Letzte Woche habe ich mich daran gemacht, den dritten Band von Harry Potter auf die ›Verrätselung‹ durchzukommentieren. Mit Verrätselung bezeichne ich all die Textabschnitte, die sich auf ein Rätsel oder Geheimnis beziehen. Der französische Philosoph und Semiologen Roland Barthes nennt dies: hermeneutischer Code.
Zu den Ergebnissen, die Barthes in seinem Buch S/Z vorstellt, gibt es wenig zu sagen (oder im Gegensatz: sehr viel). Die Verrätselung ist eng an die Argumentation gebunden, vor allem aber an die Misshandlung der Argumentation. Dies werde ich hier nicht vorstellen (zu Argumentation als Grundgerüst eines Krimis siehe Krimis plotten und schreiben: Spuren, Indizien, Rätsel).
Mir ist bei der Lektüre von S/Z allerdings eine rhetorische Figur über den Weg und in die Hände gelaufen: die Antithese. Die Antithese wird von Barthes im Rahmen des ›symbolischen Codes‹ abgehandelt; mir ist allerdings ihr Bezug zum Spannungsaufbau bei der Arbeit an Harry Potter sehr viel deutlicher geworden.
Die Antithese
Was ist eine Antithese? In meiner Liste der rhetorischen Figuren definiere ich diese folgendermaßen:
Zusammenstellung eines Widerspruchs oder einer entgegengesetzten Entwicklung: „Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein.“, „Die linke Hand würgt ab, was die rechte zu ernähren sucht.“
Heinrich Plett gibt in seiner Systematischen Rhetorik folgendes Beispiel einer Antithese (von Schiller):
"Zeigt mir der Freund, was ich kann, lehrt mich der Feind, was ich soll, …"
Und hier wird deutlich, dass die Antithese nicht nur einen Widerspruch formuliert, sondern dass sie zuallererst zwei Merkmale parallelisiert: im letzten Fall (dem Zitat von Schiller) zum Beispiel "Freund" mit "können". Und ebenso wird "Feind" mit "sollen" gebündelt.
Die Parallelisierung
Zwischen den beiden semantischen Wirkungen der Antithese besteht ein Wechselverhältnis: Sie setzt einige Merkmale in eine Opposition zueinander, indem sie diese trennt; und zugleich verbindet sie die Merkmale, die "auf der gleichen Seite" stehen.
Sehen wir uns das an einem Beispiel an, an dem Beispiel, mit dem auch Roland Barthes seine Erläuterung veranschaulicht:
Ich war in eine jener tiefen Träumereien versunken, wie sie jeden, auch einen frivolen Menschen, inmitten noch so rauschender Feste erfassen. Die Uhr des Elysee-Bourbon hatte gerade Mitternacht geschlagen. In einer Fensternische sitzend und hinter den herabwallenden Falten eines Moirévorhangs verborgen, konnte ich nach Belieben den Garten der Villa betrachten, in deren Räumen ich den Abend verbrachte. Die vom Schnee nur unvollkommen bedeckten Bäume hoben sich schwach von dem graugetönten Hintergrund ab, einem wolkenverhangenen Himmel, den der Mond mit fahlem Weiß überzog. In dieser phantastischen Umgebung schienen sie irgend wie Gespenstern gleich, kaum verhüllt in ihren Grabtüchern; ein gigantisches Bild von dem berühmten Totentanz. Wenn ich mich dann nach der anderen Seite wandte, konnte ich den Tanz der Lebenden bewundern. Ich blickte in einen herrlichen Salon mit gold- und silberschimmernden Wänden, strahlenden Kronleuchtern, von Kerzen in Glanz getaucht. Dort wogten und schwärmten hin- und herflatternd die hübschesten Frauen von Paris, die reichsten, mit höchsten Titeln geschmückten, glanzvollsten, prunkend im Gefunkel ihrer Diamanten, mit Blumen auf dem Kopf, an der Brust, im Haar, über die Kleider hingestreut oder an ihren Füßen zu Girlanden gewunden. Sanftes Erzittern, wollüstige Schritte ließen die Spitzen, die Seidenstickereien, den Musselin um ihre zarten Gestalten wallen. Hier und dort drangen allzu lebhafte Blicke durch, ließen die Lichter das Feuer der Diamanten verblassen und brachten schon entfachte Herzen zur Glut. Auch war manche bedeutungsvolle Kopfbewegung, die dem Liebhaber galt, zu erspähen und ablehnende Gesten