30.10.2014

Dialoge schreiben

Nur mal so als Zwischenruf:
Neben vielen anderen Fragen zu Dialogen ist wohl eine der häufigsten, wie man Dialoge schreiben lernt.

Nun, die Frage ist ziemlich einfach zu beantworten: indem man sich Dialoge anderer Schriftsteller gründlich anschaut. Möglichst sollte man auch viel dazu schreiben, weil die hand(werk)liche Tätigkeit die Arbeit intensiviert (ich schreibe eigentlich alles auf, jeden kleinen Gedankenschnipsel, eine Angewohnheit, die ich mir von Julia Cameron , Der Weg des Künstlers übernommen habe).

Viel dazu schreiben heißt: vieles kommentieren. Ganz sinnvoll ist es, sich vorher ein kleines Begriffsgebäude erarbeitet zu haben. Bei Texten ist es natürlich sinnvoll, vor allem auf grammatische Ausdrücke zurückzugreifen. Bei Dialogen nutze ich dann noch ein sehr einfaches Vokabular aus der Dialoglinguistik (einfach heißt, dass ich viele speziellere Begriffe weglasse).

Und gelegentlich sollte man dann auch Dialoge schreiben, bzw. nachschreiben.
Aber das versteht sich ja fast von selbst.

Gewissheit und Wahrheit

Ich hatte gestern Abend eine sehr fruchtbare Phase des Schreibens. Unter anderem habe ich mich mit den Begriffen der Gewissheit und der Wahrheit bei Wittgenstein auseinandergesetzt. Dazu sind zahlreiche Aphorismen entstanden. Einige davon habe ich hier zusammengestellt:
Wir können unsere eigenen Gefühle nicht falsifizieren. Wir können uns lediglich über sie täuschen und sie dem anderen vortäuschen. Aber das scheint vorauszusetzen, dass die Falsifikation nur auf Wahrheiten beruht, die im zwischenmenschlichen Bereich möglich sind, d.h., dass die Wahrheit von jeher intersubjektiv sein muss.
Aber ist das, was Wittgenstein als Gewissheit bezeichnet, nicht dasselbe wie die Wahrheit? Nur, dass die Gewissheit nur für mich, die Wahrheit für alle gilt?

Die Wahrheit benutzt ein anderes Medium als die Gewissheit.

Die Gewissheit geht mir voraus, die Wahrheit muss ich erarbeiten.

Es gibt zwei Arten von Unterstellung: die Täuschung in der Gewissheit und die Falsifizierbarkeit in der Wahrheit.

Die Falsifikation kommt mir vom anderen zu:
„Richtig ist, dass, wenn ich über den anderen reden, eine Falsifikation meines Urteils nie auszuschließen ist.“

Das besagt aber nicht, dass die Falsifikation direkt geschehen muss, also direkt von dem anderen kommen muss. Ich kann zum Beispiel feststellen, dass der andere griesgrämig ist, und dann vermuten, dass er ein schlimmes Erlebnis hatte, über das er noch nicht weggekommen ist. Dann aber kann ich vielleicht erfahren, dass er immer griesgrämig ist und dass dies ein allgemeiner Charakterzug von ihm ist oder, vorsichtiger gesagt, eine allgemeine Verhaltensweise.

Was aber interveniert, wenn ich sage, dass ich mich über den anderen getäuscht habe?

Kann man dann vielleicht sagen, dass die Gewissheit des anderen interveniert?
Denn wenn ich mir selbst gewiss bin, dass etwas so und so ist, und dann einsehen muss, dass es doch nicht so ist, dass ich mich also getäuscht habe, dann muss diese Einsicht durch etwas hervorgerufen sein, das außerhalb meiner Gewissheit liegt.

Aber worin besteht die Intervention? Interveniert der andere in meiner Gewissheit oder in den Ausdruck meiner Gewissheit?
Doch kann ich dazwischen unterscheiden? Kann man sich über etwas gewiss sein, ohne sich auch des Ausdrucks gewiss zu sein, den man dazu hat?

Sicherlich: man kann sich über ein Gefühl im Klaren sein und trotzdem einen anderen Ausdruck haben. Man kann sich zum Beispiel beibringen, ein Gefühl der Freude zu haben und gleichzeitig ein Gesicht, das Trauer anzeigt. Aber wofür macht man das, wenn nicht für einen anderen? Und selbst wenn es nur ein Spiel ist, muss ich für dieses Spiel doch die Lüge begriffen haben.
Wenn ich aber nicht begriffen habe, dass ich eine Gewissheit auch so ausdrücken kann, dass der andere diese Gewissheit nicht merkt oder eine andere Gewissheit vermutet, dann kann ich auch nicht lügen.

