22.03.2016

Terror jenseits der Grenzen

Sloterdijk empfiehlt der Politik, grenzempfindlich zu werden. Das ist aus vielerlei Gründen eine schwierige Behauptung, da dies voraussetzt, dass Grenzen nach der Erkenntnis entstehen, dass also die Erkenntnis das Apriori der Grenzen sei, während doch die ganze Wissenschaftlichkeit, und nicht zuletzt die operativen Logik darauf aufgebaut ist, zunächst eine Grenze zu ziehen, und dann festzustellen, welche Erkenntnisse sich damit ergeben. Allerdings war Sloterdijk dann nicht ganz so eindeutig. Und dass er kein Philosoph des Aprioris ist, das sollte bekannt sein. Sogar ihm selbst.

Heteronormative Grenzen

Ein ganz anderes Problem an Grenzen ist, dass sie nicht naturwissenschaftlich funktionieren. Sie sind aus sozialen Ereignissen zusammengesetzt, mithin eine Mannigfaltigkeit, heterogen und heteronormativ. Ich glaube, dass man daraufhin das Parteiprogramm der AfD ganz gut lesen kann: in seiner Widersprüchlichkeit spiegelt es genau das Problem von Grenzen wider.

Erreichbarkeit des Terrors

Schließlich ist der Terror keineswegs nur ein Phänomen schlechter oder verfehlter Politik. Als ich heute Morgen am Computer saß und meine letzten Python-Videos von gestern Abend hochgeladen habe, hatte ich bereits Twitter geöffnet. Und dort war innerhalb von wenigen Minuten, direkt nach den Explosionen in Brüssel, bereits eine Flut an Kommentaren und Meldungen vorhanden. Die Übermittlung solcher Nachrichten hat sich radikal beschleunigt. Die räumlichen Grenzen spielen keinerlei Rolle mehr. Und auch wenn dies an den Staatsgrenzen zunächst wenig zu rütteln scheint, verändern sie doch die ganze Atmosphäre, das ganze Wirken der Staatsgrenzen. Der Terrorismus ist deshalb so präsent (und deshalb vielleicht auch überhaupt erst in diesen Dimensionen möglich), weil er sich entlang der Informationskanäle so schnell in seiner Wirkung ausbreitet.

Verantwortung wofür?

Natürlich ist es unsinnig, der Gesellschaft den Vorwurf zu machen, sie würde den Terror lediglich inszenieren. Ein Prinzip einer sich aufklärenden Gesellschaft besteht darin, Verantwortung zu übernehmen. Und wo diese Verantwortung nicht übernommen wird, muss sie eventuell erzwungen werden. Wer keine Verantwortung dafür übernimmt, dass er anderen Menschen die Freiheit eingeschränkt hat, im krudesten Fall durch die Tötung, dem muss auch die Verantwortung für die eigene Freiheit weggenommen werden.
Noch ist es ein Gedankenspiel. Aber in gewisser Weise gibt es Metatugenden, die die Tugendhaftigkeit des einzelnen Menschen erst ermöglicht. Und es gibt (vielleicht) so etwas wie Metasünden, die die Tugendhaftigkeit einzelner Menschen mindern oder unmöglich machen.

Geltungssucht

Zwei „Sünden“ (dies aber bitte nicht religiös zu lesen) scheinen mir die Faulheit und die Geltungssucht. Die Geltungssucht ist mit Sicherheit auch eine strukturelle Sünde, vor allem im Journalisten-Kreis. Denn wer die Nachricht zuerst bringt, hat auch die Aufmerksamkeit, meistens zumindest. Und die Aufmerksamkeit zu besitzen bedeutet, an seinen Artikeln zu verdienen. Dies mag zu der Schlampigkeit geführt haben, die man heute dem Journalismus (zum Teil) vorwerfen muss.
Strukturell ist diese Sünde deshalb, weil der Einzelne nichts dafür kann. Es ist ein typisches Beispiel für den generalisierten Individualwillen, wenn also der Einzelwille auf genau die gleiche Art von vielen verschiedenen Menschen verfolgt wird, sodass alle das gleiche wollen, aber nur wenige es erreichen können. Man nennt dies auch Konkurrenz. Aufklärung braucht eine ganz andere Form der Willensbildung, eine Bemühung um eine Kooperation, ohne sich auf einen Gruppenzwang einzulassen.

Funktionalität des Terrors

Peter Fuchs jedenfalls schreibt in seinem Buch Das System „Terror“:
Einer der Effekte dieser neuartigen [funktionalen] Struktur der Gesellschaft ist, dass Systeme dieses Typs nicht mehr an Territorien, an Staaten, an Nationen, Völkerschaften etc. geknüpft sind. Sie erreichen ein operativen Abstraktionsgrad, der Grenzen einfach ignoriert.
(Seite 44)

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