Eigentlich wollte ich mich garnicht zu diesem Gedicht äußern. Bei den vielen Stimmen, bei den vielen seltsamen Stimmen, fühle ich mich aber gedrängt, doch ein paar Takte dazu zu sagen.
Das Gedicht
Zunächst: ich halte Grass' Gedicht für literarisch wertlos. Es erinnert mich an manche pubertären Gedichte junger Menschen, die mit Pathos und eben (vermeintlicher) Lyrik behaupten, eine wahre, wenn auch subjektive Meinung in die Welt hinausposaunen zu dürfen.
Was Grass sagt I: Vertrauen und Beweise
Aber ist Grass deshalb Antisemit? Weil er ein schlechtes Gedicht schreibt?
Denn was sagt Grass denn politisch? Zum ersten beschwert er sich darüber, dass Israels atomares Potential nicht der gleichen Kontrolle zugänglich ist, wie der "Westen" dies vom Iran verlangt. Es geht bei dieser Kontrolle nicht darum, Israel für ein kriegstreibendes Land zu halten, sondern vor allem um eine vertrauensbildende Maßnahme. Der könnte sich der Staat Israel ohne weiteres stellen.
Zweitens sagt Grass, dass eine Vermutung über den Besitz einer Atombombe (im Iran) nicht ausreicht, von einem Erstschlag zu reden. Hier müssen eben Beweise her. Niemand sperrt in einer Demokratie Menschen ein, nur weil sie in der Lage sind, andere Menschen zu töten.
Was Grass sagt II: Antisemitismus?
Grass baut selbst einige Vorsichtsmaßnahmen in sein Gedicht ein. Er spricht von "ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind" und spielt damit auf den Holocaust an. Damit leugnet er nicht die Judenvernichtung im 3. Reich. Doch das differenzierende Argument kommt auch sofort: "Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert". Grass argumentiert also, dass die "Wiedergutmachung" eigentlich keine Wiedergutmachung sei, sondern eine Vokabel, unter der das Merkmal "geschäftsmäßig" verdeckt werden soll. Es wird eben nur deklariert, entspricht aber nicht der Wirklichkeit. Später nutzt Grass das Wort "Heuchelei".
Schweigen und Demokratie
Grass selbst möchte von dem Schweigen befreien. Er sagt nicht: Israel ist der Aggressor und der Iran sei ein harmloses Mauerblümchen. Er sagt: "dass eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird".
Damit fordert er, als Pflicht gegenüber der internationalen Gemeinschaft, die Gleichbehandlung zweier Staaten, unabhängig von deren individuellen Ausgangslagen. Auch das ist Demokratie. Wer Nuklearsprengköpfe besitzt, muss sich der internationalen Kontrolle stellen, auch wenn es ein demokratisches Land ist. Und sei es nur, um Vertrauen zu schaffen.
Ausfall gegen Israel?
Kann man Grass also den Vorwurf eines Ausfalls gegen Israel machen?
Nicht im mindesten. Ich sehe in diesem Gedicht auch weniger eine Kritik an Israel, als in der Zwiespältigkeit und Ungleichbehandlung Israels durch den Westen. Wer Demokratie fordert, dem darf man Demokratie zumuten. Und Demokratie ist eben auch, sich den gleichen Bedingungen zu unterwerfen, die Recht und Schicklichkeit (internationale Verträge sind ja oft eher Zeichen eines guten Willens) fordern.
Räsonniert
Grass schreibt also: "Räsonniert!" (vgl. Kants Aufsatz über die Aufklärung). Das Gehorchen lässt er weg.
Grass vereinfacht. Ohne Frage. Das macht ihn angreifbar. Die Frage ist, ob dies in so schrillen Tönen geschehen muss, wie das derzeit der Journalismus macht. Kaum ein Artikel wendet sich der Analyse zu und fragt: wie sieht es denn nun tatsächlich in Israel aus? Grass wird nicht durch Argumente der Boden entzogen, sondern er wird durch Angriffe und Antisemitismus-Vorwürfe (die das Gedicht garnicht hergibt) denunziert.
