiben, und auf der anderen Seite eine reine Form der Handlung ohne Konkretion. Dass ein solches Wesen nur schwerlich gedacht werden kann, zeigt, wie fraglos wir uns als sinnliche und handelnde Subjekte verstehen.
Das Dilemma der Subjektivierung (der Unterwerfung unter kulturelle Formen) besteht also darin, dass ein Mensch nur handlungsfähig werden kann, insofern er sich unterwirft. Die Disziplinierung ist zugleich eine Ermöglichung und Ermächtigung. Erst durch diese ursprüngliche Entmächtigung erlangt das Subjekt die Macht, in seine Umwelt handelnd und steuernd einzugreifen.
Dies schreibt aber auch Judith Butler selbst. Die Entunterwerfung kann deshalb nicht in der Art geschehen, dass man die Kultur komplett von sich abstreift. Vielmehr muss die Kultur nach und nach verschoben werden, wenn man hier andere Formen der Unterwerfung etablieren möchte, eventuell, und darauf scheint es hinauszulaufen, mehr Wahlmöglichkeiten in der Subjektivierung.
Gender und Leib
Ein schwerwiegenderes Problem ist die Abgrenzung von gender und Leib. Beides sind Rekonstruktionen, und indem man den Leib als die Gesamtheit der körperlichen Rekonstruktion versteht, darf man hier zunächst, vielleicht etwas naiv, annehmen, dass der Leib, bzw. das Körperbild, den umfassenderen Zusammenhang bildet. Aber auch dann dürfte es schwierig sein, hier eine Grenze zwischen dem nicht-geschlechtlichen (gleichwohl konstruierten) Leib und dem geschlechtlichen Leib zu ziehen.
Hier sehe ich tatsächlich eine Theorielücke bei Butler: diese Grenze wird bei ihr nicht erörtert. Dabei wäre gerade dies ebenfalls spannend, da sich hier Strategien der Sexualisierung und Entsexualisierung auffinden lassen könnten.
Körper und Leib
Weil sich das Nervensystem ökonomisch vom restlichen Körper abgekoppelt hat (eine Bedingung dafür, dass es funktioniert), aber strukturell darauf bezogen bleibt, mischen sich in der Rekonstruktion des Leibs verschiedene Funktionen: der Körper insistiert durch seine Sinnlichkeit, das Gehirn reduziert und automatisiert aufgrund ökonomischer Bedingungen, und schließlich rhythmisiert die Kultur die Verarbeitung von Sinnesdaten (vermutlich zunächst in Bezug auf die grundlegende Bedürfnisbefriedigung).
Da wir unser Weltbild in unserem Gehirn konstruieren, bleibt der direkte Zugang zu unserem Körper versperrt. Insofern ist ein direkter Durchgriff auf die biologischen Funktionen nicht möglich; hier muss es eine soziale Vermittlung geben. Dies meint Butler damit (wenn auch durch andere Argumente gestützt), dass das biologische Geschlecht schon immer kultiviert sei (the sex is already gendered).
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