Dass der Wille ein hübsches, aber schwierig zu fassendes Ding sei, das hatte ich, glaube ich, schon einmal erwähnt. Erwähnt hatte ich irgendwo auch, dass mich der Begriff der Natalität, so, wie er bei Hannah Arendt vorkommt, sehr interessiert. Natalität, das bedeutet, wenn ich hier so ins Grobe sprechen darf, das Vermögen, etwas neu anzufangen.
Inhaltsverzeichnis
Uns ist ein Kind geboren
Jesus von Nazareth
Neben vielem anderen durchstreife ich in den letzten Monaten meine Aufzeichnungen zu Derridas Vorlesung über die Geste des Verzeihens. Im fünften Kapitel von Arendts Vita Activa, dem Kapitel über das Handeln, merkt Arendt an:
Im Unterschied zum Verzeihen, das im Politischen niemals ernst genommen worden ist, schon weil es in einem religiösen Zusammenhang entdeckt und von ›Liebe‹ abhängig gemacht wurde, hat das Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten, und die ihm innewohnende Macht, das Zukünftige zu sichern, in der politischen Theorie und Praxis, wie sie uns aus der Überlieferung entgegentreten, eine außerordentliche Rolle gespielt. (S. 311)
Am Ende setzt Arendt dann das Schwergewicht des menschenwürdigen Daseins auf das Verzeihen, nicht auf das Versprechen.
Dass es in dieser Welt eine durchaus diesseitige Fähigkeit gibt, »Wunder« zu vollbringen, und dass diese wunderwirkende Fähigkeit nichts anderes ist als das Handeln, dies hat Jesus von Nazareth … nicht nur gewusst, sondern ausgesprochen, wenn er die Kraft zu verzeihen mit der Machtbefugnis dessen verglich, der Wunder vollbringt, wobei er beides auf die gleiche Stufe stellte und als Möglichkeiten verstand, die dem Menschen als einem diesseitigen Wesen zu kommen. (S. 316)
Natalität
Kurz darauf bezeichnet Arendt die Tatsache der Natalität als das Wunder, das den Gang der menschlichen Dinge „vor dem Verderben rettet“. Das »Wunder« bestehe darin,
dass überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins. (S. 317)
Wie sehr dieser Neuanfang den Geburtsstatistiken widerspricht, wird deutlich, wenn man den Neugeborenen nicht als animal laborans, sondern als zoon politikon begreift:
Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen –, d.h., in der Erfahrung des Lebens, die vorgeprägt ist von den Prozessabläufen, die ein Neuanfang unterbricht –, immer wie ein Wunder an. Die Tatsache, dass der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann daher nur heißen, dass er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, dass in diesem einen Fall das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, und dass das, was »rational«, d.h. im Sinne des Berechenbaren, schlechterdings nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden darf. (S. 216 f.; siehe dazu auch Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, S. 81 f.)
Willensfreiheit
Die dritte Antinomie
In seiner transzendentalen Dialektik behandelt Immanuel Kant den Streit um den freien Willen, was er auch als spekulative Vernunft bezeichnet. Dies soll uns an dieser Stelle nicht allzu sehr interessieren. In seinem Beweis führt Kant kein moralisches, sondern ein mathematisches Argument ins Feld. Die Kausalität sei, wenn man dies recht bedenke, der Vollständigkeit verpflichtet. Nun würde man aber, wenn man den Zuständen rückwärts in die Vergangenheit folgen würde, nicht nur der Zustand selbst, sondern auch dessen Kausalität kausal verursacht sein müssen, sodass sich, je weiter man in die Vergangenheit reist, das kausale Prinzip stetig verkomplizieren würde, bis eben keine Vollständigkeit mehr möglich sei. Und damit widerspreche sich das kausale Prinzip selbst (vgl KdrV B 474).
Die Freiheit zu handeln
In den Anmerkungen zu dieser dritten Antinomie nennt Kant das Vermögen, eine Reihe in der Zeit anzufangen, als prinzipiell bewiesen, aber nicht als eingesehen. Man muss also davon ausgehen, dass es möglich ist, etwas Neues zu beginnen. Wie dies aber genau funktioniere, sei noch nicht begriffen.
