Eben musste ich lachen, und dann doch schlucken. Da beklagt sich ein äußerst rechtslastiger, um nicht zu sagen offen rassistischer FaceBooker darüber, dass Deutschland um 31 Plätze in der Rangliste der sichersten touristischen Länder abgefallen sei. Für ihn und seine fleißigen Kommentatoren steht fest, dass daran die Asylanten schuld sind. Und deshalb die Bundesregierung weg müsse. Kein Wort verliert der Mensch dagegen über die geradezu monströse Zunahme rechtsradikaler Gewalttaten und dass verschiedene westliche Länder, unter anderem Kanada, das für bestimmte Teile Deutschlands Reisewarnungen ausgegeben haben. Offensichtlich gibt es Menschen, die für ihr Verhalten, ihr ständiges Geplärre und Gehetze, keine Verantwortung übernehmen wollen. Das genau ist das Problem dieser „Wirklichkeitserklärer“.
Harald Martenstein
Aber eigentlich wollte ich etwas ganz anderes schreiben, nämlich zu Harald Martenstein. Der ist auf der Internet-Seite Agent*in als „Journalist, der heteronormative Positionen vertritt“ charakterisiert worden. Und unter anderem hat Dietmar Kanthak vom Generalanzeiger Bonn darauf unwirsch reagiert. Dazu werde ich aber gleich kommen. Martenstein jedenfalls hat in seinem Feuilleton-Artikel Schlecht, schlechter, Geschlecht eine ganze Menge an Belegen aufgefahren, warum sich ihm die Frage nach dem kulturellen Geschlecht (also dem gender) nicht so einfach darlegt; zumindest nicht in der Einfachheit, die er bei den gender-Theoretikern zu lesen meint. Der Artikel ist nicht ganz so schlecht, wie man es sonst von Martenstein gewohnt ist. Seine Glossen sind gelegentlich bedauernswert lapidar, gelegentlich schwülstig; bei politischen Kolumnen vergreift er sich mit seinen Begriffen regelmäßig. Um Plattitüden kommt allerdings Martenstein auch hier nicht herum. Diese griffige Formel „Anatomie ist ein soziales Konstrukt“, angeblich von Judith Butler, und zumindest nicht gänzlich falsch, kann ohne Hintergründe missverstanden werden. Die Hintergründe sind bei Butler auf hohem Niveau. Durch einen Satz, der so herausgerissen auch ein Stammtisch-Spruch sein könnte, sind diese natürlich nicht zu erreichen.
Antiwissenschaft
Auf diesen Artikel antwortet Isabel Collien. Sie greift Martenstein scharf an:
Sein Artikel steht in einer perfiden Tradition, die Erkenntnisse von Frauen als unwissenschaftlich diffamiert. Geschlechterforschung beruht nämlich, so Martenstein, „auf einem unbeweisbaren Glauben“ und ist daher maximal als Antiwissenschaft zu betrachten.
Martenstein leistet sich sogar noch mehr:
Das Feindbild der meisten Genderforscherinnen sind die Naturwissenschaften. Da ähneln sie den Kreationisten, die Darwin für einen Agenten des Satans und die Bibel für ein historisches Nachschlagewerk halten.
Man frage sich an dieser Stelle, was die Bibel denn mit Naturwissenschaften zu tun habe und wie man die Kritik an gewissen Ausprägungen des christlichen Glaubens durch gender-Theoretikerinnen in diesem Satz unterzubringen habe.
Verpönte Naturwissenschaft?
Nein, ich möchte nicht der gesamten gender-Theorie das Wort reden. Sicherlich gibt es auch hier einiges Seltsames und Schrilles; aber dies ist wohl in jeder Wissenschaft so.
Was die Naturwissenschaften angeht, so hat Judith Butler in ihrem Buch Körper von Gewicht in dem Unterkapitel »Sind Körper etwas rein Diskursives?« und im darauf folgenden Unterkapitel eine recht komplexe Antwort gegeben, die weder die Naturwissenschaften exkommuniziert, noch ihnen einen politischen und ethischen Freibrief ausstellt, auch nicht in Bezug auf die Konstruktion von Anatomie. Die Frage, die sich Martenstein nämlich nicht gestellt hat, ist die Reichweite, die ein solcher Satz wie „Naturwissenschaften reproduzieren herrschende Normen.“ im sprachlichen Geflecht besitzt. Natürlich wäre der Satz günstiger gewesen, hätte er gelautet: „Naturwissenschaften reproduzieren auch herrschende Normen.“ – Denn es gibt in dem Geflecht der Sprache und der sich überkreuzenden Kodierungen keine Eindeutigkeiten, sondern nur Mehrdeutigkeiten, die sich systematisch ausarbeiten lassen.
Collien weist in ihrer Entgegnung auf Martenstein sehr richtig auf Donna Haraway hin, einer international renommierten Biologin. Diese hat Martenstein nicht zitiert. Und auch wenn jetzt noch immer die Möglichkeit besteht, dass Haraway nicht recht hat, so müsste man, um sie zu kritisieren, ihrer Profession gründlicher nachgehen als Martenstein getan hat (und wahrscheinlich jemals tun wird).