Doch ob ich eine Intervention zulasse oder nicht, hängt auch davon ab, ob ich die Intervention als zum selben Sprachspiel gehörig betrachte oder nicht.

Ich kann nur feststellen, dass ich mich nicht irre, wenn ich bereits weiß, was ein Irrtum ist. Ich muss also gelernt haben, wie man in einem Sprachspiel das Wort Irrtum gebrauchen kann.
Solange ich aber nicht sagen kann, dass ich mich nicht irre, kann ich mir auch der Gefühle nicht gewiss sein. Denn wenn die Unterscheidung wahr/falsch zurückgewiesen werden kann, dann nur auf der Basis, dass man die Unterscheidung Wahrheit/Gewissheit anerkannt hat.

Damit die Gewissheit eine Gewissheit ist, muss sie als solche erkannt werden. Ich muss das Sprachspiel der Gewissheit erlernt haben.
Wenn ich sage, dass ich mir meiner Schmerzen gewiss bin, dann muss ich erkannt haben, dass Schmerzen noch etwas anderes bedeuten als sie selbst.
Es gibt keinen Solipsismus der Gefühle. Jedes Gefühl ist operativ.

Trotzdem kann ich mir natürlich Gewissheit verschaffen, ob der andere tatsächlich Schmerzen hat oder nicht. Ich kann ihn zum Beispiel fragen, ob mein Eindruck richtig ist und er kann dies bestätigen.
Auch das Argument der Lüge kann nicht gelten, wenn ich zum Beispiel weiß, dass der andere Mensch immer ehrlich ist.
Deshalb gibt es natürlich auch so etwas wie eine Gewissheit, wenn es um das Innenleben anderer Menschen geht.

Der Zweifel hat ein Ende.

Man darf sich mit seiner Gewissheit nicht zu einfach machen.
(Alles andere wäre arrogant.)

Gewissheit bezeichnet das Sprachspiel, bei dem ich noch nicht zu zweifeln gelernt habe.

Zweifeln will geübt sein.

Die Menschen erfinden Sprachspiele. Der Philosoph erfindet Denkspiele.
(Denkspiele sind von den Sprachspielen abgeleitet.)

Wer sich Denkspiele erfinden kann, muss mit sich selbst im Widerstreit liegen.
(Der Philosoph erschafft sich im "Dialog".)

Das philosophische Denken zittert. (Es oszilliert.)

Man kann nicht ohne Grund zweifeln. (Ich muss das Zweifeln ebenso erlernen, wie ich den besonderen Zweifel selbst erlernen muss. Um zweifeln zu können, muss ich also zweimal gelernt haben.)

Doch genau so, wie man das Sprachspiel des Zweifelns erlernen muss, so gibt es auch ein Sprachspiel des Sichüberzeugens. Und auch dieses muss man erlernen.
Aber worauf basiert die Unterscheidung zwischen Zweifeln und Sich-überzeugen? Denn wo man sich überzeugen möchte, da zweifelt man ja. Und man könnte annehmen, dass diese beiden Sprachspiele (oder Denkspiele) notwendig zusammengehören.

Man müsste vielleicht sagen: »Es schmerzt mich.«, weil der Schmerz durch mich (durch mein Bewusstsein) hindurchgeht.
Betrachte dagegen den Satz: »Ich habe Schmerzen.« Das wäre ja so, als könne man die Schmerzen ablegen und behaupten, man habe keine Schmerzen mehr, sobald man diese weg gegeben habe. Und es sei eine Sache des Bewusstseins, diese wegzulegen.

27.10.2014

Körperräume IV — Der beschriebene und der erzählte Raum

Und der letzte Abschnitt zu meiner Serie Körperräume. Die ersten drei Folgen haben den Raum eines Romans vor allem aus dem Blickwinkel betrachtet, was ein Autor bei der Planung beachten sollte. Diesmal geht es um die Darstellung des Raumes im Roman selbst, also ganz konkret um den geschriebenen Text und dem, was der Leser schließlich in die Hände bekommt.