Dann nimmt er einen Einwand vorweg, den ich für bemerkenswert halte:
Man lasse sich aber hierbei nicht durch einen Missverstand aufhalten: dass, da nämlich eine sukzessive Reihe in der Welt nur einen komparativ ersten Anfang haben kann, indem doch immer ein Zustand der Dinge in der Welt vorhergeht, etwa kein absolut erster Anfang der Reihen während dem Weltlaufe möglich sein. Denn wir reden hier nicht vom absolut ersten Anfang der Zeit nach, sondern der Kausalität nach. (KdrV B 478)
Was Hannah Arendt als unendlich Unwahrscheinliches bezeichnet, wird bei Kant bewiesen, indem es mathematisch notwendig, aber ästhetisch undurchdrungen dargestellt wird. Kant zeigt sich auch in der Darstellung selbst als abstrakter. Bei Arendt ist es der Mensch, der etwas Neues anfängt, und bei ihr wird dies an die politische Daseinsweise des Menschen zurückgebunden. Der alte Königsberger dagegen sieht hier nur eine Art Nullpunkt der Kausalität.
Unbedingte Kausalität
Kurz zuvor spricht Kant von der Freiheit des Willens, als einer absoluten Spontanität der Handlung, oder, wie wir heute wohl recht missverständlich lesen werden, einer unbedingten Kausalität. Wie ich oben erläutert habe, hat Kant die vollständige Bedingtheit der Natur (und damit auch des Menschen) durch einen negativen mathematischen Beweis außer Kraft gesetzt. Wäre dem nicht so, dann wäre alles in der Natur bedingt, aus einem vorhergehenden Zustand erzwungen. Wir können jenes ›unbedingt‹ also nicht als das verstehen, als was wir es heute verstehen, nämlich als genaues Gegenteil, als gnadenlos, notwendig, unerbittlich. Die unbedingte Kausalität ist eine, die von nichts verursacht wurde. Es ist geradezu die Paradoxie einer Kausalität, nämlich einer Wirkung ohne Ursache, die erst dann, im weiteren Verlauf, wie eine Kausalität aussieht. (Hier ist an die Stoiker zu denken, die die Ursachen als sich unter einander bedingend, und die Wirkungen als sich unter einander bewirkend darstellen, während die Ursachen und die Wirkungen gerade nicht kausal zusammenhängen. Dies ist eine Denkweise, die dem modernen Menschen komplett widerspricht.)
Verantwortbare Kausalität
Das Problem schildert Kant dann so:
Dasjenige also in der Frage über die Freiheit des Willens, was die spekulative Vernunft von jeher in so große Verlegenheit gesetzt hat, ist eigentlich nur transzendental, und gehet lediglich darauf, ob ein Vermögen angenommen werden müsse, eine Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen. (KdrV B 476)
Hier ist anzumerken, dass Kant sich im Laufe seiner folgenden Werke immer wieder an diesem Vermögen abgearbeitet hat. Man müsste zum Beispiel die Kritik der teleologischen Urteilskraft, einem Teil der Kritik der Urteilskraft, zu nennen. Es ist klar, warum die Willensfreiheit dort eine so große Rolle spielt, setzt sich der Wille doch ein Ziel, ohne auf eine Kausalität zurückgreifen zu können. Pragmatisch gesehen argumentiert man immer mit einem vorher/nachher. Was die Willensfreiheit allerdings so schwierig macht, ist, dass sie auf ein solches vorher verzichten muss. Ihr lastet also die Gesamtheit der Verantwortung für den Ursprung einer Kausalität an.
Praktische Vernunft
Recht quer zur Bestimmung der Willensfreiheit steht bei Kant dann die Definition des Willens selbst. Diese Definition vollzieht er in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten in drei raschen, dogmatisch wirkenden Schritten. Zunächst bestimmt er die Wirkung des Naturdings nach Gesetzen. Das Naturding ist diesen Gesetzen unterworfen. Es kann sich nicht subjektiv zu ihm verhalten und es nicht objektiv erkennen. Erst das vernünftige Wesen bringe die Voraussetzung mit sich, Subjekt und Objekt zu trennen, und eine Handlung als subjektiv und objektiv notwendig zu erkennen. Dies sei aber nur gegeben, wenn die Vernunft den Willen bestimmt. Wie aber ist das dem vernünftigen Wesen (Kant redet nicht von Menschen) möglich? Nun, es besitzt ein Vermögen, nicht nach den Gesetzen selbst, sondern nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln. Die Vorstellungen der Gesetze nennt Kant Prinzipien, und das Handeln nach diesen Prinzipien sei der Wille.
