16.11.2008

Wozu Grammatikunterricht?

Cedric schreibt am Montag eine Grammatikarbeit. Und wieder einmal merke ich, wie wenig den Schülern der Sinn des Grammatikunterrichts vermittelt wird.
Grammatik ist ja kein Selbstzweck. Bei allen sprachlichen Phänomenen, die auch unter anderer Form auftauchen können, muss man sich fragen, warum das Phänomen zwar universell ist, die Form aber unterschiedlich. So ist es auch mit der Grammatik. Jede Sprache muss eine Grammatik haben. Aber von Sprache zu Sprache ist Grammatik unterschiedlich. Es hat also den Anschein, dass Grammatik einen wesentlichen Vorteil für eine Sprache oder eine Gemeinschaft von Sprechern bringt, aber dass die Form nicht notwendig in dieser Gestalt auftauchen muss (was dann nur noch mit historischen Entwicklungen und einer gewissen Zufälligkeit erklärt werden kann).
Was aber leistet Grammatik?

Normative und deskriptive Grammatik

Zunächst muss man von dem Argument Abstand nehmen, dass man ordentlich sprechen können müsse. Denn ›ordentlich‹ ist ein meist rein normativer Begriff, wenn er in einer Diskussion auftaucht. Nichtsdestotrotz muss man aber konstatieren, dass eine gewisse Wahrheit trotzdem in diesem Zusammenhang steckt: Grammatik ordnet.
Zum zweiten muss man – im Gefolge des ersten Punktes – davon Abstand nehmen, dass eine falsche Grammatik gar keine Grammatik sei. Ist Grammatik eine Geordnetheit, dann gibt es auch private Ordnungen, die vielleicht mit der offiziellen Grammatik nicht übereinstimmen, trotzdem aber unerkannt regelhaft sind.
Drittens kann man in alltäglicher Sprache oft feststellen, dass grammatische Regeln nur rudimentär oder auch falsch angewendet werden, selbst wenn die schriftsprachliche Kompetenz des Betreffenden hervorragend ist.
Man muss also zwischen einem normativen und einem deskriptiven Grammatikbegriff unterscheiden. Der deskriptive Grammatikbegriff umfasst alle Phänomene einer sprachlichen Geordnetheit. Dagegen ist der normative Grammatikbegriff auf eine Didaktik einer Grammatik bezogen, wie sie in einem Kulturkreis sinnvoll ist.

Problemorientierung der beiden Grammatikbegriffe

Die Kluft zwischen den beiden Grammatikbegriffen muss in gewisser Weise geschlossen werden. Denn der erste Grammatikbegriff, der deskriptive, zielt auf folgende Fragestellungen: erstens, wie die Ordnungen in der Sprache sich auf die jeweilige Weltkonstruktion eines Menschen beziehen und wie sich geordnete Sprache und geordnete Welt gegenseitig beeinflussen; zweitens, wie sich die wie auch immer privat geordnete Sprache beobachten lässt.
Der zweite, normative Grammatikbegriff muss dagegen durch ethische Folgerungen gestützt werden: warum nämlich eine von vielen Menschen geteilte Grammatik für das Zusammenleben eines einzelnen Menschen mit anderen Menschen wichtig und richtig ist. – Hier auf den rein normativen Zusammenhang zu beharren, und dies womöglich in die Semantik der Elite hineinspielen zu lassen, kürzt die ethische Diskussion auf eine reine Macht- und Drohgebärde ab.

Konstellieren

Unsere erste Antwort lautet: Grammatik regelt die Struktur der Wörter zueinander. Sie schränkt zwar die Möglichkeit einzelner Wörter situativ ein, ermöglicht aber überhaupt erst Konstellationen in der Sprache.
Ich kann Peter nicht sprachlich im See schwimmen gehen lassen, wenn ich »Peter«, »See« und »schwimmen« nicht in einen guten Zusammenhang bringe. Damit dies funktioniert, muss ich sprachlich markieren, dass es Peter ist, der schwimmt, und dass dieses Schwimmen an einem Ort, einem See statt findet.
Dies ist nicht rein durch die Wörter möglich, auch wenn wir als kompetente Sprecher erahnen, was »Peter See schwimmen« bedeuten soll, wenn jemand so etwas zu uns sagt. Um dies aber deutlich zu sagen, braucht man eine gemeinsame Grammatik, die zeigt, wer schwimmt, und die sprachlich den Ort markiert, wo geschwommen wird.
Die Grammatik beinhaltet also eine gewisse Logik der Konstellation. Unter Logik darf man hier aber keinesfalls verstehen, dass diese die Welt besonders gut abbildet, sondern nur, dass sie regelhaft ist und einen pragmatischen Wert besitzt: diese Grammato-Logik erweist sich in zahlreichen Fällen als nützlich, zeit- und energiesparend.