Der beschriebene und der erzählte Raum

Eine Beschreibung ist, so hatte ich bereits in einem früheren Artikel gesagt, statisch. Sie kommt weitestgehend ohne Bewegungen und Handlungen aus (auch wenn wir gelegentlich eine Handlung beschreiben: dann aber benutzen wir einen Alltagsbegriff, der undeutlich ist). Beschreibungen sind nicht das, was eine Erzählung ausmachen, auch wenn sie gelegentlich dazugehören. Eine Erzählung besteht vorrangig aus Handlungen.
Damit bekommen wir die Begründung, warum Räume die Voraussetzung für eine Erzählung bilden, aber in der Erzählung selbst nicht ganz so wichtig sind, bzw. nicht so deutlich dargestellt werden müssen. Bleibt aber zunächst dabei, dass meine Darstellung in gewisser Weise paradox ist: ohne einen Raum funktioniert die Handlung nicht und deshalb ist der Raum besonders wichtig; doch die Erzählung stellt vorwiegend Handlungen dar und entsteht durch Handlungen, weshalb der Raum in den Hintergrund rückt. Damit ist der Raum zugleich wichtig und nicht wichtig.
Dass es sich hier um ein Paradox handelt, merkt man vor allem auch daran, dass sich Leser unglaublich über eine unlogische Darstellung von Räumen aufregen. Sie reagieren nicht auf einen gut konzipierten Raum; der Schriftsteller kann sich noch so viel Mühe geben, seinen Raum logisch zu erfassen und logisch darzustellen: er wird das Lob seiner Leser nicht dafür bekommen. Sobald aber der kleinste Fehler passiert, entdecken das die Leser und werfen es dem Schriftsteller vor. Wenn es um die Darstellung von Räumen geht, dann ist der Leser hier eindeutig an Defiziten orientiert.
Zumindest aber können wir jetzt die Aufgabe des Schriftstellers genauer bestimmen, wenn er Räume in seinen Roman einbindet. Auch hier gibt es wieder Tausende von Möglichkeiten. Auch hier muss ich euch letzten Endes wieder darauf verweisen, eure bevorzugten Schriftsteller zu studieren. Ganz exemplarisch möchte ich euch dies an einem Roman von Karl May, Die Pyramide des Sonnengottes, vorstellen.

Die Pyramide des Sonnengottes

Die Pyramide des Sonnengottes ist der zweite Roman eines fünfbändigen Werkes, das mit Das Schloss Rodriganda beginnt. Ursprünglich wurde dieser Roman als Fortsetzung unter dem Titel Das Waldröschen veröffentlicht. Im Untertitel hieß es Eine Rächerjagd rund um die Erde. In dieser ersten Fassung sind große Teile noch deutlich anders zusammengesetzt. Hier hat sich der Charakter der Fortsetzung wesentlich stärker in die Erzählstruktur eingeschrieben als bei der späteren Veröffentlichung als Buch. Wie bei vielen Werken von Karl May darf man auch hier den Eingriff fremder Autoren vermuten, die von den Erben beauftragt wurden, die Geschichten der veränderten Verlagskultur anzupassen. Das ist zwar für die Geschichte und die Schreibtechniken wenig interessant, aber zumindest zeigt dies, dass auch schon vor 100 Jahren ein Roman kein Heiligtum war, sondern sich dem Vergnügen der Leser angepasst hat.
Die Kapitel sind relativ klassisch aufgebaut. Sie erzählen immer einen Abschnitt aus der Geschichte, der für die Geschichte eine bestimmte Wendung bedeutet. Man könnte die Kapitel als eigenständige Geschichten bezeichnen, die meist nur recht geschickt aneinander gekettet sind. Da sie insgesamt aber einem größeren Ziel folgen, ergibt sich daraus natürlich ein Zusammenhang, der über das einzelne Kapitel hinaus weist.
In den folgenden Abschnitten werde ich aus diesem Roman den Beginn des dritten Kapitels genauer betrachten. Es heißt Im Kielwasser des Piraten. Hier verfolgt ein deutscher Trapper, der natürlich zugleich Arzt ist, ein gewisser Doktor Sternau, einen Bösewicht, der den Geliebten einer Freundin und Sohn eines Grafen entführt hat. Um diese Verfolgung aufnehmen zu können, muss Sternau ein Schiff besorgen. Damit beginnt das dritte Kapitel. Es schließt an das zweite Kapitel an, welches von Rheinswalden, Sternaus Heimatort, aus noch kurz die Reise nach Köln schildert. Dann erfolgt, im Übergang, ein kompletter Ortswechsel.