Die Stelle bei Kant – in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – lautet dann so:
Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anders, als praktische Vernunft. Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt. (GMS, BA 37)
Der heilige Wille
Ich möchte nicht jedem Gedankengang und jeder Klippe dieser Definition nachgehen. Kant selbst bestimmt die Ambivalenz seiner Definition sehr gut. Zunächst sagt er, dass die Vernunft dem Willen (oftmals) nicht genüge, sodass dieser objektiv notwendig, aber subjektiv zufällig sei. Demnach werde der Mensch zu seinem Willen genötigt.
Den guten Willen setzt er mit dem göttlichen, bzw. dem heiligen Willen gleich. Dieser stünde zugleich unter den objektiven Gesetzen des Guten, würde durch diese Gesetze aber nicht genötigt, weil zugleich die Prinzipien seines Handelns durch die Vorstellung des Guten bestimmt würden.
Ein solcher Wille sei nicht von Geboten, Kant nennt diese auch Imperative, abhängig, welche einen Willen erzwingen, sondern wolle von sich aus das Gesetz. Imperative dagegen würden darauf hinweisen, dass die objektiven Gesetze auf eine ›subjektive Unvollkommenheit des Willens …, zum Beispiel des menschlichen Willens‹ stoßen.
Zwei Anmerkungen
Vielleicht stößt sich der eine oder andere Leser an dem Begriff objektiv. Tatsächlich sind Subjekt und Objekt bei Kant deutlich anders besetzt, und auch objektiv und subjektiv stehen nicht für real, bzw. emotional und persönlich, wie man dies heute gerne versteht. Objektiv ist der Erkenntnisinhalt, der gerade dadurch, wenn man nur ihn ins Auge fasst, besonders trügerisch ist. Weshalb der Akt der Erkenntnis, das Subjektive, viel gewisser zu erkennen ist.
Auffällig an der eben zitierten, bzw. umschriebenen Passage ist, wie und an welcher Stelle der Mensch auftaucht. Zunächst bezieht Kant seine Ausarbeitung nur auf ein vernünftiges Wesen, welches eines guten oder eines nicht ganz so guten Willens fähig sei. Erst in dem Moment, wenn es darum geht, die Unvollkommenheit des Willens durch ein Beispiel zu illustrieren, nennt er den menschlichen Willen. Diesen hatte er kurz zuvor dem heiligen oder göttlichen Willen gegenübergestellt.
Glückseligkeit
Stellt man diese beiden Anmerkungen zusammen, dann ist der unvollkommene Wille zugleich der subjektiv zufällige. Ein solcher Wille „scheitert“ daran, dass er nicht gemäß seiner eigenen Prinzipien handeln kann. In gewisser Weise beerbt Kant hier noch Aristoteles, bei dem die Glückseligkeit darin bestand, so zu handeln, wie man spricht, und so zu sprechen, wie man handelt, in einer Art vollendetem psychophysischen Parallelismus. Glückseligkeit war das höchste zu erringende Gut des tugendhaften Menschen, und soweit ich Aristoteles verstanden habe, hat sich diese Glückseligkeit des Tugendhaften dadurch steigern lassen, indem er unter anderen Tugendhaften lebt. (Was natürlich auch bedingt, dass das höchste Gut gelegentlich nicht ganz so hoch ist, zumindest der Steigerung noch fähig sei.)
Die Aufhebung der Willensschwäche im Pragmatisch-Spekulativen
Dem möchte ich noch einen letzten, recht spekulativen Absatz zufügen. Er wäre nun das, weswegen ich diesen Artikel lieber doch nicht geschrieben hätte.
Tatsächlich könnte dies sogar verrucht sein, was ich hier versuche. Denn nach Kant ist der Wille genau dann ein guter, wenn er sich gemäß des objektiv und subjektiv Notwendigen verwirkliche, also kategorisch wird und nur aus sich heraus handelt. Der kategorische Imperativ ist einer, der keinen Zweck über sich selbst hinaus hat, und man lese dies parallel zum interesselosen Wohlgefallen, der großen Kunstwerken eigen ist. Man könnte von einer pflichtlosen Pflicht sprechen. Trotzdem scheint die pflichtlose Pflicht nicht ganz makellos zu sein.
