03.02.2019

4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt

Das Buch beginnt oder endet – wie man will – mit einer Plattitüde:
Die sogenannte digitale Transformation (der Gesellschaft) ist rekursiv und nicht-trivial.
So ist es als Klappentext zu lesen. Banal ist diese Aussage, weil Gesellschaften schon immer, auch für die Systemtheorie, rekursiv und nicht-trivial waren; und das alleine aus dem Grunde, weil die Gehirne all der Menschen, die an Gesellschaft teilhaben, nicht-trivial sind.

Alte und neue Gesellschaftsformen

Was also bietet uns dieses Buch außer dieser einen trivialen Aussage über Nicht-Triviales? Baecker macht sich auf die Suche nach den Merkmalen der digitalen Gesellschaft. Diese sieht er in 26 Bereichen gegeben; in ebenso vielen Kapiteln erläutert er die Transformation.
Fast jedes Kapitel beginnt mit einem historischen Überblick. Wer der Systemtheorie schon längere Zeit gefolgt ist, erkennt hier zunächst die klassische Einteilung in tribale, antike und moderne Gesellschaft. Dieser fügt Baecker dann eine nächste Gesellschaft hinzu.

Zum Beispiel Medienkomplexität

Nehmen wir eines der klassischen Themen der Systemtheorie: die Komplexität der Medien. Hier hat jede neue Gesellschaftsform die Komplexität alter Medien übernommen und fügt diesen neue Medien, besser müsste man sagen: Medienbereiche, hinzu.

Sprache in tribalen Gesellschaften

Die tribale Gesellschaft hatte hier ihre eigene Komplexität, da die Sprache einen Referenzüberschuss bedingt. Man kann auf mehr verweisen, als die Sinne hergeben. Man kann sich von früheren Zeiten erzählen oder eine Jagd planen; der Horizont mag vor dem Wanderer zurückweichen, vor dem Erzähler jedoch nicht. Wer aber viel erzählen kann, muss auch auswählen, was er gerade sagt. Komplexität und Reduktion gehen Hand in Hand.

Schrift in antiken Gesellschaften

Dasselbe passiert dann noch einmal in der antiken Gesellschaft mit der Schrift. Die Schrift ermöglicht Archive, Briefe, die von Menschen überbracht werden, die deren Inhalt nicht kennen, schließlich sogar so etwas wie erste Bücher, auch wenn diese abgeschrieben werden mussten. Schrift allerdings ermöglicht selten Rückfragen. Die Symbole sind trügerisch, selbst wenn der Absender als verlässlich gilt. Die Schrift wiederholt, was schon für die Sprache galt: es gibt eine mediale Komplexität und man muss in der Gesellschaft daran arbeiten, wie diese nun zu reduzieren sei.

Buchdruck und Kritiküberschüsse

Mit dem Buchdruck entsteht die moderne Gesellschaft. Waren die antiken Schriften gehütete Schätze, die mühsam abgeschrieben werden mussten, so kann das Wissen, oder was man dafür hielt, nun viele Absender erreichen, man befürchtet: alle. Und damit kann Wissen an allen möglichen Orten überprüft werden und sehr ungewollt können sich Stimmen zu Wort melden, die es anders und besser wissen. Die moderne Gesellschaft ist gekennzeichnet durch einen Kritiküberschuss und muss sich nun damit herumschlagen, diese Kritik in gute und schlechte Kritiken, nützliche und zerstörerische einzuteilen.