Vorstellungsanweisungen

Unsere zweite Antwort lautet: Mit einer Grammatik lassen sich viel genauer Anweisungen zum Vorstellen ausdrücken. Zwar kann ich, wenn ich »Hund« sage, mich darauf verlassen, dass mein Zuhörer sich etwas Hundeähnliches vorstellt, aber wenn er sich einen Dackel und ich mir eine Dogge vorstelle, besteht eine dementsprechend große Diskrepanz. Dagegen ist eine Aussage wie »Dein Buch liegt auf dem Tisch in der Küche.« hinreichend präzise, um einen vorstellbaren Sachverhalt zu bezeichnen.
Wir finden in einem grammatisch korrekten Satz nämlich zunächst nicht die Erfüllung von Normen vor, sondern konventionelle Regeln des Vorstellens und Imaginierens. Damit diese Regeln erlernt werden, ist das Einüben einer „korrekten“ Grammatik notwendig. Aber eine solche korrekte Grammatik ist eben kein Selbstzweck. Auch wenn ich viele Lehrer kenne, die genau auf diesem Standpunkt beharren.

Fraglose Verständigung

Grammatik ist also kein quälender Sachverhalt, sondern ein Konstruktionswerkzeug für konventionelle Vorstellungen.
Solche konventionellen Vorstellungen sind übrigens nicht konservativ, sondern mit zugehörig zum Fundament einer Gemeinschaft. Sie dienen einer fraglosen Verständigung. Man kann dies kritisch sehen und sollte das auch. Fraglosigkeit ist Fraglosigkeit, nicht Wahrheit und auch nicht unbedingt ethisch richtig. Andererseits hat eine fraglose Verständigung immer ein hohes Tempo und damit oft einen situativen Vorteil gerade dann, wenn man rasch handeln muss (rasch ist relativ gesehen: man kann wochenlang über eine Lohnsteigerung von 3% diskutieren, aber die Arbeit muss währenddessen trotzdem getan werden).

Kontrollierbarkeit der Bedeutungswelt

Zudem kann man sagen, dass sich die Grammatik wesentlich einfacher kontrollieren lässt als die Vorstellungen. Grammatik reguliert die Vorstellungen, sei es, dass die Vorstellungen in eine bestimmte Richtung getrieben werden, sei es, dass Grammatik und Vorstellung sich dissonant zueinander verhalten und dadurch zu einer Präzisierung gezwungen werden.
Größere Weltzusammenhänge sind ohne Grammatik nicht möglich. Um sich eine komplexe Welt vorzustellen, muss man deren Elemente in ein genügend strukturiertes, aber auch genügend offenes Milieu bringen. Ein solches Milieu bietet sich mit einer grammatisch durchgeformten Sprache an.

Formalisierte Sprachen

Hilfreich bei der Grammatik sind Sprachen, die noch formalisierter sind, etwa die Mathematik. Mathematische Formeln reagieren scharf auswählend auf weltliche Sachverhalte. Aber gerade durch diese scharfe Auswahl ermöglichen sie bestimmte Gedankengänge und Konstellationen, die ohne die Formalisierung nur schwer ausdrückbar sind.
Ebenso sind die Strukturbäume von Chomsky keine Alltagsgrammatik und auch nicht – selbst wenn dies gewisse Menschen (manche Lehrer) behaupten – korrekte Grammatik. Chomsky hat diese Formalisierung erfunden, um eine Art dissonantes Modell zur Alltagsgrammatik zu schaffen. Letzten Endes wollte Chomsky wissen, wie in Sätzen Bedeutung entsteht, hatte also als Ziel eine Semantik. Die Grammatik war ihm dabei allerdings so sehr notwendiges Hilfsmittel, dass sein eigentliches Forschungsinteresse dahinter verschwand. Man findet zwar in den Strukturbäumen eine Grammatik, genauer gesagt, die Chomsky’sche Grammatik, aber eben nicht als Theorie, sondern als eine Praxis des Ordnens von Sätzen. Den idealen Sprecher, der in dieser Weise Grammatik betreibt, gibt es nicht. Er ist genauso Konstruktion wie die Strukturbäume.

