12.07.2015

Gewaltfreie Kommunikation

Gelegentlich muss ich mir große Fehler eingestehen. So hatte ich in den letzten Jahren gelegentlich das Vergnügen (also eigentlich das „Vergnügen“), es mit Vertretern der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg zu tun zu bekommen. Ich habe mich regelmäßig ziemlich gegraust, ein völlig esoterisches Völkchen, die die allergrößten Dummheiten durch die Gegend warfen, diese aber als besonders hilfreich empfanden, wohl weil diese mit einer möglichst sanften Sprechweise vorgetragen wurden.
Nun wurde mir diese Aufgabe erneut zugetragen; diesmal allerdings muss ich nicht Rücksicht auf irgendwelche seltsamen Zeitgenossen nehmen. Also habe ich mir gestern Bücher zu dem Thema gekauft, teils von Rosenberg selbst, teils von prominenten Vertretern seiner Methode. Und siehe da, es gibt doch wesentlich mehr Anknüpfungspunkte, als ich gedacht hätte.

Fehllektüre

Wie immer scheint diese recht lückenhafte Lektüre des Originals vor allem dadurch zustande gekommen zu sein, dass die Vertreter wenig Vergleichsmöglichkeiten mitgebracht haben. Etwas ähnliches bemängelte ich ja schon seit Jahren bei der Wiedergabe neurophysiologischen Erkenntnissen. Wenn hier nicht von außen weitere Fragenstellungen an ein Buch herangetragen werden, so hat es den Anschein, werden wichtige Aspekte einfach überlesen.
Früher hat man dies durch eine gute Allgemeinbildung verhindern können. Heute gibt es eine solche gute Allgemeinbildung nicht mehr; zumindest nicht mehr so häufig (oder unsere modernen Massenmedien geben den Menschen mit einer geringen Allgemeinbildung zu häufig die Gelegenheit, sich zu produzieren). Doch auch dann, wenn man eine solche Bildung wertschätzt, ist der Kanon des zu Erlernenden unsicher geworden, eine Entwicklung, die ich durchaus begrüße, auch wenn es mir bei bestimmten Themen (bei meinen Lieblingsthemen) schwer fällt, wenn andere Menschen sich gerade dafür nicht interessieren.
Bildung, so könnte man heute behaupten, ist durch eine flexiblere Vernetzung verschiedener Themenbereiche zu ersetzen. Die Erforschungen zum guten Lernen in den letzten Jahren zeigen sehr deutlich, dass das Wissen weniger in hierarchischen Bäumen, als in einem polyvoken Geflecht organisiert ist.

Gefühle und Bedürfnisse

Giraffen und Wölfe

Was habe ich mich über die Begriffe Giraffensprache und Wolfssprache lustig gemacht. Und tatsächlich sind es recht unglücklich gewählte Begriffe, zumindest, wenn man sich einigermaßen mit den Tieren auskennt. Zudem kommt noch hinzu, dass Deleuze und Guattari, zwei Philosophen, die mich seit 25 Jahren sehr interessieren, einen ebenso engen, aber ganz anderen Gebrauch dieser beiden Tiere zeigen.

Giraffensprache I

Allerdings kann ich mich mit der Giraffensprache aus ganz unterschiedlichen Gründen anfreunden. Und so, wie Rosenberg es schreibt, klagen wir sogar auf ähnliche Art und Weise.
Rosenberg kritisiert, dass unsere Sprache zu wenig Bedürfnisse und Gefühle thematisiert, dass immer von Forderungen, Pflichten und Normen gesprochen wird. Und genau dies hatte ich bereits vor vielen Jahren insbesondere an deutschen Schriftstellern kritisiert. Meine Intention war zwar eine völlig andere: ich fand die Erzählungen zu oft unlebendig, hölzern. Und wer liest schon gerne solche Erzählungen? Doch auf den zweiten Blick sind unsere Absichten gar nicht so verschieden. Bedenkt man nämlich, dass viele unserer Bedürfnisse und Gefühle ähnlich sind und dadurch eine Identifikation ermöglichen (zumindest, wenn man Fritz Breithaupt - Kulturen der Empathie - folgt), dann sind dies genau die Punkte, durch die man sowohl mit einer Hauptfigur mit fiebert, als auch gegenüber einer realen Person respektvoller und achtsamer handelt.
Im Prinzip bin ich also ebenfalls ein Vertreter der Giraffensprache. Nicht ganz so sicher bin ich mir, vor allem bei den von mir bevorzugten Erzählungen, ob es immer so gewaltfrei zugehen muss.

