Was für ein Wochenende! Aber das soll euch nicht bedrücken. Das nämlich, was ich alles gemacht habe, und dass ich jetzt vor meinem Computer sitze und das Gefühl habe, nichts geschafft zu haben, von dem, was auch noch wichtig gewesen wäre.
Von einer 100-jährigen, die aus dem Fenster stieg und verschwand
Da treffe ich doch eine sehr alte Frau, während ich unterwegs bin. Sie war auf dem Flohmarkt, hatte eine Tasche bei sich, und sich etwas gekauft, was ihr Mühe machte, es nach Hause zu bringen. Ich habe ihr angeboten, die Tasche zu tragen. Dann das Gespräch.
Nein, an den Ersten Weltkrieg erinnert sie sich nicht mehr, Gott sei Dank. Aber der zweite, von dem weiß sie noch. Gerne hätte sie davon nichts mehr gewusst. Und dass sie hoffentlich bald sterbe. Das sei nicht ihre Zeit. Einen dritten Weltkrieg wolle sie nicht erleben. Wovon sie spreche, fragte ich. Von all den Nazis im Internet. Sie benutze das Internet, fragte ich. Selbstverständlich, das sei ja nun billiger als Zeitungen, und auch schneller. Und außerdem könne sie so gelegentlich ihre Urenkel und Ururenkel sehen, dank Skype. Und die Kommentare lese sie natürlich auch, die unter den Zeitungsartikeln. Einmal sagt sie, dass die Deutschen sich auf einiges verstünden, aber von Gastfreundschaft hätten sie keine Ahnung. Oftmals seien ihnen andere Meinungen lästig. Alles müsse schnell gehen, auch die Meinung. Wie sie es mit den Meinungen handhabe, fragte ich. Für manche Meinungen, sagt sie, habe sie fünfzig Jahre gebraucht. Welche das seien? Nein, darauf wolle sie nicht antworten; manches müsse man mit ins Grab nehmen.
Sie also, 101, immer noch unterwegs, und bedrückend erdgebunden. Ihre Ängste: dass die verbale Gewalt in körperliche Gewalt umschlägt, dass die verbale Gewalt nicht nur darin umschlägt, sondern sie im großen Stil legitimiert. Zumindest habe ich das herausgehört.
Ich betrete ihre Wohnung nicht. Als ich mich verabschiede, fragt sie, was ich wählen würde. Zuvor, auf der Straße, schien sie meinen Fragen ausweichen zu wollen, und sie hat sie wahrscheinlich nur deshalb beantwortet, weil sie es als unhöflich empfunden hätte, darauf nicht zu antworten. Jetzt fragt sie selbst. Was ich wählen würde, und meine Antwort war: ich weiß es nicht, aber wohl demnächst wieder die Partei, die am wenigsten schlecht ist. Wie ich das entscheiden würde? Danach, was die Menschen auf der Straße brauchen, nicht nach dem, was sie nachplappern. Sie nickt und scheint einverstanden. Dann verschwindet sie, hinter ihrer Tür, nicht durch das Fenster.
Muss man erst so alt werden, um all die jüngeren zu beschämen? Oder brauchen wir erst einen dritten Weltkrieg, um in unserer Generation wieder auf vernünftige Gedanken zu kommen?
Deutschlands Zukunft
Troll
Neulich wurde ich als Troll bezeichnet. Warum? Ich habe draufgehauen, verbal. Behauptet hat jener Mensch, der mich dann so bezeichnete, dass die Juden Mischehen verachten würden, und dass der israelische Staat samt allen Menschen jüdischen Glaubens faschistisch seien. Darüber habe ich mich aufgeregt. Andere auch. Meine Widerworte erregten Unmut. Troll, das ist dann wohl eine Bezeichnung, die ich in diesem Fall mit einem gewissen Stolz tragen darf. Aber nein, mich erfüllt kein Stolz. Es ist eher Angst, die mich heimsucht, wenn ich mir diese ganzen „Gesichter“ ansehe, die versuchen, an Deutschlands Zukunft herumzuflicken.
Nein, so war es zu lesen, sie würde ihr Sachsen nicht verlassen, wo es doch jetzt so schlimm sei mit all den Ausländern und Homosexuellen woanders.
Und anderswo las ich, dass der Landser die einzige Lektüre sei, die ein echter Deutscher lesen solle.
Dazu konnte ich mich dann gar nicht mehr äußern.
Der aristokratische Staat
Bei all diesem Geplapper von Menschen mit einer offensichtlich recht beschränkten Auffassungsgabe träume ich schon davon, dass diese in der Versenkung verschwinden, in jener Versenkung, in der damals der dritte Stand verschwunden ist, als die Aristokraten herrschten. Oder zumindest so ähnlich. Ein Philosophenstaat vielleicht. Irgendetwas, was von oben, aus einem höheren und verfeinerten Blickwinkel die Diskussionen leiten könnte. Die Masse, sich selbst überlassen, wird doch allzu oft zur Bestie. Und angeleitet werden sie durch Menschen, die sich aus recht seltsamen Gründen plötzlich in einer gewissen politischen Verantwortung wiederfinden, Gauland zum Beispiel.