Die Orientierung des Lesers: der geographische Ort

Zunächst schildert Karl May die Lage des neuen Ortes:
An der Westseite Schottlands, da, wo der Clydefluss sich ins Meer ergießt, bildet dieses einen Busen, an dessen Südseite die unter allen seefahrenden Nationen berühmte Stadt Greenock liegt. Auf den Werften dieser Stadt sind viele Schiffe des Deutschen Lloyd und der deutschen Kriegsmarine gebaut worden, und manches stolze Orlogschiff sowie manches große oder kleine Handelsfahrzeug, das Greenock zum Geburtsort hat, durchflog die See.
Man könnte diese Stelle für wenig aufregend halten. Tatsächlich aber zeigt sie einige sehr wichtige Kriterien für eine Beschreibung. Karl May braucht nur ganz wenige Sätze, um die Bedeutung der Stadt zu unterstreichen. Nur sehr indirekt, aber trotzdem sehr deutlich, vermittelt uns der Autor das Bild einer belebten Stadt. Wir stellen uns sofort Szenen dazu vor. Und der ganze Trick beruht natürlich darauf, dass wir auf Bekanntes, bereits Gesehenes zurückgreifen, also genau die Bilder benutzen, die nicht von Karl May, sondern von uns selbst stammen.
Details sind für die Beschreibung natürlich wichtig. Aber genauso wichtig ist es, hier einige, wenige und bedeutsame Details herauszusuchen. Details sollen nicht wissenschaftlich präzise geschildert werden, sondern so, dass sie eine bestimmte Atmosphäre vermitteln. Sind es zu wenige Details, dann leidet darunter die Atmosphäre. Sind es dagegen zu viele, lenken diese von der Handlung ab, wodurch der Spannungsaufbau gefährdet wird.

Aktive Verben

Das ist die eine Sache, auf die ich euch hinweisen möchte. Die andere Sache sind die Verben. Verben: darauf muss man gerade junge Schriftsteller immer wieder hinweisen. Es gibt so viele, tolle Verben im Deutschen. Diese sollte man verwenden. Vor allem aber sollte man sie kennen. Es spricht aber nichts gegen die Verwendung von ganz schlichten Wörtern. Genau das macht Karl May hier. Ergießen, legen, bauen, durchfliegen - keines dieser Verben ist ungewöhnlich; nur das letzte ist metaphorisch, also zusätzlich bildhaft. Natürlich sind manchmal auch besondere Verben wichtig, aber trotz allem gilt auch hier die Regel: fasse dich einfach und kurz. (Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel!)

Das Verb sein

Wichtig ist aber auch, dass das Wort sein selten gebraucht wird. Manche Linguisten zweifeln daran, dass es ein richtiges Verb ist. Zumindest wird es häufig für Definitionen gebraucht. Das ist für die Wissenschaft wichtig, aber nicht für die Literatur. Karl May jedenfalls baut in seinen Beschreibungen immer irgendwelche Vorgänge oder Handlungen ein, und seien diese auch sehr allgemein gehalten. Schon auf dieser Ebene, auf der Ebene einer Lagebeschreibung, sind also Handlungsmöglichkeiten mitgedacht. Und wenn wir eine solche Passage schreiben wollen, dann müssen wir gar nicht so kompliziert denken. Es reicht, wenn wir passende Verben für einen passenden Ort aussuchen und den Rest der Fantasie des Lesers überlassen.