Noch ein alter Bekannter: Verbinseln und propositionale Relationen

Körperraum und Seelenwelt

Mehr aber noch scheint mir, dass die gewaltfreie Kommunikation eine solche ist, die ein Subjekt (also das jeweilige Selbst) in seiner Umwelt verortet. Ich hatte diese Techniken einmal sehr ausführlich in Bezug auf die Romane von Stephen King behandelt, hier unter den Begriffen Körperraum und Seelenwelt, behandelt. Körperraum und Seelenwelt trennen zugleich die physikalische von der sozialen Welt, die naturwissenschaftliche von der ethisch-politischen Argumentation. Die Verortung (die ich gelegentlich auch Trivialisierung nenne) geht mit einer Trennung zweier Sphären einher.

Verbinseln

Tomasello schreibt in seinem Buch Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens von der Ausbildung komplexerer grammatischer Strukturen. Zunächst zeigen Kleinkinder eine sogenannte Pivot- oder Angelgrammatik; damit ist ein Satzbau gemeint, der anhand eines feststehenden Wortes ein zweites, variables Wort zeigt: Mama alle (die Mutter ist nicht zu sehen), Milch alle (die Milch ist leer), Baby alle (das Kind hat sich versteckt). Dann rücken rasch Verben ins Zentrum des Sprechens: daraus entsteht die Verbinsel-Grammatik, bei der das jeweilige Verb mehr oder weniger feststehende Plätze ausbildet, die durch andere Wörter zu besetzen sind. Diese Plätze nennt man Aktanten.
Aktanten fügen einem Satz gleichsam das Material hinzu, während das Verb die Bewegung bezeichnet; ein Satz bildet so eine Art bewegter Komposition. Der Subjektaktant hat darin einen vorrangigen Platz, weil von ihm oft die Absicht zur Bewegung oder das Weitertragen der Bewegung ausgeht, je nachdem, ob es sich um ein lebendes Wesen oder einen physikalischen Körper handelt. (Ich weiß natürlich, dass diese Art der Beschreibung sehr naiv ist und keineswegs der komplexen Grammatik entspricht, die erwachsene Menschen sprechen.)

Piaget mit Bruner

Nach Piaget entwickelt sich das menschliche Denken in vier großen, prägnanten Phasen. Zwar hat die Entwicklungspsychologie hier vieles revidieren müssen und mittlerweile ist auch nicht mehr so sicher, ob Menschen im allgemeinen die vierte Phase erreichen können, aber zumindest ist dieses Schema im Groben immer noch hilfreich.
Die zweite Phase zeichnet sich dadurch aus, dass Vorstellungen und Wörter aneinandergeklebt werden. Piaget nennt diese die präoperationale Phase. Sie reicht von anderthalb Jahren bis zum sechsten Lebensjahr. Tatsächlich ist diese Einteilung aber schwierig. Tomasello zitiert Forschungsergebnisse, die deutlich zeigen, dass die konkret-operationale Phase, also die auf die präoperationale Phase folgende Stufe, in ganz spezifischen Fällen wohl schon biologisch angelegt ist. Eher kann man hier also von einer Dominanz eines bestimmten Denkens sprechen.
Während die präoperative Phase also die Gegenstände aneinanderkettet, organisiert die konkret-operative Phase diese um eine Tätigkeit, bzw. um eine Verbinsel herum. Der entscheidende Übergang findet sich zum Beispiel auch in der Entwicklung grammatischer Kompetenz, wenn die Pivotgrammatik durch die Verbinselgrammatik abgelöst wird (allerdings wesentlich früher als Piaget dies postulierte).
Jerome Bruner hatte diesen Übergang bereits Ende der sechziger Jahre in seiner starren Form aufgebrochen und behauptet, dass in zentralen Tätigkeitsgebieten die konkret-operative Phase wesentlich früher erscheine. Dazu trugen, nach Bruner, zum einen die flexiblere gedankliche Handhabung gut bekannter Gegenstände bei, zum anderen die raschere Fähigkeit, diese zu kategorisieren (also semantische Mengen zu bilden).