Dysgrammatismus

Weiters muss man die Dysgrammatismusforschung ein wenig zurecht rücken. Das Wort Dysgrammatismus bezieht sich auf eine Störung der normativen Grammatik, nicht aber auf eine Störung der deskriptiven Grammatik. Auch Menschen mit Dysgrammatismus besitzen eine Grammatik. Nur kann diese Grammatik nicht eine Korrektheit vortäuschen. Sicherlich ist es eine Aufgabe der Pädagogik, hier normativ vorzugehen und die offiziellen Regeln einzuüben. Aber die andere Aufgabe der Pädagogik ist es, und zwar dann, wenn es sich um eine pädagogische Diagnostik handelt, die jeweiligen privaten Regeln eines Dysgrammatikers zu rekonstruieren und diese für das pädagogische Handeln verwertbar zu machen.
Häufig werden spezifische Lernbehinderungen oder Entwicklungsverzögerungen für den Dysgrammatismus verantwortlich gemacht. So gelten die Retardierung in der kognitiven Verarbeitung oder der verzögerte Regelerwerb als Ursachen für Dysgrammatismus. Auch Störungen in der Wahrnehmung zeitlicher Abfolgen gelten als Ursache.
Wir stoßen aber hier überall auf das gleiche Problem: Die kognitive Verarbeitung kann nur dann retardiert sein, wenn es eine Norm gibt, von der aus sich diese Retardierung feststellen lässt. Das nämliche gilt für den Regelerwerb und die zeitlichen Abfolgen. Werden Sätze in einer anderen Abfolge als der korrekten Grammatik gebildet, dann liegt zunächst eine implizite Betonung durch eine Auswahl vor. »Ich Bub bin.« kann durchaus erstmal als eine Markierung entlang einer bestimmten Wichtigkeit angesehen werden; statt hier auf ein pathologisches Phänomen wie eine Entwicklungsverzögerung zurückzugreifen, gälte es zunächst, die Funktionalität dieses Ausdrucks festzustellen, vom Individuum aus und von einer individuellen Geordnetheit aus.
Hier dürfte mithin ein Skandal sein, dass die individuelle Geordnetheit einer wie auch immer unangepassten Grammatik die Einstufung als behindert erschwert. Man muss aber eine Behinderung als einen doppelten Begriff ansehen. Zum einen ist er der Pathologie zuzurechnen, die hier, mit welchem Recht auch immer, sich selbst ordnet: Pathologien beruhen ja häufig auf konstruierten Skalen. Zum anderen ist der Begriff der Behinderung institutionell, als darüber Selektionen in der Schullaufbahn und der Ressourcenzuteilung getroffen werden. Beide Begriffe verschränken sich in der Praxis, müssen sich aber nicht notwendig auf diese Art und Weise verschränken, wie dies heute geschieht.
Die normativ-institutionellen Verschränkungen muss man deshalb nicht ablehnen. Aber sie täuschen oft allzu leicht darüber hinweg, dass eine individuelle Ordnung einen gewissen Respekt verdient, dass ihre Rekonstruktion das Verständnis für individuelle Sichtweisen fördert, und dass man die Grammatikförderung nicht hopplahopp aus einem pathologischen Geschehen ableiten darf, sondern aus einem ethischen Verständnis: man muss einem Kind mit Dysgrammatismus zumuten, sich möglichst dicht an die normative Grammatik anzunähern, um an deren funktionalen Vorzügen teilnehmen zu können: Tempogewinn, fragloses Verstehen, Präzisierung der Vorstellungsvorschriften, Teilnahme an einer gemeinsam strukturierten Welt.

Begründung des Grammatikunterrichts

Grammatikunterricht also ist notwendig. Eine normierte Grammatik ist für eine Sprachgemeinschaft notwendig. Nur die Argumentationsgänge behagen mir nicht. Nicht nur muss überhaupt diskutiert werden – und die Gespräche mit meinem Sohn zeigen mir dies überdeutlich -, es muss auch differenzierter diskutiert werden, als man dies in zahlreichen Aufsätzen und Büchern findet. (Aber natürlich gibt es hervorragende Bücher, ohne Zweifel, und natürlich ist Wissenschaft ein Prozess, der immer nur ausgewählte Zwischenstufen erreicht.)

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