Ich hatte neulich versprochen, etwas genauer in die strukturalistische Vorgehensweise von Textinterpretationen einzuführen. Hier ist ein erster Baustein. Diesen werde ich nur mit kurzen Beispielen versehen, so dass er relativ "theoretisch" bleibt. Später (eventuell schon morgen) werde ich aber eine etwas längere Textanalyse vorstellen. Hier haben wir es also zunächst nur mit technischem "Vorgeplänkel" zu tun.
Zeichen
Vom französischen Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure kommt die Einteilung des Zeichens in (a) einen Signifikanten und (b) ein Signifikat. Der Signifikant bezeichnet die "materielle" Seite des Zeichens, also zum Beispiel das Lautbild, wenn man ein Wort spricht oder das Schriftbild, wenn man ein Wort schreibt. Das Signifikat bezeichnet dagegen die "ideelle" Seite des Zeichens, also die Bedeutung, die wir einem Zeichen geben. Es lässt sich, wenn man ein wenig die Augen zukneift und fünfe gerade sein lässt, mit dem Wort (konkrete) "Vorstellung" gleichsetzen. Der Signifikant ist dann die kommunizierbare Bezeichnung einer Vorstellung.
Zum Beispiel: der Signifikant "Buch" verweist auf meine Vorstellung eines Buches, bzw. auf die Bedeutung, die ich Büchern gebe. Das die beiden nicht verwechselt werden dürfen, merkt man schon daran, dass das Wort und die Vorstellung völlig unterschiedlich sind.
Zeichentypen
Es gibt drei wichtige Zeichentypen. Diese definieren sich durch die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat.
Eine erste Form der Beziehung ist die Willkürlichkeit. Das Wort "Brot" hat mit der konkreten Vorstellung keinerlei Ähnlichkeit. Die Bezeichnung "Brot" hat sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet und liegt in unserer Kultur heute als relativ feste Bedeutung vor. Aber ein Blick in andere Sprachen zeigt uns, dass ein Brot hätte auch völlig anders heißen können: bred (engl.), pain (fr.), chleb (russ.), ekmek (türk.), usw.
Zeichen, deren interne Verbindung auf Willkürlichkeit beruhen, sind historisch entstanden und kulturell spezifisch. De Saussure bezeichnet diese mit dem (unglücklichen) Ausdruck Symbol. (Unglücklich ist diese Namensgebung deshalb, weil das Symbol auch sehr anders definiert werden kann und definiert worden ist.)
Eine zweite Form des Beziehung ist die Ähnlichkeit. Sprachliche Zeichen sind normalerweise Symbole und die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat willkürlich. Man findet eine auf Ähnlichkeit beruhende Beziehung deshalb vor allem in Bildern oder Zeichnungen. So ist ein Gemälde von Cézanne, auf dem einige Zitronen zu sehen sind, den "echten" Zitronen ähnlich. Aber auch ein Foto von Peter ist ein solches Zeichen: das Foto ist meiner Vorstellung von Peter ähnlich.
Zeichen, deren interne Verbindung auf Ähnlichkeit beruhen, nennt man Ikone. Es gibt sie zum Beispiel in der Musik. Wenn Maurice Ravel sein Orchesterstück "Daphnis und Chloe" mit einem Tagesanbruch beginnen lässt, flicht er darin "Vogelstimmen" ein, die natürlich von Instrumenten gespielt werden. Die Melodielinie ist ein Signifikant für das Signifikat "Vogelstimme". Doch auch wenn Shostakovich im zweiten Satz seiner zehnten Symphonie Stalins Wahnsinn in wilden Kaskaden aus Streicher und Blech "ausdrückt", handelt es sich um ein Ikon. Es drückt eine Ähnlichkeit zwischen der Musik und (Shostakovitchs Vorstellung vom Wahnsinn) Stalin(s) aus. Schließlich gibt es in der Sprache das Phänomen der Lautmalerei (Onomatopeia). Ein Wort wie "wau wau" beruht auf einer gewissen Ähnlichkeit mit dem Bellen eines Hundes; und in Comics wie Donald Duck findet man Wörter wie "wupp" oder "zonk", die ein Geräusch direkt verschriftlichen.