Selbstdifferenzierung

Bedürfnisse und Gefühle wiederum rücken dann in den Blick, wenn die kompakte Einheit, die Kinder sich selbst zuschreiben, durch verschiedene, nicht gleichzeitig erfüllbare Bedürfnisse und ähnlichem aufgebrochen wird. Das Kind lernt sich als geteilt, differenziert und entscheidungsfähig kennen. Die Sprache hilft dabei, weil durch sie weiter auseinanderliegende Ereignisse rasch und eng geführt werden können (in der Literaturwissenschaft wird dies mit den Begriffen Erzählzeit und erzählte Zeit ausgedrückt: die Erzählzeit ist die Zeit, die für den Vorgang des Erzählens notwendig ist, während die erzählte Zeit die inhaltlich markierte Zeit ausdrückt: je nach Verhältnis spricht man auch von einer Zeitraffung oder (was seltener ist) einer Zeitdehnung; springt die Erzählung von einem Zeitmoment zu einem anderen, nennt man dies gelegentlich Zeitsprung).
Diese Fähigkeit der Sprache scheint auf das Engste mit der Selbstdifferenzierung verbunden zu sein, weshalb zum Beispiel die Ausdifferenzierung sozialer Kompetenzen und eines komplexen Innenlebens nicht nur an die sprachlichen Inhalte, sondern auch an die sprachlichen Strukturen geknüpft erscheint.

Giraffensprache II

Die Giraffensprache, so wie Rosenberg sie darstellt, verwirklicht zuallererst diese Aspekte. Ihre Besonderheit besteht dann vor allem darin, dass sie das Augenmerk auf das Innenleben richtet und vor allem den Ausdruck von Bedürfnissen und Gefühlen betont.
Hier kann man übrigens eine Normierung finden, die die Gewaltlosigkeit der gewaltfreien Kommunikation von Anfang an unterläuft. Attributionen, selbst oder gerade auch solche, die die Innerlichkeit der Empfindungen in die Äußerlichkeit der Sprache umstülpen, generalisieren immer: sie haben den Hang wiederholt und damit statisch zu werden. (Aber man kann sich hier größere Einheiten vorstellen: solche, die typische Abfolgen benennen und erfahrbar machen.)

Macht und Gewalt

Macht mit ... und Gewalt über ...

Gar nicht so entfernt liegt Rosenbergs Unterscheidung von Macht mit ... und Gewalt über ... von der Unterscheidung Arendts zwischen Gewalt und Macht. Arendt schreibt, dass Macht zwischen Menschen entsteht, die miteinander kooperieren. Dagegen übt die Gewalt sich aufgrund eines einseitig imaginierten Verhältnisses aus; einseitig imaginiert ist dieses Verhältnis deshalb, weil natürlich auch hier Menschen gemeinsam Macht ausüben, allerdings aufgrund von oftmals althergebrachten Verhältnissen der Angst, Gewohnheit oder Blindheit. Die irrealen Imaginationen schieben sich über das Aushandeln und Aushandeln-Können und blockieren diese. (Ich folge hier Arendts Argumentation nur bedingt, der Einfachheit halber; zwar habe ich sie noch nicht gründlich gelesen, aber schon bei einer ersten Lektüre ist mir die Schwäche ihrer Position in Hinsicht auf die Einbildungskraft und strukturelle Gewalt (isolierende Bedingungen) aufgefallen: hier bevorzuge ich Foucault, Butler oder Zizek. Wobei ich alle drei ebenfalls nicht wirklich gut kenne.)

