07.05.2016

Integrationsprobleme

Gregor Gysi und Jens Spahn diskutieren über Integration, Bekämpfung von Fluchtursachen und Entstehen von Parallelgesellschaften. Im Mittelpunkt steht ein Begriff, der mir seit langer Zeit Kopfzerbrechen macht: der Wille. Nicht, ob den Asylanten ein fehlender Integrationswille unterstellt werden kann, möchte ich im folgenden erläutern, sondern ob es Grenzen eines Integrationswillens gibt, die nicht politischer, sondern anthropologischer Natur sind.

Was ist der Wille?

Spekulieren, differenzieren

Dass mich der Wille seit langer Zeit beschäftigt, zeigt auch, dass ich diesem Begriff eine größere Sorgfalt zukommen lassen möchte, eine Sorgfalt, die noch lange nicht zu Ende ist. Vieles von dem, was ich im folgenden schreiben werde, ist deshalb spekulativ. Angesichts einer sich immer dreister gebärdenden Behauptungsmaschinerie sollte ich das Wort 'spekulativ' allerdings wieder zurücknehmen, denn es ist immer leichter, sich seine eigene Wahrheit zu erfinden, als lange und geduldig ein Phänomen zu zerlegen und es in seinen verschiedenen Aspekten zu prüfen. Und genau darauf wird es eben ankommen: nicht auf eine kompakte Wahrheit (die es sowieso nicht gibt), sondern auf eine gute Differenzierung.

Im Motivationszyklus

Schaut man sich in der Psychologie die Willensbildung an, dann ist diese in eine längere Kette verschiedener grundlegender Begriff eingeordnet. Ich habe das mal zusammengefasst und systematisiert, weil man natürlich hier mit einer Vereinfachung zu rechnen hat:
Motivationszyklus
Im einzelnen sind das:
Bedürfnis
Zunächst ist das Bedürfnis der Ausdruck eines Mangels, der zu einem Spannungszustand führt. Der Mensch ist darauf aus, diesen Mangel zu beheben. Allerdings gibt es hier recht strittige Ansichten. So führt Alexander Maslow in seiner Bedürfnispyramide zunächst Bedürfnisse auf, die ausschließlich einem solchen Mangel entgegenkommen, später jedoch, auf höheren Stufen, auch Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden können, weil sie (so der Ausdruck) „unendlich“ sind. Ob allerdings solche Bedürfnisse wie die Selbstverwirklichung tatsächlich Ausdruck eines Mangels oder einer Fülle, beruht auf dem jeweiligen Menschenbild.
Emotion
Liefert das Bedürfnis den Grund für eine Bewegung, so scheinen Emotionen die grobe Richtung zu lenken, durch die die Bedürfnisbefriedigung erfolgen soll. Emotionen sind so etwas wie Voreinschätzungen oder Vorurteile über einen erfolgsversprechenden Weg. Häufiger liest man, dass Emotionen relativ grobe Aspekte unseres Seelenlebens sind, und dass sie ihre Feinheit immer erst durch Verbindung mit kognitiven Inhalten bekommen, über die sie sich dann vermischen. Erst diese emotional-kognitiven Mischformen bilden dann das komplexe Innenleben des modernen (und neurotischen) Menschen.
Aufmerksamkeit
Die Aufmerksamkeit sitzt an einer exponierten Stelle. Auf der einen Seite verbindet sie die Wahrnehmung mit dem begrifflichen und problemlösenden Denken (also mit der Kognition), und auf der anderen Seite steht sie zwischen der Vorauswahl von Handlungsmöglichkeiten (unserem evolutionären Erbe in den Emotionen) und den konkreten, situationsbedingten Möglichkeiten, ein Bedürfnis zu befriedigen. Man kann an dieser Stelle also feststellen, dass die Aufmerksamkeit zwar etwas bewusst macht, dass dazu aber die Bedingungen der Aufmerksamkeit selbst nicht gehören.
Motivation
Nahtlos geht die Aufmerksamkeit in die Motivation über: aus der Aufmerksamkeit gegenüber der Situation bilden sich nun festere Vorstellungen, was ein Bedürfnis befriedigen könnte. Man kann dies auch als Willensbildung bezeichnen. Einen solchen Willen zu haben ist dann der Kern des Motivationsprozesses. Mit Abschluss der Befriedigung gibt es noch eine Phase des Nachsinnens, der ebenfalls zur Motivation gehört, und der kognitiv und emotional das Ergebnis des eigenen Handelns betrachtet. Ich werde im folgenden dann von Motivation reden, wenn es um diese erste Phase, die Willensbildung, und um die letzte Phase, um das Nachsinnens. Die beiden mittleren Phasen gehören dazu, werden aber unter dem Begriff der Volition auch gesondert aufgeführt.
Volition
Mit der Volition ist ein Motiv bewusst. Es existiert gleichsam ein erstes Abbild des Zielzustandes und meist auch Ideen, wie dieser Zustand zu erreichen ist. In dieser zweiten Phase der Motivation werden mehr oder weniger ausgefeilte Pläne entwickelt und das zielführende Handeln vorbereitet. Die dritte Phase schließlich setzt diese Pläne um. An ihrem Ende steht die Behebung des Mangels.
Während ich für das Bedürfnis immer noch auf die Maslowsche Bedürfnispyramide zurückgreife, nutze ich für die Emotion das Modell von Plutchik und Schacter. Die vier Phasen der Motivation (einschließlich der Volition) entnehme ich dem sogenannten Rubikonmodell. All dies sind Modelle, mit denen ich nicht wirklich glücklich bin. Maslow ist mir zu blauäugig, Plutchik betont zu sehr die präfigurierten Formen der Evolution in der Emotion, während sich das Rubikonmodell zwar zu einer groben Einteilung ganz gut verwenden lässt, damit aber auch nur eine grobe Beschreibung liefert, die bei vielen Ausnahmen versagen muss. Bleibt hinzuzufügen, dass das menschliche Handeln von vielen Ausnahmen geprägt wird. Zumindest in Bezug auf dieses Modell.