Eine letzte Form von Zeichen beruht auf einem pragmatischen Zusammenhang und deshalb auf einer (räumlichen) Nachbarschaft. Es sind die Zeichen, die uns am seltensten auffallen und die wir am häufigsten benutzen. "Wo Rauch ist, ist auch Feuer.", sagt der Volksmund und drückt damit aus, dass Rauch der Signifikant und das Feuer das zugehörige Signifikat ist. "Warst du heute beim Friseur?", fragt der Mann die Frau, da ihre Haare anders sind und diese sagt: "Ja!" Der Mann liest die veränderten Haare als Signifikanten, spricht aber das Signifikat (beim Friseur gewesen sein) an. Diese Zeichen heißen Indexe (oder auch Indizes). Sie beruhen auf Nachbarschaften. Indexe lassen sich weiter aufteilen. Eine vergangene Nachbarschaft nennt sich eine Spur. Eine (kausal oder kulturell gestützte) Nachbarschaft nennt sich in Indiz. Der Unterschied zwischen Spur und Indiz lässt sich folgendermaßen fassen: Nehmen wir an, es ist ein Mord geschehen und die Leiche weist eindeutige Messerstiche auf. Diese Messerstiche sind eine Spur, insofern sie auf eine vergangene Nachbarschaft zwischen Messer und Körper hinweisen (auf eine Tat). Sie sind zugleich aber auch ein Indiz, als sie auf die (gegenwärtige) Existenz eines Messers hinweisen. - Finde ich abgenagte Tannenzapfen im Wald, so kann ich von hier auf die Fressgewohnheit eines Eichhörnchens schließen: der Tannenzapfen ist eine Spur. Zugleich kann ich aber auch auf die Existenz mindestens eines Eichhörnchens in der näherer Umgebung schließen: der Tannenzapfen ist ein Indiz. Schließlich gibt es noch eine dritte Art von Index, das Symptom. Dieses beruht auf einer diffusen oder unklaren Nachbarschaft. Wer Fieber hat, hat wahrscheinlich eine Grippe. Doch es könnte natürlich auch etwas anderes sein. Wenn die Meisen tschilpen, ist der Frühling da. Doch ganz so einfach ist der Zusammenhang natürlich nicht. Trotzdem: tschilpende Meisen sind ein Symptom für den Frühling. Viele psychologische Begriffe sind Symptome. Weil sich ein Mensch schüchtern verhält, lesen wir das als Symptom für seine Charaktereigenschaft "Schüchternheit".
Eine letzte Form von Zeichen beruht auf einem pragmatischen Zusammenhang und deshalb auf einer (räumlichen) Nachbarschaft. Es sind die Zeichen, die uns am seltensten auffallen und die wir am häufigsten benutzen. "Wo Rauch ist, ist auch Feuer.", sagt der Volksmund und drückt damit aus, dass Rauch der Signifikant und das Feuer das zugehörige Signifikat ist. "Warst du heute beim Friseur?", fragt der Mann die Frau, da ihre Haare anders sind und diese sagt: "Ja!" Der Mann liest die veränderten Haare als Signifikanten, spricht aber das Signifikat (beim Friseur gewesen sein) an. Diese Zeichen heißen Indexe (oder auch Indizes). Sie beruhen auf Nachbarschaften. Indexe lassen sich weiter aufteilen. Eine vergangene Nachbarschaft nennt sich eine Spur. Eine (kausal oder kulturell gestützte) Nachbarschaft nennt sich in Indiz. Der Unterschied zwischen Spur und Indiz lässt sich folgendermaßen fassen: Nehmen wir an, es ist ein Mord geschehen und die Leiche weist eindeutige Messerstiche auf. Diese Messerstiche sind eine Spur, insofern sie auf eine vergangene Nachbarschaft zwischen Messer und Körper hinweisen (auf eine Tat). Sie sind zugleich aber auch ein Indiz, als sie auf die (gegenwärtige) Existenz eines Messers hinweisen. - Finde ich abgenagte Tannenzapfen im Wald, so kann ich von hier auf die Fressgewohnheit eines Eichhörnchens schließen: der Tannenzapfen ist eine Spur. Zugleich kann ich aber auch auf die Existenz mindestens eines Eichhörnchens in der näherer Umgebung schließen: der Tannenzapfen ist ein Indiz. Schließlich gibt es noch eine dritte Art von Index, das Symptom. Dieses beruht auf einer diffusen oder unklaren Nachbarschaft. Wer Fieber hat, hat wahrscheinlich eine Grippe. Doch es könnte natürlich auch etwas anderes sein. Wenn die Meisen tschilpen, ist der Frühling da. Doch ganz so einfach ist der Zusammenhang natürlich nicht. Trotzdem: tschilpende Meisen sind ein Symptom für den Frühling. Viele psychologische Begriffe sind Symptome. Weil sich ein Mensch schüchtern verhält, lesen wir das als Symptom für seine Charaktereigenschaft "Schüchternheit".