Politik: Zwischen den Menschen

Allerdings ist dieses Zwischen von Rosenberg nicht weittragend genug. Er hat nicht verstanden, inwieweit dieses Zwischen gerade keine anthropologische Konstante ist (und, liebe Leser meines Blogs, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, Arendt durchzukommentieren, hätte ich euch dazu bereits mehr wissen lassen). Hannah Arendt dagegen bringt hier ihren zunächst recht schlichten, doch dann sehr kühnen Vorschlag, was der ursprüngliche Ort der Politik sei:
Die Philosophie hat zwei gute Gründe, niemals auch nur den Ort zu finden, an dem Politik entsteht. Der erste ist: 1) ζϖον πολιτικόν: als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies gerade stimmt nicht; der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt keine eigentliche politische Substanz. Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als Bezug.
Arendt: Was ist Politik?, S. 11
Hier bleibt anzumerken, dass Hans Blumenberg ebenfalls auf der Trennung von Anthropologie und Intersubjektivität beharrt (Beschreibung des Menschen, S. 55), während die Intersubjektivität als eine Art Anerkennung durch ordnende Gewohnheit (S. 466) in die Verweltlichung und Verleiblichung des Ichs eingeht.
Macht, so müsste man Arendt mit Blumenberg paraphrasieren, ist intersubjektive Verlässlichkeit der Selbstwirksamkeit in der Lebenswelt. Gewalt, so darf ich hier weiterspinnen, beschneidet die Selbstwirksamkeit und damit die intersubjektive Verlässlichkeit, mithin die Lebenswelt als solche. Gewalt ist, um ein Zitat Blumenbergs umzudrehen, Daseinsgewinn durch Existenzverlust.

Rückkehr zur politischen Substanz

Rosenberg denkt die Intersubjektivität nicht weit genug. Letztlich kehrt er doch zum Subjekt als metaphysischer Substanz zurück. Natürlich muss er vereinfachen; doch zumindest sollte man im Auge behalten, dass hinter der schönen Oberfläche der gewaltfreien Kommunikation der Rückfall in alteuropäische Traditionen hervorschaut. Genauer gesagt setzt diese das Subjekt als irgendwie fertig konstituiert voraus: die Gesellschaft entfaltet das Subjekt nur oder hindert es an seiner Entfaltung (z. B. durch Entfremdung). Dagegen ist die Argumentation Arendts zirkulär: indem sich die Intersubjektivität von Anfang an ausbildet, bildet sich das Subjekt; und je mehr, je differenzierter diese Intersubjektivität, desto differenzierter und reicher das Subjekt. (Aber natürlich ist auch das nicht so einfach: wenn die Macht nicht rein repressiv, sondern auch produktiv ist, nützt einem ein solcher Zirkelschluss wenig, um die Bedingungen der Intersubjektivität zu bestimmen: auch dann ersetzt man die produktive Seite der Macht, wenn auch wesentlich direkter, durch die Transzendenz eines Regelkreises. Eine schöne Analyse dazu findet sich bei Judith Butler: Psyche der Macht, S. 98-100)

Analyse und Sättigung

Natürlich wäre eine genauere Analyse wünschenswert. Rosenberg argumentiert klug. Vor allem argumentiert er zum Teil recht komplex, auch wenn seine Sprache zunächst einfach erscheint. Es ist leicht, über bestimmte Dinge hinwegzulesen, etwa die völlig andersartige Konzeption seines Machtbegriffs, der sich nur noch wenig mit dem Alltagsbegriff überschneidet. Dadurch verschieben sich aber auch alle anderen Begriffe, etwa das Urteil, der Dank, die Strafe. Oder auch der Begriff der Verlässlichkeit (oder Konsequenz): keineswegs aber ist dieser (um nur eine der vielen Fehllektüren zu nennen) der der Duldung (als einer Art des laissez faire). Eine genauere Analyse müsste also tiefer graben, um die Blindheiten der Gewaltfreien Kommunikation zutage zu bringen und die Texte Rosenbergs in einer Weise zu sättigen, dass diese nicht mehr funktionieren können.

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