Unbewusste Anteile

Schon bei meiner Beschreibung dürfte deutlich geworden sein, dass das Modell trotz seiner Fehler deutlich darauf zeigt, wie viele unbewusste Anteile bei der Willensbildung und dem Willen selber mitwirken. Darauf weist zum Beispiel das „Eisberg“-Modell hin: mit diesem wird symbolisiert, dass ein Eisberg gleich den Bedingungen unseres Bewusstseins zu sechs siebtel der Wahrnehmung entzogen ist.

Integrationswille

Kann man seine eigene Integration wollen?

Ich denke, dass deutlich genug geworden ist, dass die Struktur der Willensbildung eine simplifizierte Rede von einem Integrationswillen nicht zulässt. Sicher: den Willen muss es auch geben; aber gefördert und befördert wird er durch das Milieu.
Ein besonders zentraler Moment bei der Geburt des Integrationswillens ist die erste Phase der Motivation. Hier schneiden sich Ideen der Bedürfnisbefriedigung mit den Angeboten von Motiven, die eine Kultur bietet. Unsere Kultur ist nun voll von Konsummotiven. Andere Motive spielen meist eine untergeordnete Rolle. Ob dieses Angebot pervertiert, kann man dann aber eher an langeingesessenen Menschen beobachten, mithin nicht an gerade angekommenen Flüchtlingen.
Man kann von hier aus verschiedene Fragen fragen und verschiedenen Spekulationen folgen: Flüchtlinge geraten zuerst und zunächst mit der Oberfläche unserer Kultur in Berührung. Diese ist auf das Anbieten von Waren ausgerichtet, mithin auf Konsumanreize.

Ein Wahrnehmungsproblem

Hier muss ich allerdings einhaken. Was auch immer Flüchtlinge antreibt, ihr Land zu verlassen (ich nehme an, dass es sehr unterschiedliche Bedürfnisse sind, die von allerlei Seiten meist zu wenig komplex beschrieben werden), warum auch immer diese also ihr Land verlassen: was unsere Kultur anbietet, trifft auf eine weitestgehend individualisierte Aufmerksamkeit. Was also von unserer Kultur (also "Kultur") angeboten wird, wird trotzdem individuell wahrgenommen. Was genau das ist, lässt sich wieder nur schwer sagen.

Begrenzte Pluralität

Meine Front sowohl gegen das Deutschtum als auch gegen den Multi-Kulti sind bekannt. Beide Begriffe sind mythisch. Sie nehmen strukturell gesehen sogar recht ähnliche Positionen ein. Der Befürworter des Multi-Kulti bietet ähnliche Denkmuster auf, wie die Verfechter des Deutschtums (weshalb deren Streit manchmal so lächerlich aussieht, zumindest von meiner Position aus).
Man muss dagegen von einer begrenzten Pluralität ausgehen, die weniger Übereinstimmung bietet, als die Einheitsdenker dies behaupten, und die weniger Differenzierung aufweist, als dies Pluralisten beschwören. Ironisch rede ich hier von einer begrenzten Pluralität.
Wie dem im Einzelnen auch sei: die Integration in eine Gesellschaft wird dadurch schwierig, weil man zwar im Abstrakten sagen kann, dass Flüchtlinge sich in Deutschland einfügen sollen, sie im Konkreten aber einer nicht genau einzuschätzenden Auswahl gegenüberstehen. Da diese Gruppen untereinander gelegentlich spinnefeind sind, kann für die einen die Integration gelingen, für die anderen nicht.

Schluss? - Nein, Abbruch

Ich vermag nicht weiter zu schreiben. Von hier aus müssten so viele Ansätze integriert werden, so viele Sachen noch einmal gegeneinander abgewogen werden, dass ich diese gerade nicht zu integrieren vermag [sic!]. Nein, eigentlich habe ich schon noch eine ganze Ecke geschrieben, aber ungeordnet, mal nach hier und mal nach da. Jetzt habe ich aber auch noch anderes zu tun, als zu schreiben, und so bleibt dies statt eines langen, dann doch ein relativ kurzes Fragment.
Immerhin dürfte aber klar geworden sein, dass ich von einem Urteil wie "Zu viele Migranten wollen sich gar nicht integrieren" wenig halte. Unsere Gesellschaft fördert Anpassung und Unangepasstheit, Integration und Desintegration, Tradition und Innovation. Wer hier eine Generalintegration fordert, fordert Unmögliches und überfordert damit.

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