Kontrollüberschüsse

Was aber macht nun die nächste Gesellschaft aus? Welchen Überschuss produzieren die elektronischen und digitalen Medien? Baeckers Antwort ist nicht sonderlich neu. Sie ist noch nicht einmal an den elektronischen Medien erstmals durchbuchstabiert worden. Es gebe, so Baecker, mit den neuen Medien einen Kontrollüberschuss. Es gibt immer mehr Daten, die so oder anders zusammengefasst und auf die so oder anders reagiert werden kann. Damit muss aber wiederum ausgewählt werden, was an Kontrolle möglich ist.
Abgesehen davon, dass der Wandel von einer Disziplinar- zu einer Kontrollgesellschaft von Michel Foucault postuliert und an der Biopolitik durchbuchstabiert wurde, hat diese simple Behauptung noch eine andere Grobheit zu bieten: so, wie man in den frühen Zeiten des Buchdrucks, und eigentlich sogar noch heute, die Zugänge zu bestimmten Druckwerken zu disziplinieren suchte – so hatten Frauen lange Zeit keinen Zugang zu bestimmten Bibliotheken, und dem gemeinen Volk war die Lesefähigkeit weder vorgeschrieben noch gar erwünscht –, so dürfte man heute doch mit ähnlichen disziplinierenden Mechanismen rechnen.
Auf diese geht Baecker aber nicht ein. Das lässt sich zwar auf der einen Seite dadurch entschuldigen, dass dieses Buch noch eine ganze Menge anderer Themen abzuarbeiten hat, und dass deshalb genauere Betrachtungen auf später verschoben werden müssen. Aber es macht dieses Kapitel dann doch recht nichtssagend.

Sentenzen und Banales

Postmoderne Rückwendungen

Baecker erweist sich als ein Meister der Sentenz. Und wo er diese anbringt, muss man innehalten und nachdenken. Er kann dies, wo er von jeher seine zentralen Themengebiete hat: der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik und der Organisation. Doch immer wieder hinterlässt er auch Ratlosigkeit. So ist es mir mit dem Kunst-Kapitel gegangen, wo er zwischen Handwerk und virtueller Konzeptkunst alles gelten zu lassen scheint: das ganze Sammelsurium, welches sich seit der tribalen Gesellschaft angesammelt hat. Das ist schlicht gesagt die Überbietung von dem, was Lyotard der »Postmoderne« ins Poesie-Album geschrieben hat: Sie solle doch bitteschön die Moderne fröhlich – und besser! – wiederholen.

Nützliches Scheitern - die Erziehung

Auch die Erziehung wird recht hilflos bedacht. Man weiß nicht so recht, wovon er eigentlich redet, von der grundlegenden Schulbildung oder von der Weiterbildung. Dass der Projektunterricht in Schulen anders verläuft, als jene Projekte, die sich Weiterbildung nennen (oder schimpfen), macht diese gerade nicht vergleichbar und auch nicht reduzierbar auf einen generellen Projektunterricht.
Hübsch ist dieses Kapitel trotzdem. Beginnt es doch mit den folgenden Sätzen:
Die Erziehung der nächsten Gesellschaft bleibt ratlos. Sie verlässt sich auf eine Zweiseitenform, der gemäß wichtig nur sein kann, was nicht in der Schule vorkommt.
Und provoziert dann weiter, genau darauf solle sich die Schule auch verlassen. Unsinn ist das natürlich, da Schreiben, Lesen und Rechnen weiterhin wichtige Grundlagen unserer Kultur bleiben werden; und ich nehme nicht an, dass diese dann nur noch als Projekt unter anderen den Menschen zur Verfügung gestellt werden. Aber ganz unrecht hat er eben auch nicht. Wissen ist immer ein Differenzschemata, sei es Wissen in Differenz zu anderem Wissen, sei es in Differenz zur Meinung. Was man in der Schule lernt, mag morgen veraltet sein. Aber darauf kommt es nicht mehr an. Sogar heute ist das schon so. Das Bohrsche Atommodell gilt längst nicht mehr; aber für den Schüler reicht es, um grundlegende physikalische Sachverhalte anschaulich zu machen. Der Scholast im Pudel ist ausgetrieben, das Studienzimmer abgeschafft und der Kerzenschein elektronisch überhöht; den Faust darf man trotzdem lesen, und sei es nur, um festzustellen, dass sich manche Sachen nie ändern, andere aber schon.

Der Witz am Ende

So stolpert das Buch zwischen Höhen und Tiefen, arbeitet sich an Konsum, Religion, Liebe, Technik und Recht, Sport und Gesundheit, Vertrauen und der nächsten Form des Humors (sic!) ab. Ob man also aus diesem Buch etwas lernt? Doch auch darauf weiß der Autor eine Antwort zu geben. Der letzte Satz des Buches lautet:
Der Witz der nächsten Gesellschaft ist der Witz einer Intelligenz, die nicht mehr weiß, wie ihr geschieht.
Und das ist nun, wie manches in diesem Buch, so geistreich und witzig, wie anderes in diesem Buch es nicht ist.

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