gegenüber dem Ehegatten. Die Stimmen der Spieler, die bei jedem überraschenden Wurf lauter wurden, das klingende Aufschlagen der Goldstücke mischten sich mit der Musik und dem Gemurmel der Unterhaltungen. Um diese von allem, was die Welt an Verführungen bieten kann, trunkene Menge noch mehr zu betäuben, wirkten eine Wolke von Düften und der allgemeine Taumel auf die betörte Einbildungskraft ein. So hatte ich zur Rechten das düstere, schweigende Bild des Todes, zu meiner Linken die sittsamen Bacchanale des Lebens; hier in ihrer Trauer die kalte, trübsinnige Natur, dort von Freude erfüllte Menschen. Ich selbst, der ich mich auf der Grenze zwischen zwei so ungleichen Bildern befand, die, auf mannigfache Weise wiederholt, Paris zu der amüsantesten und am meisten zum Philosophieren anregenden Stadt machen, fühlte es in mir wie ein Sammelsurium, halb Lust und Betrübnis. Mit dem linken Fuß folgte ich dem Takt der Musik, den rechten glaubte ich schon im Grabe zu haben. Tatsächlich war mein rechtes Bein eiskalt von der Zugluft, die einem die eine Körperhälfte gefrieren lässt, während die andere die feuchte Hitze der Salons verspürt. An Ballabenden kommt das häufig vor.(zitiert nach Barthes, Roland: S/Z. Frankfurt am Main 1994, Seite 217; dies ist der Beginn der Novelle Sarrasine von Honoré de Balzac)
Die Vermischung der Antithese
Balzac verteilt hier nicht nur geschickt die Merkmale einer Antithese, sondern führt auch deren mögliche Vermischung ein: besonders stark ist natürlich die Grenzposition vom Körper des Erzählers: dieser ist in sich selbst zerrissen: Lust und Betrübnis, Hitze und Kälte, Musik und Grab.
Zu Beginn dieser Passage gibt uns Balzac allerdings einen ganz anderen Körper, der ebenfalls eine Vermischung darstellt: das ist der Moirévorhang. Ein Moiré ist ein Stoff, der aus zwei verschiedenen Farben gewebt ist. Je nach Lichteinfall tritt die eine oder die andere Farbe hervor. Nun ist ein Text selbst ein Moiré: je nachdem, wie er interpretiert wird, erhält der Text eine andere Färbung. Der Erzähler und der Leser sind in dieses Moiré verstrickt; die Erzählung besteht nicht darin, die Antithese aufzulösen. Die Ausnahme ist natürlich das Ende der Erzählung: Gerade in Spannungsromanen wird der Feind überwunden, der Mörder gestellt; die Geschichte endet im Idyll (Idylle = Abwesenheit der Antithese).
Doch die Lust an der Erzählung besteht dann nicht darin, dass der Protagonist seine Belohnung und seinen Frieden erhält, sondern im Kampf gegen den Bösewicht; dies kann man als ein "Abschmecken" der Antithese bezeichnen: mal überwiegt die eine Seite der Antithese, mal die andere.
Das Zitat von Balzac führt noch drei weitere Vermischungen ein: die Träumerei, in die der Erzähler versunken ist, und die diese Betrachtung erst "ermöglicht"; dann das Amüsement (die Antithese macht Paris zu der amüsantesten Stadt) und die Philosophie (die potentiell die Antithese aufhebt).
Kontrast und Opposition
Als Kontrast bezeichne ich sinnliche Unterschiede: Grün steht im Kontrast zur Farbe Rot; das laute Geräusch steht im Kontrast zum leisen Zischen.
Eine Opposition dagegen beinhaltet eine Wertung: ehrlich und unehrlich, arm und reich, gut und böse. Solche Oppositionen lassen sich nicht direkt wahrnehmen, sondern nur aus der Wahrnehmung erschließen. Wird die eine Seite einer Opposition bevorzugt, handelt es sich um eine hierarchische Opposition (oder einfach: Hierarchie); wird die eine Seite der Opposition als gefährlich oder schädigend wahrgenommen und implizit oder explizit als auszumerzend bezeichnet, geraten wir in den Bereich der paranoiden Opposition (dem Freund-Feind-Denken). Allerdings bezieht sich die paranoide Opposition immer auf deutlich soziale Phänomene: Rauchen zum Beispiel ist äußerst schädlich; wer gegen das Rauchen ist, ist noch lange nicht paranoid.
