In der Auseinandersetzung mit der Lernpsychologie bin ich (wieder einmal) am Systematisieren. Meine Vorliebe für Autoren wie Gaston Bachelard, Roland Barthes oder Hans Blumenberg dagegen führt mich immer wieder zu vergleichbaren Gegenständen, oder wie hier, zu analogen Formen der Mechanik. Auf dem Rückweg von der Arbeit hat mich nämlich folgendes Bild bedrängt. Es bildet zugleich den Ausgangspunkt für den Vergleich von drei sehr ähnlichen Lerntheorien.
Das Pendel im Sand
Mein Onkel besitzt eine Art Meditationsspiel. Dieses besteht aus einer flachen Schüssel aus Sand, über die ein metallener Bogen gespannt ist. Im Zenit dieses Bogens befindet sich eine Schlaufe, in der ein Pendel hängt. Am unteren Teil des Pendels zieht ein Gewicht, welches nach oben hin kugelförmig, nach unten hin einen Zylinder bildet, und dessen Spitze in den Sand hineinragt. Durch Bewegung des Pendels zeichnet dieses dann regelmäßige Kreise, die zunehmend enger werden und dadurch eine kreisförmige oder elliptische Spirale hinterlassen.
Piaget: das Band der Assoziation
Betrachtet man die primitive Auffassung, die in vielen Lernpsychologien von der Theorie Piagets gelehrt wird, dann ist die Verknüpfung zwischen dem Ankerpunkt und dem Pendel der Assoziation gleichzusetzen, die das Gehirn zwischen zwei verschiedenen Reizen zieht. Die Reize werden durch Wiederholung verknüpft und die Verknüpfung gefestigt.
Leroi-Gourhan: das Pendel der Tätigkeit
Vorausgeschickt werden muss, dass die folgenden Passagen sich keineswegs nur auf den französischen Paläontologen Leroi-Gourhan beziehen. Seit ich diesen Mitte der neunziger Jahre kennengelernt habe, habe ich viele weitere Passagen entdeckt, in denen das Lernen als Pendel dargestellt wird. Insofern beansprucht dieser Autor nur eine subjektive Wichtigkeit.
Statt der Assoziation stellt Leroi-Gourhan die Tätigkeit in den Mittelpunkt, die zwischen einem menschlichen Bedürfnis und der kulturellen Umgebung hin- und herläuft. Dabei werden die durchlaufenden Tätigkeiten gefiltert, verkürzt und möglicherweise symbolisiert. Unschwer erkennt man hier die Bewegung der Pendelspitze im Sand in einer immer engeren, aber gleichförmigen Bewegung. Übrig bleibt allerdings der Rhythmus nicht zwischen Handeln und Denken, sondern der zwischen Verinnerlichung (Interiorisation) und Veräußerlichung (Exteriorisation), zwischen sich selbst und die Umwelt verändern.
Unschwer lässt sich auch erkennen, dass diese Art der Betrachtung die Wiederholung, die bei Piaget zu der Verknüpfung zwischen zwei Reizen führt, weiter auflöst und dabei das „kognitive Potenzial“ aus der Innerlichkeit des Menschen herausholt und es gleichsam dicht unter der Oberfläche lokalisiert.
Schopenhauer: der ethologische Kreis
Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, diesen Austauschprozess als Kreis zu denken. Der Kreis oder Kreislauf, der die Grenze eines Systems überschreitet, um von dort aus wieder zurückzukehren, ist natürlich ein Ideal. Entfaltet man diesen Kreis zeitlich, entsteht eine Sinuskurve, die nichts anderes als ein Rhythmus ist, auf dem sich bestimmte Punkte wiederholen. So schematisiert umfasst der Kreis die beiden anderen Modelle.
Er bildet auf der einen Seite den grenzüberschreitenden Austausch ab, auf der anderen Seite erklärt er, warum bestimmte Phänomene des Lernens dem biologischen Gedächtnis zuzuschlagen sind, andere dem kulturellen Gedächtnis, und warum diese beiden ineinandergreifen, ohne sich ähnlich sein zu müssen.
Das ist der Daumen
Nehmen wir zur Illustration das viel zitierte Beispiel vom daumenlutschenden Säugling.
Nach Piaget werden die taktilen Empfindungen des Daumens im Mund mit dem Wohlgefühl assoziiert. Folgt man dagegen Leroi-Gourhan, etabliert sich hier vor allem ein Rhythmus auf der Grundlage dieser Assoziation, die nach und nach zu einer Reinigung und/oder Ergänzung dieses rhythmischen Austausches führt. Schließlich wird daraus ein Kreislauf, der über die Haut und die Sinnesorgane hinweg einen Austausch und zugleich eine Ausformung und gegenseitige Ergänzung von biologischem und kulturellem Gedächtnis ermöglicht. Der Daumen ist insofern ein Stück „kulturellen“ Gedächtnisses, als er der psychischen Verarbeitung äußerlich ist, auch wenn er evolutionär dem menschlichen Gehirn vorausgeht. Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass der Daumen als äußeres Gedächtnis und das Wohlgefühl als inneres keine Ähnlichkeit miteinander haben, sich aber trotzdem ergänzen.
Einführung in die Metakognition
Immer wieder bastele ich an dem Begriff der Metakognition herum. Diese scheint die Funktionen des äußeren Gedächtnisses übernehmen zu wollen. Damit einher geht aber auch die Doppeldeutigkeit: auf der einen Seite schafft die Metakognition eine Unabhängigkeit, die zugleich Kontrolle bedeuten kann; auf der anderen Seite aber besteht die Gefahr darin, dass durch sie korrigierende Prozesse des Austausches mit der Umwelt verloren gehen und das System gleichsam ohne äußere Störung in sich leer läuft (schon Kant schrieb, dass das Tagebuchschreiben Grillenfängerei sei und ins Irrenhaus führe).
Insofern ist der Begriff der Metakognition durchaus widersprüchlich. Nimmt man zum Beispiel die ganzen Techniken der Dokumentation und der individuellen Erinnerungshilfen (wie zum Beispiel die Kalender, die fast jeder Mensch mittlerweile auf seinem Computer oder iPhone besitzt), dann ersetzen diese natürlich nicht die kulturelle Umwelt: Gerade diese nutzen sie ja. Doch unter dem Siegel der Privatheit oder des Datenschutzes werden hier kulturelle Prozesse unterbrochen. Das soziale Gedächtnis beruht zwar immer noch auf Artefakten und Symbolen, ist aber zugleich privat geworden, da es nur noch einem einzigen Menschen zugänglich ist.
Wenn die Metakognition allerdings zunächst Unabhängigkeit von bestimmten Kreisläufen zwischen Mensch und Umwelt bedeutet, dann ist die Möglichkeit, diese Unabhängigkeit von Anfang an zu erlangen, zugleich ein qualitativer Einschnitt in die Metakognition, die diese möglicherweise in etwas ganz anderes verwandelt (auch wenn ich nicht weiß, was).
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