Verwirrungen
Trotzdem kann ich nicht ganz die scharfe Kritik nachvollziehen, die Collien an Martenstein übt. Denn sein Artikel hat natürlich auf der einen Seite sehr nachlässige, grobe Stellen, und auf der anderen Seite zeigt er ein ganz allgemeines Problem: Hier hat sich jemand auf die Suche gemacht und ist irgendwie (also: „irgendwie“) daran gescheitert. Ja, auf der einen Seite haben gerade Journalisten, aber eigentlich jeder gebildete Bürger (und jede Bürgerin) Pflicht zur Selbstinformation. Aber auf der anderen Seite ist das Feld der Geschlechterforschung so komplex, dass vielleicht nicht einmal mehr Spezialistinnen alle Stimmen zur Kenntnis nehmen können.
Ich jedenfalls hätte gerne Menschen an meiner Seite, die in solchen Fragen bewandert sind und denen ich meine Fragen stellen könnte, auch wenn diese gelegentlich wohl etwas dämlich ausfallen würden (und auch meine Lektüre von Judith Butler wird mich wohl nicht vor Missgriffen schützen, denn dies würde voraussetzen, dass ich sie in ihrer Bedeutung für die Kultur umfänglich verstanden hätte; obwohl ich das nicht beweisen kann, erlaube ich mir doch selbst eine beschränkte Sichtweise zuzusprechen).
Soll heißen: manchmal ist es nicht Heteronormativität, sondern einfach nur Unkenntnis. Auf einige dieser blinden Flecken weist Collien hin.
Imaginäre Anatomie
In einer umfangreichen Diskussion insbesondere Lacans (an oben angegebener Stelle) zeigt Butler, dass die Anatomie in sich selbst gespalten ist. Zwar gibt es diese körperlichen Grundlagen, aber zugleich gibt es eine Zugänglichkeit der Anatomie im Diskurs, und diese Zugänglichkeit wird eben nicht von der Anatomie selbst reguliert, sondern von den Kodierungen, die innerhalb einer Zeit und einer Gesellschaft möglich sind. In gewisser Weise kann man deshalb sagen, dass die Anatomie zwar etwas Biologisches ist, aber die Möglichkeit, darüber zu reden und diese Anatomie wahrnehmbar zu machen, nicht. Insofern wäre es verkürzt, die Anatomie als soziales Konstrukt zu bezeichnen; sie ist selbstverständlich biologisch, aber nur über das soziale Konstrukt erreichbar und damit von diesem verstellt, verschoben und verkannt.
So bleibt am Ende die Frage, warum wir uns nach einem Jahrhundert ständiger Verschiebungen im wissenschaftlichen Bereich mit solchen Menschen abgeben müssen, deren Meinung ist, mit der Hinterfragerei solle doch endlich mal genug sein. Und es ist auch nicht einzusehen, warum gerade Martenstein dieser Debatte einen Schlussstrich setzen sollte. Vermutlich wird er diese Formulierung ablehnen, und vermutlich wird er sich sogar überzeugen lassen, dass auch auf dem Gebiet von Anatomie und Diskurs weitere Forschungen nötig sind. Und trotzdem ist es richtig, ihm seine Automatismen der Interpretation aufzuzeigen und zu hinterfragen.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung
Kehren wird zu dem Artikel von Kanthak im Generalanzeiger Bonn zurück. Das Schlussplädoyer des Journalisten lautet:
Man kann die Emanzipation der Geschlechter, Gleichberechtigung, Antidiskriminierung und Anerkennung aller sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten als zentrale Elemente der Menschenrechte verstehen. Dafür darf man aber nicht leichthin das Recht auf freie Meinungsäußerung zur Disposition stellen.
Und für alle, die hier die feinen Verwerfungen nicht zu lesen verstehen: jenes „man kann“ ließe sich schon als ein „man muss aber nicht“ deuten; und noch schlimmer ist der darauf folgende Satz, denn das Recht auf freie Meinungsäußerung wird Martenstein gerade nicht abgesprochen. Ein Widerspruch ist eben noch kein Verbot. Wenn etwas falsch erscheint, dann muss widersprochen werden. Im Gegenzug überdreht Kanthak seine Kritik am „digitalen Pranger“ in einer Art und Weise, dass die Berechtigung zur Kritik den Autorinnen der Heinrich-Böll-Stiftung (fast schon) abgesprochen wird.
Ganz zum Schluss schreibt er dann noch:
Die Böll-Stiftung hat böse Geister losgelassen. Wer fängt sie wieder ein?
Damit wird die zum Teil recht unerfreuliche Diskussion um den gender-Begriff gerade nicht jenen Hetzern und Lügnern zur Last gelegt, die von einer Frühsexualisierung und Indoktrination mit homosexuellen Lebensweisen schwafeln, und in deren Kielwasser ein Martenstein dahintreibt, wenn auch mit gehörigem Abstand. Diese bösen Geister sind wesentlich früher der Büchse entwichen, in der sie ihre Existenz fristeten; wenn sie denn jemals eingesperrt waren. Was man hier und da gut bezweifeln darf.
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