Antithese: Oppositionierung
Die Antithese verknüpft nun Wertungen mit Kontrasten. Anders gesagt: Sie führt die Wertung in die sinnliche Welt ein. Der Garten der Villa (in der Novelle von Balzac) wird zum Ort des Todes, der Salon zum Ort des (überschäumenden) Lebens. Besonders deutlich wird dies an der Gegenüberstellung von "Totentanz" und "Tanz der Lebenden".
Die Verteilung der Antithese
Schaut man sich an, wie Rowling die Antithese nutzt, so findet man einen gleichen Gang, nur mehr oder weniger über den Text verstreut: im dritten Band taucht zum Beispiel ein Hund auf und die Frage ist, was dieser Hund in Wirklichkeit ist und was er will. Zunächst verwechselt Harry ihn mit dem Grimm, der in der Zaubererwelt ein Todesomen ist, ein Gespensterhund, der auf Friedhöfen spukt und all denjenigen erscheint, die bald sterben. Dann wird aber irgendwie deutlich, dass dieser Hund etwas anderes ist. Schließlich stellt sich heraus, dass er die Gestalt von Sirius Black ist, die er als Animagus (dies sind Zauberer, die sich in ein bestimmtes Tier verwandeln können) annehmen kann. Durch eine weitere Verwechslung erscheint Sirius Black als böse; in Wirklichkeit ist er gut.
All dies wird über den Text verstreut. Schauen wir uns eine bestimmte Stelle an, die erste, in der der Hund auftaucht und wie Rowling hier eine Bedrohung andeutet und in die "sinnliche" Welt eingeführt:
Ein komisches Prickeln im Nacken gab ihm das Gefühl, er würde beobachtet. Doch die Straße schien immer noch menschenleer und kein Fenster der großen, quadratischen Häuser war erleuchtet. Er beugte sich wieder über seinen Koffer, doch fast sofort stand er erneut auf, die Hand um den Zauberstab geklammert. Er ahnte es eher, als dass er es hörte: Jemand oder etwas stand hinter ihm, im schmalen Durchgang zwischen dem Zaun und einer Garage. Harry spähte in die Dunkelheit hinein. Wenn es sich nur bewegen würde, dann würde er sehen, ob es nur eine streunende Katze war - oder etwas anderes. »Lumos«, murmelte Harry und an der Spitze seines Zauberstabes erschien ein Licht, das ihn fast blendete. Er hielt den Zauberstab hoch über den Kopf, und die rau verputzten Mauern von Nummer zwei glitzerten plötzlich; die Garagentür schimmerte und dazwischen sah Harry ganz deutlich die mächtigen Umrisse von etwas sehr Großem mit weit aufgerissenen, glühenden Augen. Harry wich zurück - er stieß mit dem Bein gegen seinen Koffer und stolperte.(Harry Potter und der Gefangene von Askaban, Seite 37-38)
Zunächst schwingt in der Phrase "komisches Prickeln im Nacken" etwas wie eine Bedrohung mit, allerdings äußerst flüchtig. Auch das "beobachtet werden" konnotiert eine schlechte Absicht: wer jemanden heimlich beobachtet, möchte meist einen Vorteil zu erringen; vom Standpunkt der Erzählung aus gesehen gehört er damit auf die andere Seite der Antithese, der Seite, die den Protagonisten bedroht. Harrys Gefühl wird ein zweites Mal beschrieben.
Dann kommt eine erste Beschreibung dieser "Bedrohung": "die mächtigen Umrisse von etwas sehr Großem mit weit aufgerissenen, glühenden Augen". Das Gestaltlose oder wenig Gestaltete ist die klassische Gestalt des Gespenstes (dies jedenfalls schreibt Brittnacher in seiner Ästhetik des Horrors). Doch wir kennen das auch aus dem Alltag: plötzlich befindet sich irgendetwas in unserer Umgebung, was dort nicht hingehört und von dem wir nicht wissen, welchen Sinn es macht: wir sind fasziniert und abgestoßen zugleich.
