19.04.2014

Auch eine Art von Krimi: Kindeswohl und Kindesmissbrauch

Hatte ich vor einigen Wochen geschrieben, dass ich Krimis nicht mehr so spannend finde, weil ich ihre Machart zu gründlich studiert habe? Nun, das stimmt auf zweierlei Weise nicht ganz. Ich lese durchaus immer noch Krimis, wobei ich mich gerne von einer außergewöhnlichen Sprache begeistern lassen, wie zum Beispiel bei Dashiell Hammett oder Zoe Beck.
Krimis allerdings sind auch manche Begrifflichkeiten und die Diskussion dieser Begriffe und Begriffsgefüge.

Kategorisierung

Ein nebenher laufendes Projekt ist, auch das hatte ich neulich schon einmal geschrieben, diese seltsame Annahme, ein Mensch sei irgendwann mündig, so aus heiterem Himmel. Aufgeschreckt hat mich übrigens Judith Butler mit folgender Passage:
Dahinter steht die vollkommen berechtigte Annahme, dass Kinder nicht die Last auf sich nehmen müssen, Helden einer Bewegung zu sein, ohne zu einer solchen Rolle ihre Zustimmung als Mündige geben zu können. In diesem Sinne ist die Kategorisierung angebracht und kann nicht auf Formen eines anatomischen Essentialismus reduziert werden.
Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2011, Seite 21
Diese Passage steht in einer Diskussion zum gesellschaftlichen Status von Intersex-Kindern, also jungen Menschen, die beiderlei Geschlechtsmerkmale besitzen. Zunächst hatte mich dieser Begriff der Kategorisierung aufmerken lassen. Doch hier ist Butler ziemlich klar. Sie argumentiert nämlich relativ zu der herrschenden Meinung, dass Menschen immer eindeutig männlich oder weiblich sein müssten. Das begrüßt sie natürlich nicht, aber sie schreibt eben, dass gerade solche Kinder, bei denen diese Zuordnung eindeutig nicht zutrifft, diesen Kampf trotzdem nicht ausfechten müssen.

Mündigkeit

Das eigentliche Problem an dieser ganzen Passage verläuft vollständig anders. Mündigkeit bezieht sich als Begriff auf ein vollständig entwickeltes Subjekt. So zumindest darf man das Kant unterstellen. Jene Aufklärung, die Kant postuliert, ist eine Aufklärung unter freien, sich einer Logik und einer offenen Aussprache bedienenden Menschen. Die Logik ist, wie man seit langer Zeit weiß, durch eine bestimmte Rhetorik korrumpiert. Man höre hieraus den vielleicht damals noch deutlich schärfer klingenden Missklang, als Nietzsche mit seinem Willen zur Macht die Bastionen einer protestantisch geprägten Vernunft erstürmte. Die offene Aussprache, die parrhesia, ist von den falschen Propheten und den Massenmedien so gründlich Lügen gestraft worden, dass man sich nur noch sehr vorsichtig aus diesem Bereich mit Informationen versorgt. Besser nennt man sie wohl Anregungen und prüft, welche Zeitung und welcher Reporter lange genug verlässliche und gründliche Aufarbeitung der Informationen bereitstellt.
So aber haben sich in den letzten 200 Jahren wichtige Begleiter jener Mündigkeit verabschiedet, auf die sich Butler hier bezieht. Deshalb erscheint dieser Begriff wie ein seltsamer Fremdkörper im ganzen Text. Butler lehnt zwar (zu Recht) den anatomischen Essentialismus ab, führt hier allerdings eine Art juridischen Essentialismus fort. Dass dieser ganze Passus tief in den Begriff des Kindeswohls eingreift, dürfte klar sein.

Kindeswohl

Wenn aber die Mündigkeit auf eine etwas seltsame Art und Weise gegeben wird, stellt sich natürlich auch die Frage, ob sie gerecht gegeben wird und was vorher passiert, was als mit dem Begriff des Kindeswohls aufgefangen und ausgedrückt werden soll.
Nun hat Kant selbst eine sehr starke Lösung eigentlich schon vorgegeben. Er definiert Aufklärung nämlich als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und definiert weiter selbstverschuldet als auf Faulheit oder Feigheit beruhend:
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. (Kant XI, 53)
In einem sehr groben Sinne kann man den Verstand als die Fähigkeit bezeichnen, Begriffe zu erschaffen und argumentativ zu überprüfen. Begriffe erschafft man aus der Sache heraus, nicht, indem man sich auf andere verlässt (auch wenn damit eine Art Unmöglichkeit bezeichnet wird angesichts der Komplexität der Welt). Und die argumentative Überprüfung bedeutet, dass man nicht wütend verteidigt, was man sich einmal erarbeitet hat, sondern sachlich überprüft, ob das eine oder andere Argument den Begriff eine deutlich andere Kontur gibt und man lieb gewonnene Überzeugungen aufgeben muss.

Es scheint mir, dass dort Kinder mündiger sind als mancher Erwachsene.