Der Referent
Im sprachlichen Zusammenhang haben Zeichen noch eine weitere Funktion, nämlich auf Referenten zu verweisen, d.h. auf mehr oder weniger konkrete Tatsachen in der Welt. Wir dürfen die Referenten allerdings nicht mit den Signifikaten verwechseln. Ich kann zum Beispiel Petra seit zwanzig Jahren kennen und habe das Gefühl, dass ich sie in- und auswendig kenne. Trotzdem steht "Petra" zunächst einmal nur für meine Vorstellung von Petra; und die mag grundsätzlich falsch oder "hinreichend" richtig sein. Ich kann in einem pragmatischen Zusammenhang auf Petra hinweisen und sagen: "Gestern hat Petra mal wieder die Suppe anbrennen lassen." Damit habe ich trotzdem erstmal meine Vorstellung von Petra bezeichnet. Erst das Zeichen als Ganzes verweist auf einen möglichen Referenten, der tatsächlich in der Welt existiert.
Deutlich wird dies aber bei Romanfiguren, vor allem den ganz fiktionalen. Es gibt keinen realen Menschen, der "Harry Potter" entspricht. Das Zeichen "Harry Potter" hat keinen Referenten. Trotzdem kann ich eine Vorstellung von Harry Potter haben und damit ist es ein Zeichen.
Lexeme
Bedeutungen von Zeichen werden kulturell gesteuert. Dies gilt insbesondere für Symbole.
Die Bedeutung solcher Zeichen wird in Wörterbüchern, bzw. Enzyklopädien beschrieben. Es gibt Sachwörterbücher für einzelne Disziplinen, es gibt Wikipedia.
Ein Lexem bezeichnet also den Bedeutungskern eines Zeichens und zählt dazu die wesentlichen Merkmale auf.
Klasseme
Im Gegensatz dazu ist das Klassem ein Zeichen in seinem Gebrauch. Hier können sich bestimmte Merkmale "in den Vordergrund schieben".
Betrachten wir das an einem einfachen Beispiel. Für uns sind Dinosaurier vor allem mit dem Merkmal "ausgestorben" belegt, daneben mit den Merkmalen "echsenähnlich", "gefährlich", usw. So ungefähr mag unser Lexem aussehen. Nun tauchen Dinosaurier in dem Roman "Jurassic Parc" auf und obwohl ich weiß, dass sie eigentlich ausgestorben sind und dass ich nur eine Geschichte lese, assoziiere ich mit ihnen plötzlich vor allem das Merkmal "gefährlich" und keineswegs mehr "ausgestorben". Das Klassem "Dinosaurier" wird also (im konkreten Roman) ganz anders als das Lexem benutzt.
Noch deutlicher kann dies bei sehr abstrakten Lexemen werden. So bezeichnet das Wort "Demokratie" einen gewissen gesellschaftlichen Zustand. Doch wie ich in meinem konkreten Leben damit umgehe, wird von dem Lexem kaum gedeckt. Meist bezeichne ich mich als demokratisch, meine damit aber nur eine gewisse, tolerante Gesinnung. Auch hier benutze ich das Wort komplett anders. - So finden sich in Wörterbüchern auch Definitionen von Frau und Mann, die sich stark an den biologischen Merkmalen der Geschlechter festhalten. Trotzdem sind die Arten und Weisen, wie Menschen miteinander umgehen, stark kulturell geprägt und damit stark davon geprägt, was wir als Umgang mit dem eigenen und dem anderen Geschlecht gelernt haben.