So ist ein typischer Kontrast, der in Filmen gerne benutzt wird, der Bettler, der plötzlich in einer Situation mit wohlhabenden Menschen auftaucht, siehe zum Beispiel "City Lights" von Charlie Chaplin oder auch "Stirb an einem anderen Tag" aus der Bond-Reihe. Diese Menschen (also die Bettler) sind keine "wirklichen" Menschen, sondern Gespenster, die auf unheimliche Weise durch den Reichtum gleiten und diesen heimsuchen.
Als drittes fungieren die "weit aufgerissenen, glühenden Augen" als Anspielung auf die Gier. Man denke hier an den Wolf aus dem Märchen "Rotkäppchen". Auch die Gier verweist auf eine Gefahr: sofern sie sich auf den Protagonisten richtet, bedroht sie ihn, möchte ihn im wörtlichen oder übertragenen Sinne auffressen.
So verbildlicht Rowling die Antithese. Und durch diese Verbildlichung werden zunächst keine scharfen Oppositionen eingeführt, sondern der Konflikt eher "angespielt" und angedeutet (vergleiche: Metaphorik. Strategien der Verbildlichung).
Die Bedrohung
In einer Erzählung wird eine Bedrohung etabliert, wenn es (a) eine Antithese gibt, (b) diese Antithese hierarchisch gegliedert ist (meist ist der Protagonist moralisch legitimiert) und (c) die andere Seite der Antithese (der Feind, der Gegner) die Möglichkeit hat, diese Antithese zu seinen Gunsten zu entscheiden oder aufzulösen: der Mörder kommt unbestraft davon, der weiße Ritter verliebt sich doch in Gabi, der dunkle Herrscher vernichtet die verteidigenden Armeen.
Der Erzähler hat die Aufgabe, eine Antithese in seine Geschichte einzuflechten und diese immer wieder mit der erzählten Welt zu parallelisieren. Er hat die Aufgabe, den Protagonisten bedrohende Handlungen zu schildern und welche Handlungen der Protagonist ausführt, um diese Bedrohungen abzuwehren. Schließlich muss der Erzähler den Sieg über den antithetischen Zustand schildern.
Das sind freilich nur ganz grobe Schemata: in Endzeit-Romanen zum Beispiel gibt es keinen wirklichen Sieg, sondern nur ein vorläufiges Entkommen, siehe zum Beispiel Zombie-Romane.
Schluss
Der Spannungsaufbau enthält noch einige weitere Elemente. Ich habe hier nur kurz (und mit recht wenigen Beispielen) die überaus wichtige Antithese herausgegriffen; ich habe allerdings beiseitegelassen, dass ein guter Spannungsroman nicht nur aus einer Antithese besteht, sondern meist mehrere vereint und sich diese Antithesen in zentrale und periphere aufteilen lassen. Ich habe die Technik der falschen Antithese nicht genauer beschrieben: so wird der Hund, der im dritten Band von Harry Potter auftaucht, falsch beschrieben, nämlich als unheimlich und vermutlich feindselig, obwohl er in Wirklichkeit gut ist. Es gibt außerdem eine enge Beziehung zu dem Rätsel (und der Verrätselung von Geschichten) und zu dem, was ich seit zwei Wochen die leere Metonymie nenne.
Was diese Beziehung zwischen der Antithese und dem Rätsel angeht, so sehe ich hier noch nicht wirklich klar, bzw. habe noch keine klare Darstellung gefunden. Das liegt unter anderem auch daran, dass das narrative Rätsel (zum Beispiel: was ist das für ein Hund?) durch eine gewisse Missachtung von Argumentationsschemata erzeugt wird: es gibt aber keine Typologie von Argumentationsbrüchen, zumindest nicht für die narrative Argumentation. An dieser Typologie arbeite ich gerade. Aber es wird noch einige Zeit dauern, bis ich hier zu einem brauchbaren Ergebnis gekommen bin.
2 Kommentare :
das ist ja wohl das blödsinnigste, was ich jemals glesen habe: wenn sie keine Ahnung haben, warum schreiben sie dann davon?
Lieber Anonymus!
Wer sagt denn, dass ich keine Ahnung "davon" habe? Von was eigentlich? Worauf beziehen Sie sich?
Und: Spezifizieren Sie blödsinnig.
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