Die Demontage der 68er-Generation und der Frankfurter Schule war schon immer ein Lieblingsthema Konservativer. In den letzten Jahren hat sie aber deutlich zugenommen. Nun wäre all dies keines Achselzuckens wert. Sofern man sich für einen kritischen Menschen hält und dieses auch mit einer gewissen Pflicht praktiziert, gehören Demontagen zum täglichen Brot. Und insofern man in einem praktischen Beruf steckt, der die tägliche Auseinandersetzung mit Menschen aus vielerlei Lebensverhältnissen erfordert, misstraut man den großen Worten sowieso: große Worte leisten vor allem Vernebelung bis hin zur Blindheit.
Befremdlich allerdings wird es dann, wenn »hohler Bombast« durch sich selbst ersetzt werden soll. Dann wähnt man sich einen ganz andersartigen Gegner, doch nein: nieder mit dem Bodennebel, es lebe der Bodennebel.
Symbiosen
Solch einen hohlen Bombast prangert der Chefredakteur des Cicero – Christoph Schwennicke – an; und schafft sich damit selbst verklärende Phrasen. So etwa wirft er dem Spiegel vor, eine symbiotische Beziehung zur RAF gehabt zu haben; und bedenkt man, was Schwennicke dort eigentlich sagt, so kann man sich nur an den Kopf greifen: er wirft der Presse vor, recherchiert und berichtet zu haben. Wollte man dies weiterspinnen, so müsste man ihm selbst vorwerfen, mit der RAF in einem innigen Verhältnis zu stehen.
Freilich entsteht ein solcher Eindruck immer; und wer ist schon frei davon, Ereignisse zum eigenen Vorteil zu instrumentalisieren? Man sehe sich nur den Empörungskitsch und die Katastrophengafferei der AfD an: man bekommt den Eindruck, dass diese nur noch für den nächsten islamistischen Terrorakt leben. Eingestehen werden sie das aber nicht.
Das historische Wesen
Imposant kommt Schwennicke in folgender Stelle daher:
„Um sich als geschichtliches Wesen besser verstehen zu können, muss man bereit sein, bestimmte Vorstellungen über sich selbst aufzugeben“, schreibt Bude. Das habe nichts mit Selbstleugnung zu tun; es geht allein darum, sich selbst in der geschichtlichen Andersheit zu begreifen, damit man am Ende nicht im Beharren auf eine eigene Identität zur lächerlichen Figur wird.
Ich unterschreibe Passage ausdrücklich. Sie passt allerdings nicht ganz zu dem Wertekonservatismus der Nationalisten, die ihr Heil gerade in einem solchen Beharren suchen. Anders gesagt funktioniert diese Stelle nur dann, wenn man sie paranoid liest, also mit einem expliziten Freund/Feind-Denken: nur der andere ist in seiner beharrlichen Identität lächerlich. Nichts trifft also auf Schwennicke besser zu als sein Verdikt über die 68er:
Und in ihrer Halsstarrigkeit und Selbstgefälligkeit erinnern sie auf ihre alten Tage sehr an das Gebaren derer, die sie einst bekämpft haben.
Angekommen, aber gescheitert
So wird der Artikel zum Schluss auch vollkommen hohl: angekommen seien sie, „unsere Helden von 68“, „aber dennoch gescheitert“. Wen genau der Autor damit meint, wird nicht gesagt. Rainer Langhans wird vorher herbeigeredet, ebenso Uschi Obermeier. Rudi Dutschke und Bommi Baumann. Ein wenig Rio Reiser. Konkret ausgeführt wird aber nichts davon. Dass Rainer Langhans sich lächerlich macht, wirft vielleicht Fragen über seine Person auf, kann aber doch keineswegs exemplarisch für die vielfältigen Auswirkungen der damaligen Zeit stehen. Und dass Menschen scheitern ist nun kein Vorrecht der ehemaligen Studentenbewegung. Das ist wohl der Lauf der Dinge; oder man könnte Friedrich II. vorwerfen, er sei mit seinem aufgeklärten Monarchismus gescheitert, weil die Menschen heute in einer anderen Staatsform leben.