Sie betrifft allerdings nicht den Ursprung eines solchen Willens, der gemäß Kant die Nichtkausalität in die Kausalität einführt, sondern die Beliebigkeit, wie diese Kausalität weitergeführt wird. Sie ist, und dies ist meine Spekulation, durch eine ganz andere mathematische Unvollkommenheit bedroht, nämlich der, nur einmal, und nur situativ, einen solchen Neuanfang neu anfangen zu können. Der kategorische Imperativ scheitere daran, dass er im Akt der Willensfreiheit auf die Zufälle der Weiterführung trifft. Plastischer gesagt scheitert er daran, dass er nicht zugleich mit allen Menschen diesen Neubeginn wird teilen können und dass er nicht von allen Menschen aufgenommen werden kann. Der kategorische Imperativ scheitert am sozial Erhabenen, an der schieren Menge von Menschen.
So bleibt die Willensfreiheit immer nur eine Willensfreiheit auf Probe, und der kategorische Imperativ, der für sich selbst subjektiv und objektiv notwendig ist, zeigt seine Notwendigkeit immer nur einer begrenzten Anzahl von Menschen. Der Imperativ muss, will er nicht solipsistisch den Prinzipien den Vorrang vor seiner Verwirklichung geben, pragmatisch bleiben, und d.h. in diesem Falle spekulativ, denn was mit dieser Verwirklichung anderswo geschehen wäre, entzieht sich der empirischen Wahrnehmung; die Kausalität, die der Nichtkausalität folgt, wird nur dort tatsächlich (d.i. empirisch), wo sie stattfindet.
Hier scheint sich die Willensschwäche, also die ›subjektive Unvollkommenheit des Willens‹, mit einer ›strukturellen Unvollkommenheit des Willens‹ zu verschmelzen. Zugleich werden sich das mathematisch Erhabene, welches die Forderung der Kausalität ins Absurde treibt, und das sozial Erhabene (von dem Kant nicht spricht) ähnlich genug, um sie verwechseln zu dürfen. Dann aber wäre die Willensschwäche zugleich auch die Chance, sich an der ganzen Menschheit zu vergesellschaften.
Sie würde dadurch auch erst behoben.
Befehlen und gehorchen
dokai moi
In ihrem letzten Werk greift Arendt auf die Werke des Schweizer Biologen Adolf Portmann zurück. Dieser hatte, durchaus im Gefolge der Gestalttheorie, die Funktionen nicht als den Organen komplett immanent, als Verursacher angesehen, sondern in Wechselwirkung über die Grenze der Organe oder des Organismus hinaus betrachtet. Arendt zitiert ihn folgendermaßen:
Allen Funktionen der Selbsterhaltung und Arterhaltung vorgeordnet … finden wir die einfache Tatsache des Erscheinens als Selbstdarstellung, wodurch diese Funktionen sinnvoll werden … (Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, München 2015, S. 37)
Deutlich wird hier, dass Arendt, die bei den Phänomenologen in die Schule gegangen ist, dem Phänomen selbst eine große Bedeutung beimisst. Zugleich aber kann sie dadurch das Politische der gesamten Natur betonen, ist doch das Politische ebenfalls ein Erscheinen als Selbstdarstellung, als autonomes, aber auf Wechselwirkung bedachtes Individuum.
Dementsprechend taucht ein barocker Topos gleich zu Beginn des Buches auf:
Lebewesen haben ihren Auftritt wie Schauspieler auf einer für sie aufgebauten Bühne. (Ebenda, S. 31)
Das große Welttheater allerdings findet ohne göttliche Hilfe statt, und man darf hier spekulieren, dass es auch auf den heiligen oder göttlichen Willen verzichten muss. Jenes ›es scheint mir so‹, das dokai moi, ist zugleich die Anerkennung des Scheins und des Perspektivismus.
Das ewige Zurückweichen der Wahrheit findet sich zugleich darin, dass der Schein nur zugunsten eines anderen Scheins überwunden werden kann, die Perspektive nur verschoben, aber nicht aufgelöst werden kann.