Reich-Ranicki
Reich-Ranicki wird zitiert (und paraphrasiert): "Das Gedicht sei ein geplanter Schlag nicht nur gegen Israel, sondern
gegen alle Juden. Reich-Ranicki betonte jedoch, Grass sei kein
Antisemit, aber er spiele gezielt auf antisemitische Neigungen in Teilen
der Bevölkerung an. Darum mache ihm das Gedicht auch Angst." (Focus online)
Dies ist aus einfachen Gründen aber falsch: (1) Grass greift nicht die Juden an, wohl aber (vermeintliche oder tatsächliche) Heucheleien; (2) Reich-Ranicki hat natürlich recht, wenn er befürchtet, dass dieses Gedicht antisemitischen Unterströmungen in die Hände spielt (wobei Unterströmung schon zu verharmlosend ist): nur deshalb garnicht mehr kritisieren zu dürfen, kann es auch nicht sein. Dann muss eben zwischen den antisemitischen und den kritischen Reaktionen unterschieden werden. Wer einer Kritik an einem Volk oder Staat mit nur schlecht begründeten Vorwürfen beikommen will, macht sich eines Meta-Rassismus schuldig. Das Gegenteil einer unbegründeten Kritik (wie im Rassismus) ist eben nicht die Nicht-Kritik sondern die begründete Kritik.
Hochhuth
Hochhuths Kritik ist wiederum sehr zwiespältig. Dieser schreibt: "Du bist geblieben, was Du freiwillig geworden bist: der SS-Mann, der das
60 Jahre verschwiegen hat, aber den Bundeskanzler Kohl anpöbelte, weil
der Hand in Hand mit einem amerikanischen Präsidenten einen
Soldatenfriedhof besuchte, auf dem auch 40 SS-Gefallene liegen."
Man wird mit 17 nicht "freiwillig" Mitglied der Waffen-SS. So krude ich das jahrzehntelange Schweigen von Grass und die Umstände des Geständnisses fand und finde, krude nicht nur im moralischen Sinne, sondern auch im poetischen Sinne: wer sich solch einer Erfahrung bewusst ist, hätte damit offener und selbstkritischer umgehen können, umgehen müssen. Auch das wäre ein Dienst am Volk gewesen, den ein kritischer Dichter zu leisten hat. Und zwar nicht erst 2006. So krude ich also Grass' eigene Position empfinde, so haltlos ist Hochhuths Argument, Grass sei freiwillig SS-Mann geworden. Freiwilligkeit bedeutet, dass man sich der Reichweite seiner Taten bewusst ist. Doch das ist bei einem Jugendlichen deutlich fraglich. Grass ist hier nie offensiv geworden, hat sich nie deutlicher über seine damaligen Motive geäußert. Damit hat er einen deutlichen Bruch vermieden. Er hat keine Distanz aufgebaut. Doch eine Kontinuität mit den SS-Gedanken kann man Grass nun auch nicht vorwerfen.
Aufklärung
Nun, ein Gutes hat die ganze Chause vielleicht doch: Kant schrieb über die französische Revolution, dass diese zwar nicht vernünftig sei, aber dass die leidenschaftliche Teilnahme des europäischen Publikums an den Debatten um dieses Ereignis aufklärerisch seien (im Streit der Fakultäten). Bedingung ist allerdings für Aufklärung, dass nicht einseitig moralisch abgewertet und nicht einseitig kritisiert wird. Israel muss kritisiert werden, einfach, weil dies zur Aufklärung mit dazu gehört.
Und natürlich darf Kritik abgewiesen werden. Aber sie darf nicht mit Moral und Besserwisserei, sondern muss mit Analysen und Tatsachen abgewiesen werden. Auch das ist Aufklärung. Und die wünsche ich mir.
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