Individuelle Förderung ist für die meisten Schulen verpflichtend. Doch wenn sie überhaupt umgesetzt wird, dann zu oft als Ausgleich von Defiziten.
Schulen und Lehrer haben eine ganze Menge Probleme im Alltag.
Die Sündenbockfunktion von Lehrern ist bekannt. Spätestens seit PISA aber erhöht sich der soziale und politische Druck auf Lehrer. Häufig wird von ihnen eine Unmenge an Kompetenzen abverlangt, die die Fordernden selbst nur zu einem kleinen Teil erfüllen können.
Eine dieser Kompetenzen ist die individuelle Förderung.
Förderung als Ausgleich von Defiziten
Altbekannt und am häufigsten praktiziert wird die Förderung, die Lerndefizite der Schüler ausgleichen soll. Ebenso alt ist die Kritik an dieser Art der Förderung. Und manchmal bleibt Verhaftetsein in der altbekannten defizitorientierten Förderung und dem Proklamieren einer völlig anderen Art des Förderns in einer kruden Widersprüchlichkeit nebeneinander bestehen.
Dies kann man an Lernentwicklungsplänen sehen, die sich deutlich von einer defizitären Förderung abheben wollen, und dann doch damit anfangen, aufzuzählen, was ein Schüler alles nicht kann.
Förderung und die Blindheit für Entwicklungen
Man trifft aber auch Gegenbeispiele. Der Lehrer (oder die Erzieherin) findet alles ganz toll. Alles kreativ, produktiv, supi, klasse, toll.
So viel Lob unterscheidet sich kaum von einem Schlag ins Gesicht.
Wenn Kinder auf die Welt kommen, orientieren sie sich an Problemen. Das Gehirn ist so strukturiert, dass es nicht nur mit Problemen umgehen kann, sondern sie geradezu sucht. Kinder erfahren also von Anfang an, dass sie nicht einfach nur super sind. Sicher, Kinder wollen geliebt werden und wenn möglich ohne Wenn und Aber. Wer aber Probleme schlichtweg leugnet, leugnet auch die Entwicklungserfahrung der Kinder und damit einen wesentlichen Bestandteil ihrer Identität.
Aus der Erfahrung mit Strategien des Mobbings weiß man, dass eine wichtige Strategie das Verleugnen von Entwicklungen, problematischen Entscheidungen, Problemen und Irrtümern ist. Dann muss man sich fragen, ob dieses bedingungslose Gutfinden des Kindes tatsächlich etwas anderes ist als Mobbing.
Und man kann gleich eine Frage an dieses Problem dran hängen: ist die Defizitorientierung, wie viele Schüler an den Tag legen, nicht doch eher eine Problemorientierung, die wir Erwachsenen nicht richtig wahrzunehmen gelernt haben?
Was aber kann dann individuelle Förderung sein?
Individuelle Förderung hängt von individuellen Entwicklungen ab. Individuelle Entwicklungen, man sollte meinen, dass dies selbstverständlich ist, sind vor allem psychische Entwicklungen und hier vorrangig dann die kognitiven, da diese am raschesten ablaufen. Natürlich darf man emotionale und motivationale Entwicklungen deshalb nicht für geringer erachten.
Trotzdem ergibt sich allein aus der Geschwindigkeit der kognitiven Entwicklung das Primat der individuellen kognitiven Förderung.
Dabei sollte man noch einen zweiten Punkt unbedingt beachten: ein Fehler (zum Beispiel ein Rechtschreibfehler) orientiert sich immer an einer sozialen Norm. Eine defizitorientierte Diagnose kann gar nicht individuell fördern, weil die Voraussetzung, aus der diese Diagnose entstanden ist, viel zu abstrakt gehalten ist.
Daraus ergibt sich eine zweite wesentliche Regel der individuellen Förderung: es werden keine Normen oder Normhandlungen gefördert, sondern Denkstrukturen.
Das Problem der Denkstrukturen
Denkstrukturen haben allerdings das Problem, dass sie sich nicht direkt beobachten lassen. Man kann sie nur in die Kinder hineininterpretieren, mit mehr oder weniger Sensibilität.
Hier kommt die Entwicklungspsychologie ins Spiel. Entwicklungspsychologen erforschen seit über 100 Jahren auch (und man kann sagen vorrangig) die kognitive Entwicklung. Auch wenn die Ergebnisse immer mit Vorsicht behandelt werden sollten, kann hier die Theorie sowohl Entwicklungsgesetze, als auch typische Abfolgen erklären.
Dabei ist die Theorie das eine. Zum anderen muss man lernen, diese idealtypischen inneren Entwicklungen aus dem Verhalten der Kinder zu erschließen. Diese andere Seite der Entwicklungspsychologie, die konkrete sinnliche Erfahrungen damit, ist die wesentlich anspruchsvollere Seite.
Man kann dies auch an der "Verwurstung" von Jean Piaget sehen: es gibt bei Piaget vier große Stufen der geistigen Entwicklung. Zu diesen geht er Altersstufen an. Nun wird Piaget häufig so verwendet, als wäre ein Kind mit zwei Jahren zwangsläufig in der entsprechenden geistigen Phase. Doch genau das ist ein Irrtum. Diese Altersangaben sind wie Fähnchen, wie ein Landvermesser in die Landschaft steckt. Die eigentliche Stufe der geistigen Entwicklung leitet sich aus kognitiven Funktionen ab. Piaget begründet, warum bestimmte geistige Leistungen zuerst entwickelt werden müssen, damit andere geistige Leistungen überhaupt eine Grundlage haben, auf der sie entstehen können.
Summa summarum kann man dann postulieren, dass man anhand der Entwicklungspsychologie in etwa sagen kann, wo ein Schüler im Moment steht, und was in nächster Zeit von ihm zu erwarten ist. Darauf kann man dann die Förderung aufbauen, ohne sich an Defiziten zu orientieren oder Problemorientierungen zu vernachlässigen.
Fazit
Folgt man diesen Gedankengängen, dann ist eine gute entwicklungspsychologische Ausbildung für Lehrer (aber auch für Eltern) dringend notwendig.
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