Wie der sich neulich bei Anne Will gewunden hat, wie er die Anklage versucht hat in eine Gegenanklage umzuwandeln, aber dies so ungeschickt, so geradezu lächerlich. Nein, das ist mit Sicherheit kein Mensch, dem man eine sublimierte Moral zusprechen kann. Der hat wohl einiges an Bildung genossen, aber die Freuden der Selbstreflexion und der Strenge mit sich selbst, die sind ihm wohl verwehrt geblieben.
Ob mich das an Hitler erinnert? Keineswegs. Hitler war kein Intellektueller. Gauland ist einer, im schlimmsten Sinne des Wortes. Wer mir dort einfällt? Stalin. Auch der war intellektuell, und auch dies ist zu hören im schlimmsten Sinne des Wortes.
Der aristokratische Staat würde dem ganzen letztendlich aber doch nicht abhelfen. Der Adel war manchmal für das beste, oft aber auch für das schlimmste zu haben. Und die Aristokratie hatte immer eine Neigung zur Faulheit, weil das Geburtsrecht hinter allem stand, was eine aristokratische Person auch tat und machte.
Der negative ästhetische Horizont
Also wird in Deutschland wieder eifrig geplärrt und gehetzt. Gauland findet die deutsche Nationalmannschaft überfremdet. Zu der Herkunft seiner Kleidungsstücke hat er nichts gesagt. Woher sein Gemüse kommt, die Ersatzteile seines Autos, die Software seines Handys, nein, dazu gibt es keine Äußerungen. Selig sind die Kinder, denn ihrer ist das Himmelreich.
Und dann gibt es noch eben diese Leute, die Deutschland so vehement verteidigen. Deutschland eben, unser Deutschland. Gegen die Ausländer, gegen die islamische Flut, gegen die Überfremdung. Ich habe schon lange aufgegeben, danach zu fragen, was das genau ist, was dort verteidigt wird. Unser Sozialsystem, wird dann gesagt. Deshalb wählt man dann auch die AfD, die genau dieses Sozialsystem noch stärker beschneiden will, als es derzeit schon üblich ist. Oder es wird all dies hier verteidigt, mit einer weiten, großzügigen Geste in die Runde hinein, sozusagen in die Landschaft. Aber die Landschaft hat sich das nicht ausgesucht, deutsch zu sein. Der ist das auch wohl ziemlich egal. Und wenn man sich mitten in einer Stadt befindet, dann kann man mit Sicherheit sagen, dass das, was da verteidigt wird, in 50 Jahren anders aussieht, so wie es vor 50 Jahren anders ausgesehen hat. Der Alexanderplatz hat nur noch im Grundriss etwas damit zu tun, wie er vor 100 Jahren als Alexanderplatz war.
Diese Menschen verteidigen ein Nichts. Sie reden von einer gewissen Ästhetik, von einer deutschen Ästhetik, aber sie können dies nur, indem sie einen negativen ästhetischen Horizont aufmachen, den Horizont der Überfremdung und der Umvolkung. Sicherlich sind sie fleißig, ihre Kommentare und Videos zu posten, doch der Urgrund dieser ganzen Aktivität scheint mir doch eine radikale Faulheit zu sein. Auch dieses Deutschsein von Geburt an ist ein Pillepalle vor dem Herrn. Wer sein Deutschsein sowieso schon besitzt, der kann sich darauf herumlümmeln, wie der Asoziale auf seinem Fernseh-Sofa. Tun muss man dafür nichts. Veränderung ist doof, im Zweifelsfall radikal islamistisch, oder weniger stark ausgedrückt rot-grün-versifft, auf jeden Fall aber links, oder dem Gutmenschentum verfallen.
Nein, einen positiven ästhetischen Horizont kennen diese Menschen anscheinend nicht. Sich selbst hinzustellen und schöpferisch tätig zu sein, das gelingt diesen Menschen nicht. Sie verteidigen nur und sehen sich als Opfer. Mittlerweile haben sie eine gewisse Schlauheit und Frechheit darin gewonnen, ein sekundärer Krankheitsgewinn, möchte man meinen. Sie wagen zu produzieren, aber auf der Grundlage einer Rachsucht. Es ist diese Rachsucht, die sie verteidigen, wenig mehr.
Die Lüge
Von einer Lügenpresse, davon haben wir alle schon gehört. Ich selbst kann es mittlerweile nicht mehr hören. Es ist ein grässliches, monströses Wort. Aus dem Mund eines Heinrich Heine oder eines Karl Kraus, da wäre es statthaft gewesen. Aber was sich dieser Pöbel dort auf der Straße leistet, das ist zutiefst erbärmlich. (Karl Kraus, den hätte ich als Fürst, wenn nicht als König akzeptiert. Wenn einer verdient hätte, im Journalismus Aristokrat zu sein, dann er.)