Kindesmissbrauch

Am Rande meiner Beschäftigung mit diesem Problem der Mündigkeit und auch dem Problem der Fürsorgepflicht und dem Kindeswohl tauchen immer wieder tagesaktuell Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch auf.
Der Fall Edathy ist noch in lebhafter Erinnerung. Ich habe mir zu diesem Fall nur eine vorsichtige Meinung gebildet, nicht, weil ich Kinderpornographie vielleicht doch noch irgendwie akzeptieren könnte (kann ich nicht), sondern weil ich die Unschuldsvermutung für ein wichtiges Prinzip des Rechtsstaats halte und diese nicht bei der ersten Unsicherheit über Bord werfen möchte.
Man erinnert sich vielleicht auch an die Odenwald-Schule. Hier hat es schon mehrfach deutliche Erschütterungen gegeben. Jetzt ist ein Lehrer fristlos entlassen worden, nachdem die Polizei seine Räumlichkeiten in der Schule wegen Verdachts auf Besitz von Kinderpornographie durchsucht hat. Es gibt im deutschen Gesetz zweierlei Strafmaß: einmal für Kinderpornographie bei Kindern unter 14 Jahren und einmal bei Kinderpornographie mit Kindern zwischen 14 und 18 Jahren. Ganz glücklich bin ich mit dieser Regelung nicht, halte sie aber für vertretbar, weil sich bei den älteren Kindern manchmal wirklich schlecht auf Augenschein das Alter feststellen lässt.
Trotzdem finde ich es bizarr, wenn sich ein Mann mittleren Alters an dem Geschlechtsverkehr mit einer deutlich jüngeren Person vergnügt, und sei es auch nur durch Darstellung.
Dem Lehrer ist nun gekündigt worden. Das finde ich auch sehr in Ordnung, weil Lehrer einer erhöhten Pflicht zur Fürsorge unterliegen und damit einer erhöhten Achtsamkeit gegenüber eigenen, womöglich in das Kindeswohl eingreifende Wünsche. Hier muss der Erziehende jeden Vollzug, aber auch jede Andeutung eines sexuellen Verhältnisses entgegentreten, auch wenn dieses von dem Zu-Erziehenden gewünscht wird. Ebenso ist es ein Recht der Eltern und Kollegen, solchen Andeutungen entgegenzutreten, damit sie nicht zu festsitzenden Meinungen werden.

Sehr viel krasser allerdings ist der Fall einer Schule in Florida, die bereits 2011 deswegen geschlossen wurde. Hier sind Kinder systematisch gedemütigt, gefoltert und missbraucht worden. Man hat in dem fast hundertjährigen Bestehen der Schule bisher 33 Fälle des gewaltsamen Todes vermutet. In der Aufarbeitung dieser Fälle wird mittlerweile die Zahl 57 genannt. Egal, wie hoch nun die Anzahl der Todesopfer tatsächlich ist, ist das eine extrem erschreckende Nachricht. Gerade in der Pädagogik sollte man sich doch klar darüber sein, dass eine gute Erziehung der Kinder nur in sehr außergewöhnlichen Fällen die Ausübung von Gewalt rechtfertigt. Ich denke hier an extrem verwahrloste Kinder, bei denen eine starke Strukturierung des Tages mit deutlich empfindlichen Strafen notwendig erscheint, auch wenn man dies immer kritisch überprüfen sollte, ob man hier im Sinne eines Kindeswohls gehandelt hat.
Doch diese letzten Fälle, bei denen ich im Zweifel wäre, dürften wohl pro Jahrgang ganz wenig Kinder betreffen. Mir selbst sind solche Kinder noch nicht vor die Nase gekommen, obwohl ich als Verhaltensgestörtenpädagoge eher mit solchen Kindern zu tun haben müsste.

Vielfältige Fragen

Vielleicht mache ich es mir bequem, wenn ich die aktuelle Regelung in Fällen des Kindesmissbrauchs für ausreichend und sinnvoll halte. Ich hatte mich bereits in der Vergangenheit oftmals damit beschäftigt. Für mich ist dieses Thema wichtig geworden, als ich mich mit 16 Jahren in eine Flötistin verliebt hatte, die ich am Klavier begleitet habe (zu der fantastischen Bauernsuite von Bela Bartok für Klavier und Blockflöte). Für meine damaligen Verhältnisse war dieses Mädchen komisch. Ich habe dann ihren Vater kennen gelernt und wie so oft festgestellt, dass man das Verhalten von Kindern nicht befremdlich finden sollte, solange man nicht die Eltern kennen gelernt hat. Der Vater war unglaublich autoritär. Vier Jahre später bin ich erneut auf ein solches Mädchen gestoßen. Und hier konnte ich mit meiner damaligen Freundin darüber reden, die dann (nicht zu Unrecht, wie ich denke) einen sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie vermutet hat. Damals war ziemlich frisch das Buch Zart war ich, bitter war's auf den Markt gekommen und das habe ich für meine damaligen Verhältnisse gründlich gelesen.

Gute Erziehung

Heute, 20 Jahre später, haben sich für mich die Fragen nach einer guten Erziehung und nach einem guten Schutz vor Missbrauch von Kindern vervielfältigt. Es gibt zahlreiche Spannungslinien, wie zum Beispiel die Fürsorgepflicht der Eltern, die durchaus in die Mündigkeit der Kinder eingreifen darf und muss und wo alles auf die Frage hinausläuft, wie diese Mündigkeit sich entwickelt und welchen Raum man ihr geben muss. Dazu gehört auch der natürliche Umgang mit dem Körper und die Entdeckung der eigenen Sexualität, die sich manchmal sehr deutlich ebenfalls mit der Fürsorgepflicht schneidet. Ebenso empfinde ich meine Ablehnung der Kinderpornographie, aber meine Befürwortung der Unschuldsvermutung als einen solchen Missklang.
Und ein weiterer Missklang ist auch, dass ich den Schutz eines Kindes vor einer akuten Gefährdung oder einem akuten Missbrauch für sehr dringlich halte, also für eine Sache, die einer raschen Lösung bedarf, mir selbst aber das Recht herausnehmen, ein endgültiges Urteil immer wieder aufzuschieben und immer wieder neue Fragen aufzuwerfen.

Keine Kommentare :