Wilder Reduktionismus
Nicht die Kritik an den damaligen Phänomenen stört mich, sondern die Selbstgefälligkeit, mit der hier eine sehr vielfältige und teilweise auch sehr widersprüchliche Kultur auf einen Nenner gebracht wird. Die sieht man zum Beispiel auch an der fadenscheinigen Argumentation, mit der die Sekundärtugenden verteidigt werden:
Der Wille zur Leistung und der Wunsch nach Kindern sind zwei Dinge, die fehlen in Deutschland eingangs des 21. Jahrhunderts. […] Sekundärtugenden hätte das ein ehemaliger SPD-Vorsitzender genannt, sicherlich. Aber wie das Determinativkompositum schon andeutet, bei dem bekanntlich die Bedeutung auf dem zweiten Teil des Wortes liegt: Sekundärtugenden sind vor allem Tugenden. Und nicht vor allem sekundär.
Das Problem ist allerdings, dass Schwennicke nicht dadurch recht hat, indem er aufzeigt, dass ein ehemaliger SPD-Vorsitzender Unrecht hat. So ist erstens nicht einzusehen, warum der Kinderwunsch eine Sekundärtugend sein soll. Oder ob dies überhaupt dazu taugt, als Tugend bezeichnet zu werden. Oder ob der ehemalige SPD-Vorsitzende (es war Oskar Lafontaine) überhaupt den Kinderwunsch mitgemeint hat. Zweitens ist der Leistungswille, wenn überhaupt, eine methodische Tugend, wie viele der Sekundärtugenden. Anders gesagt: die Erfüllung einer sogenannten Sekundärtugend ist etwas anderes als diese Tugend selbst. Und dies in einem Beispiel erläutert: der 50 Millionen Streichhölzer akribisch parallel nebeneinander ordnet, darf wohl als fleißig und gewissenhaft bezeichnet werden — sinnvoll ist das Ganze nicht. Und je nachdem kann der Leistungswille auch Unterordnung bis hin zu Selbstaufgabe bedeuten oder Rücksichtslosigkeit bis hin zur Grausamkeit. Sekundärtugenden tragen ihr moralisches Dilemma in sich und sind deshalb nicht als Primärtugenden tauglich.
Hemmungsloses Zitieren
Zweimal zitiert Schwennicke implizit, einmal die „Banalität des Bösen“ (so Hannah Arendt in Bezug auf Eichmann) und einmal „unlesbare Bücher über den eindimensionalen Menschen“ (Der eindimensionale Mensch ist ein Buch von Herbert Marcuse). Beide Male irrt Schwennicke. In Bezug auf Arendt irrt er sich moralisch: denn Arendt weist mit dieser Formulierung auf die zunächst unerklärliche biedere Buchhaltermentalität eines Joseph Eichmanns, die in so krassem Widerspruch zu den Taten steht, an denen er maßgeblich beteiligt war. Ein solches Rätsel bietet uns Bommi Baumann nicht; er verdient nicht eine solch treffende, Augen öffnende rhetorische Figur.
Was Marcuse angeht, so bedient sich der Rechtsnationalismus durchaus recht hemmungslos aus seinen Schriften; diese entspringen einer radikalen Kulturkritik. Ein Satz wie
Wir unterwerfen uns der friedlichen Produktion von Destruktionsmitteln, der zur Perfektion getriebenen Verschwendung und dem Umstand, dass wir zu einer Verteidigung erzogen werden, welche gleichermaßen die Verteidiger verunstaltet wie das, was sie verteidigen.(Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Springe 2004, S. 11)
könnte vom Sinn her, wenn auch nicht vom Satzbau und der Wortwahl, dem »Deutschland schafft sich ab«-Lamento zugehören. Der notwendig erscheinende Widerstand gegen das „System“ ist so links- wie rechtsradikal. — Mit dem Unterschied, dass Marcuse durchaus lesbar ist und durchaus bedenkenswert; und dass sein Buch nichts an Schärfe verloren hat, wenn auch viel berechtigte Kritik daran geübt wurde. Es hat, aber das ist natürlich eine ungerechte Aussage angesichts des unterschiedlich langen Argumentationsganges, wesentlich mehr politische Substanz als der Artikel von Schwennicke.
Fazit
„Verwirrte geben Verwirrung weiter“, so zitiert der Autor Sloterdijk. Man kann angesichts dieses Artikels dem Satz nur zustimmen. Er ist, schon in meiner oberflächlichen Analyse, widersprüchlich und misstönend. Er kritisiert nicht, er feindet nur an. Bleiben schließlich die journalistischen Tugenden: die konkrete Darstellung, das Vermeiden aufgeblähter Wörter (so Wolf Schneider). Da ist Schwennicke, sekundär wie primär, geradezu tugendfrei.
Der gründlichste Tod für hohlen Bombast ist eben immer noch die konkrete, sachliche Darstellung und nicht eine weitere verwirrte Ideologie.
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