Logisch gesehen ist das Verhältnis zwischen Menschen, ihre Moral, ihr politisches Dasein, nicht auf Fakten gegründet, sondern auf Anerkennung. Die Wahrheit dagegen kann sich nur auf Fakten beziehen. Was dem im politischen Dasein entspricht, ist die Wahrhaftigkeit, Wahrhaftigkeit in dem Sinne, dass man gegenüber dem anderen das Miteinander und Ineinander erkennt und befürwortet. Der politische Mensch ist nicht allein. Immer ist er mindestens zu zweit.
Nein, man kann hier Nietzsche darin folgen, dass die Forderung nach der Wahrheit keineswegs die Forderung nach der Wahrheit ist, sondern der Aufruf, sich zu entblößen. Entblößen soll sich der andere; der Aufruf gilt nicht einem selbst. Und noch einmal schwimmt darin diese fundamentale Feigheit mit, auf die die Pegida und all diese deutschtümelnden Deutschen ihre Bewegung bauen. Man fordert die Sichtbarkeit des anderen, aber man verweigert das Gesehen-werden. Genau aber das ist das Fundament der politischen Lüge. Es ist diese Asymmetrie des Sehens, nicht die Verweigerung der Tatsache (das wäre nur eine Lüge im naturwissenschaftlichen Sinne oder eine historische Lüge).
Auschwitz als Lüge
Was ist eine historische Lüge?
Vielleicht lässt sich das am besten an Auschwitz darstellen. Auschwitz als Tatsache ist eine historische Wahrheit. Es hat existiert. Gelogen ist, dass Auschwitz eine bestimmte Daseinsweise erzwingt, ausgenommen der, die Fakten anzuerkennen.
Mittlerweile wird im Internet nicht mehr von Auschwitz gesprochen. Aber jedesmal, wenn von der Schuld der Deutschen die Rede ist, schwingt diese Monstrosität mit, so als wäre das Schuldbekenntnis ein Automatismus, dem jeder Deutsche folgen müsse, ginge es, nach der Meinung dieses rechtspopulistischen Elends, nach der Meinung des 'rot-grün-versifften' Politikertums.
Keineswegs ist das so. Sicherlich wird zu viel und zu häufig von Schuld geredet, und sicherlich haben nicht immer die besten Köpfe versucht, eine Verbindung des deutschen Staates zu Auschwitz zu ziehen, aber der grundlegende Begriff, der sich doch bei den besseren Denkern findet, ist der der Verantwortung. In der Schuld schwingt immer noch mit, das ungeschehen zu machen, was geschehen ist. Psychoanalytisch wird die Schuld deshalb auch aus einer sublimierten Verleugnung abgeleitet (siehe dazu Leon Wurmser: Die Flucht vor dem Gewissen).
Die eine historische Lüge ist, Auschwitz zu verleugnen. Die andere historische Lüge dagegen ist, zu wissen, was Auschwitz bedeutet. Und dies ist, man möge mir das verzeihen (aber nein, lieber nicht!), das Problem von einer ganzen Reihe von sogenannten "Linken". Auschwitz bedeutet, aber was es für die Opfer bedeuten solle, das könnten uns nur die Opfer anerkennen. Die Monstrosität von Auschwitz findet sich genau in diesem Zwiespalt: dass dort das politische Dasein auf die übelste Art und Weise vernichtet wurde, wie dies einem politischen Dasein geschehen kann: durch die körperliche Vernichtung. Nichts wird dieses politische Dasein wieder auferstehen lassen, keine Gedenktafel, keine Anklage, keine Reue. Die Tatsache Auschwitz ist die Nicht-Tatsache einer sehr großen Anzahl politischer Stimmen. Wer immer glaubt, für diese Menschen anders als auf der Ebene jenes Wir-sind-vernichtet-worden sprechen zu können, lügt.
Schlusswort
Viel gäbe es zu sagen. Aber das ist heute nicht meine Aufgabe. Andere, bessere Denker haben dies längst vor mir geleistet. Ich mag hinweisen auf Hannah Arendt Vom Leben des Geistes, oder auf jenes wunderbare Fragment aus Nietzsches Nachlass, welches sich in der KSA 1886/87, 7 [6] direkt zu Beginn findet, und mit einem Satz beginnt, den man über jede Protestbewegung stellen sollte, sei es die Antifa, sei es die Pegida, sei es der Feminismus oder der Maskulinismus:
Der Sieg eines moralischen Ideals wird durch dieselben „unmoralischen“ Mittel errungen wie jeder Sieg: Gewalt, Lüge, Verleumdung, Ungerechtigkeit
Weiters habe ich über die Noten für meine Schüler gebrütet, Arendt gelesen (eben jenes eben zitierte Werk), einen unveröffentlichten Roman begonnen durchzukommentieren, ein wenig programmiert, aber doch viel mehr über die Tätigkeit des Programmierers nachgedacht, Nietzsche gelesen, an meinem Zettelkasten herum programmiert, und wie ihr an dieser Aufzählung seht, alles irgendwie recht durcheinander.
Bin ich zufrieden? Ja und nein. Der Grund, auf dem ich im Moment ruhe, ist die Zufriedenheit. Darüber aber schwebt der Geist der Unruhe und der Unzufriedenheit. So viel gäbe es zu tun. So wenig Zeit habe ich.
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