02.02.2016

Feinstoffliche Grenzen

Ich gestehe.
Was? – Ich habe zahlreiche Bücher von Sloterdijk gelesen; ich mag seine Bücher, ich mag die Art, wie er schreibt, ich mag, was er schreibt. Gerade habe ich mir sein Buch Eurotaoismus zugelegt. Hineingeschaut habe ich noch nicht. Die Geometrie, bzw. die Mathematikdidaktik, ihr wisst schon, ihr kennt meine Klagen.

Flüchtlingspolitik

Nun meldet sich Peter Sloterdijk zur Flüchtlingspolitik zu Wort, behauptet einen Souveränitätsverzicht und konstatiert eine Überrollung Deutschlands. Man habe, so lese ich, das „Lob der Grenze“ nicht gelernt, in Deutschland. Und man glaube, in Deutschland, „eine Grenze sei nur dazu da, um sie zu überschreiten“.
Ich kann mich nicht zu den größeren politischen Implikationen Sloterdijks äußern. Gerade weil ich Sloterdijk mag, gerade weil ich aber auch seine Äußerungen für „schwierig“ halte, spüre ich meine geradezu katastrophale Unbelesenheit, was politische Denker betrifft. Und was das Wort „schwierig“ angeht, so ist dies natürlich nur ein Hilfsmittel, um mich aus der Affäre zu ziehen. Flüchtling, der ich bin. Flüchtling im Lande der rhetorischen Analyse, weil ich in der politischen Philosophie nicht oder zu wenig beheimatet bin.

Grenzen

Seltsamerweise hat mir meine Ex-Frau eine Erfahrung ermöglicht, die, wie viele der Erfahrungen, die sie mir ermöglicht hat, unangenehm ist, die für mich aber sehr fruchtbar war. Damals, als sie noch meinte, kommunistisch zu sein (aber der Übergang zum paranoiden und faschistischen Denken war ihr längst gelungen), besuchten wir die Rosa-Luxemburg-Konferenz in Frankfurt. Und dort hielt ein Irgendwer eine Vorlesung über ein Irgendwas, in der er scharf die nationalen Grenzen Deutschlands angriff.
In der darauf folgenden Diskussion warf ich ihm vor, dass er die Grenzen zu materialistisch denken würde. Die Grenzen des Nationalstaates sind eben nicht durch ein Territorium, einen konkreten Boden, definiert. In der anschließenden Beschäftigung mit dem, was Grenzen überhaupt sein können, konnte ich zumindest formulieren, dass die Grenzen des Nationalstaates auf der einen Seite natürlich materialisiert worden sind, aber dies nur zu einem kleinen, geradezu lächerlich geringfügigen Detail. Der größere Teil eines Nationalstaates schafft sich seine Grenzen über Gesetze, Zugänglichkeit, Mitwirkungen.
So gesehen sind Grenzen nicht materiell verfügbar, sondern über Kommunikation geschaffen. Selbst semantische Oppositionen (zum Beispiel Mann/Frau oder Deutscher/Ausländer) sind noch zu grob gedacht: dahinter stehen immer Strukturen, die sich aus Operationen bilden und eigendynamisch entscheiden, was dazu gehört und was nicht. Anscheinend halten es solche Strukturen aber nicht aus, feinstofflich zu sein. Sie imaginieren sich eine Materialität. Und so scheint es das Schicksal von Sloterdijk zu sein, dass er seine eigenen wortgewaltigen Analysen der politischen Metaphorik nicht aushält und in die groben Gefilde eines vulgären Marxismus zurückfällt.
Grenzen, um nicht einfach nur bei einer Polemik stehenzubleiben, sind immer Grenzen von irgendwem. Sie werden besetzt und besessen, nicht aufgrund einer physikalischen Eigenschaft, sondern aufgrund einer konstruierten Bedeutung. So, wie Sloterdijk sich im Moment äußert, referiert er aber auf materialisierte Grenzen, die a priori bestehen. Und genau so funktionieren die Grenzen des Nationalstaates eben nicht. Sie sind feinstofflich, operationalisiert. Sloterdijk müsste dies eigentlich wissen.

Materialismus

Was hatte man Niklas Luhmann nicht alles vorzuwerfen! Neoliberal sei er, unpolitisch. Doch einmal mehr bewundere ich ihn dafür, dass er es geschafft hat, die Gesellschaft auf Ereignisse zurückzuführen, sie an ihre eigenen Ereignisse zu binden, nicht an ihre Materialität. So spielt der Nationalstaat bei Niklas Luhmann lediglich eine Rolle, solange er eine Idee ist. Er ist ein kommunikatives Ereignis, keine materielle Tatsache. Sloterdijk, der Luhmann scharf angegriffen hat (und zu Recht), scheint dies vergessen zu haben. Seine jüngsten Aussagen spielen einem Materialismus, der so selbst nicht von Karl Marx vertreten wurde, in die Hände. Dies beginnt mit der Aufforderung, ein Staatsoberhaupt (Angela Merkel) solle die Souveränität eines Staates garantieren. Und endet längst nicht damit, es gäbe so etwas wie ein „deutsches Bewusstsein“, welches von „Flüchtlingen“ überrollt werden könne.

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