Für und gegen Lexeme
Nun kann man allerdings sagen, dass Lexeme nur Wörter in einem bestimmten Kontext sind, Wörter, die in einer gewissen Art und Weise gebraucht werden. Ein Lexikon definiert sich durch den Gebrauch, den ein Lexikon ermöglicht. Auch hier haben wir einen pragmatischen Zusammenhang. Damit wird der Begriff des Lexems aber fraglich, weil er sich nicht mehr von dem des Klassems unterscheidet.
Trotzdem: um zum Beispiel die Bedeutung der Küche in Ilse Aichingers Kurzprosa "Kleist, Moos, Fasane" zu erläutern, brauche ich erstmal eine allgemeinere Vorstellung von einer Küche. Bei Aichinger ist die "Küche" ein sehr einzigartiges Klassem. Doch es wäre nicht so einzigartig, wenn ich es nicht mit einer sehr viel abstrakteren und allgemeineren Bedeutung von Küche ("ein Ort, an dem Speisen aufbewahrt und zubereitet werden") vermitteln würde.
Das Lexem ist nicht die "eigentliche" Bedeutung und das Klassem deshalb die "uneigentliche", sondern das Lexem liefert einen möglichen Kontrast, vor dessen Hintergrund ich ein Klassem interpretieren kann. Es ist ein Werkzeug der Interpretation. Das schauen wir uns noch genauer an dem Aichinger-Text an.
Sememe
Es gibt einen etwas neutraleren Ausdruck für Klassem und Lexem: das Semem. Das Semem definiert sich durch bedeutungstragende Merkmale und wird zum Beispiel folgendermaßen geschrieben:
Noch eine Anmerkung zur Notation der Sememe: Die Merkmale werden für gewöhnlich durch ein Plus gekennzeichnet. Manchmal fehlt die eckige Klammer. Ich schreibe diese aus, weil ich mir dadurch signalisiere, dass ich mich auf ein Merkmal beziehe. Fehlt ein Merkmal, so wird dies durch ein Minus gekennzeichnet. So ist eine Leiche [- lebendig]. Besonders wichtige Merkmale markiere ich mir durch ein zweifaches Plus ([++ ...]), besonders wichtige fehlende Merkmale (zum Beispiel, wenn ein Gegenstand wider Erwartens eine Eigenschaft nicht aufweist) durch ein Doppelminus ([-- ...]). Das ist aber meine individuelle Notation.
Küche
[+ räumlich]
[+ zum Essen aufbewahren]
[+ zum Essen zubereiten]
[+ Herd]
[+ Kühlschrank]
[+ Teil einer Wohnung]
Hier haben wir es mit einer Definition zu tun.Ich habe diese Definition bewusst mit "kulturell spezifischen" Merkmalen ausgestattet. Vor hundert Jahren hatten Küchen zum Beispiel keine Kühlschränke und es mag heute noch Landstriche geben, in denen es keine Kühlschränke gibt.
Wie wir später (am Aichinger-Text) sehen werden, lädt sich ein Wort wie "Küche" in einem individuellen, lyrischen Kontext mit ganz anderen Merkmalen auf. Technisch gesprochen: das Semem wird mit anderen, merkmalstragenden Bedeutungen aufgeladen, so dass man den lyrischen Kontext zunächst als eine "Umdefinition" bezeichnen kann.
Noch eine Anmerkung zur Notation der Sememe: Die Merkmale werden für gewöhnlich durch ein Plus gekennzeichnet. Manchmal fehlt die eckige Klammer. Ich schreibe diese aus, weil ich mir dadurch signalisiere, dass ich mich auf ein Merkmal beziehe. Fehlt ein Merkmal, so wird dies durch ein Minus gekennzeichnet. So ist eine Leiche [- lebendig]. Besonders wichtige Merkmale markiere ich mir durch ein zweifaches Plus ([++ ...]), besonders wichtige fehlende Merkmale (zum Beispiel, wenn ein Gegenstand wider Erwartens eine Eigenschaft nicht aufweist) durch ein Doppelminus ([-- ...]). Das ist aber meine individuelle Notation.
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