Die Komplikation des Willens
Nietzsche hat das Konzept des Willens deutlich anders gefasst. Im Prinzip antwortet er damit auf das Problem Kants, die Willensfreiheit zwar ableiten, aber nicht begreifen zu können. Bei Nietzsche ist das
Wollen … vor Allem etwas Kompliziertes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, – und eben im Einen Worte steckt das Volks-Vorurteil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht der Philosophen Herr geworden ist. … in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesen „weg“ und „hin“ selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir „Arme und Beine“ in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir „wollen“, sein Spiel beginnt.(Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. in ders.: KSA V, § 19, bzw. S. 31-34)
Sich-selbst-Befehlen
Nietzsche bereitet in diesem Aphorismus einigen Paralogismen des Willens den gedanklichen Nährboden. Zunächst hebt er pointiert hervor, dass der Wille eine Dreifaltigkeit aus Fühlen, Denken und Affekt sei. Der Affekt sei jener des Kommandos. Und dies präzisiert er dadurch, dass er der Willensfreiheit eine ganz andere Deutung gibt, als Kant:
Das, was „Freiheit des Willens“ genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss: „ich bin frei, „er“ muss gehorchen“ – dies Bewusstsein steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener gerade Blick, …
Allerdings hat Nietzsche hier keineswegs den Befehlshaber, sei es in der Armee, sei es in der Wirtschaft, im Auge. Es ist der Wollende, der sich selbst etwas befiehlt:
Ein Mensch, der will –, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht. … insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind …
So dass die Freiheit des Willens keineswegs in der äußeren Welt gesucht werden muss, sondern im Verhältnis zu sich selbst, also in der Tugendhaftigkeit (um hier noch einmal auf Aristoteles anzuspielen), die Nietzsche hier als Lust an der Selbstbeherrschung versteht (und damit gerade nicht in einem griechischen Sinne):
„Freiheit des Willens“ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, – der als solcher den Triumph über Widerstände mit genießt, aber bei sich urteilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinden.
Sich-selbst-Gehorchen
Der letzte Ausschnitt aus dem gesamten Aphorismus verweist deutlich auf eine seltsame Logik. Derjenige, der sich befiehlt, gehorcht auch sich selbst. Das Wollen selbst scheint zunächst in sich selbst zu laufen, und etwas weiter unten auf der selben Seite redet Nietzsche dann auch von dem ›dienstbaren „Unterwillen“ oder Unter-Seelen‹. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn kurz zuvor hat Nietzsche diesem Seelenbau bereits eine ganz andere Menge hinzugefügt, jene Menge, die Widerstand leistet. Nun könnte man behaupten, dass dieses Sich-selbst-Befehlen und Sich-selbst-Gehorchen um weitere Unter-Seelen erweitert, die überwunden werden müssen. Jedoch fährt Nietzsche auf irritierende Art und Weise fort:
der [Wollende] als solcher den Triumph über Widerstände mit genießt, aber bei sich urteilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde
Man frage sich hier, was das für ein Wille ist, der über die Widerstände triumphiert, ohne sie selbst überwunden zu haben. Nietzsche sagt uns nun nicht, ob es hier vielleicht eine dritte Partei gäbe, die an dieser Niederschlagung der Widerständigen beteiligt sei, was den Schluss nahelegt, dass der Widerstand eine Inszenierung ist, um dem Befehlenden seinen Triumph zu ermöglichen. Mithin sei im Widerstand schon die Niederlage mit angelegt, ja es sei wesentlicher Sinn und Zweck des Widerstands, zu unterliegen. Doch wem unterliegt der Wollende? Immer nur sich selbst.
Die Freiheit des Willens
Was uns Nietzsche hier deutlich macht, ist, dass die Freiheit des Willens auf einem großartig angelegten Selbstbetrug beruht. Der Wille überwindet nur sich selbst, wenn auch sich selbst als einem anderen.
Wir können an dieser Stelle verstehen, wie Nietzsche auf Kants Paradoxie der Nichtkausalität der Kausalität antwortet. In einem ersten Schritt nimmt er das Vermögen, welches Kant spekulativ einführt, und vervielfältigt es: der Wille ist eine Komplikation. In einem zweiten Schritt, den ich oben nicht erwähnt habe, weist er auf die Täuschung hin, die dem Wörtchen ›Ich‹ anhaftet, indem es über die Zweiheit von Befehlendem und Gehorchendem hinwegtäusche und sie als Einheit präsentiere. Und schließlich sei die Freiheit des Willens nur eine Selbstüberwindung, allerdings eine Selbstüberwindung, die wiederum inszeniert ist, um jenem befehlenden Seelenanteil den Triumph und die Lustgefühle zukommen zu lassen.
Und anders als bei Hannah Arendt ist nicht die Welt die Bühne, sondern die eigene Seele.
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