Die Orientierung des Lesers: die Ausgangssituation

Wenn ich von der Leserorientierung spreche, dann meine ich vor allem die Orientierung in Zeit und Raum. Dies ist vermutlich deshalb auch so wichtig, weil wir uns selber über Zeit und Raum orientieren und so eine Ordnung entsteht, die uns den Roman übersichtlich macht. Es mag zwar Leser geben, die irgendwelche zusammengewürfelten Orte akzeptieren. Im allgemeinen erwarten wir aber einen bestimmten Zusammenhang. Und auch wenn dieser nicht präzise ausgeführt werden muss, sollte man ihn trotzdem nicht vernachlässigen. Man muss die „gute Ordnung“ im Hintergrund mitlaufen lassen. Allerdings sollte man auch nicht damit prahlen, was für eine umfangreiche und farbenfrohe Welt man sich ausgedacht hat, denn dabei verschwindet meist die Geschichte hinter den Beschreibungen, und das wollen die meisten Leser nicht lesen.
Ich hatte eben den Beginn des dritten Kapitels zitiert. Dieser liefert sowohl eine geographische, als auch eine allgemein kulturelle Beschreibung. Die nachfolgende dagegen ist auf eine bestimmte Situation gerichtet. Sie trägt bereits einige erzählende Elemente in sich. Insgesamt kann man die Beschreibung als eine ›von dem Allgemeinen zum Detail‹ bezeichnen (man könnte auch umgekehrt vorgehen, oder zum Beispiel vom Auffälligen zum Nebensächlichen, und einige andere Sachen mehr).
In einem der besuchtesten Hotels dieser Stadt waren Doktor Karl Sternau und der Steuermann Unger abgestiegen. Sie hatten sich hierher begeben, weil sich hier am leichtesten ein kleines Fahrzeug, wie sie es für die Verfolgung Landolas brauchten, kaufen konnten. Sie haben schon den ganzen Hafen und auch die Werften abgesucht, ohne ein solches zu finden, und unterhielten sich nun an der Gasthaustafel von dieser Angelegenheit. Gegenüber saß ein alter Herr, der ihre Worte hörte und daraufhin ihnen mitteilte, dass oben am Fluss eine prachtvolle Dampfjacht liege, die zu verkaufen sei. Er fügte hinzu, ein dort in der Nähe wohnende Advokat sei mit dem Verkauf beauftragt. Das Fahrzeug liege gerade vor der Tür der Villa, die dieser bewohne.
Karl May fährt also mit einigen Details fort. Diese sind nicht wirklich wichtig, verankern aber die Geschichte. Das Hotel spielt zum Beispiel keine weitere Rolle. Und dass es besonders berühmt ist, ist tatsächlich eine komplett überflüssige Information, zumindest in Bezug auf das Hotel selbst. Für Karl May allerdings ist es typisch. Es ist diese „Für meinen Helden nur das Beste“-Haltung. Diese muss man natürlich nicht mitmachen.

Detail und Atmosphäre

Eine ganz andere Sache ist an dieser Stelle ebenfalls wichtig. Die Stadt wird nicht einfach nur beschrieben, sondern auch hier werden einige besondere Orte ausgewählt, die natürlich in Bezug auf die Handlung eine Rolle spielen. Karl May nun beschreibt einige, wenige und recht banale Handlungen seiner Helden, und sofort kann er seiner Geschichte noch ein wenig Atmosphäre beifügen. Wir haben es nicht mehr nur mit der Stadt zu tun, sondern mit einigen typischen Gebäuden darin. Der ganze Trick dabei ist, dass sich die Orte und die Handlungen gegenseitig ausdifferenzieren und konkret machen. Wir können uns im Prinzip darauf verlassen, dass wir, solange wir konkrete Handlungen schildern und dies in vollständigen deutschen Sätzen niederschreiben, automatisch konkrete Orte mit schildern.

Zusammenfassung und indirekte Rede

Eine letzte Sache ist zu erwähnen, ein Textmuster, das von vielen jungen Schriftstellern selten oder gar nicht benutzt wird. Die Anekdote nutzt die Zusammenfassung von Handlungen, um kurz zu bleiben. Man erfährt von dem Restaurant, in dem die beiden Helden tafeln, rein gar nichts, außer dass dort ein alter Mann sitzt, der einen entscheidenden Hinweis gibt. Die beiden Protagonisten wiederum müssen an dieser Stelle nicht genauer beschrieben werden. Das Gespräch wird durch eine indirekte Rede wiedergegeben. So kann sich Karl May sehr kurz fassen und trotzdem einen logischen Aufbau beibehalten. Diese kurze Passage ist deshalb wichtig, weil die Helden nicht einfach von einem Ort zu dem anderen springen. Sie markiert einen Übergang. Da sie aber gleichzeitig eher nebensächlich ist, würde sie, wenn man sie länger schildert, den Spannungsaufbau unterbrechen. Dieses Textmuster ist also ein Kompromiss zwischen logischer Abfolge und Spannungsaufbau. Auch hier solltet ihr euch ein wenig Zeit nehmen, und solche Übergänge zwischen Orten und zwischen wichtigen Handlungsszenen studieren. So könnte man zum Beispiel bei Harry Potter feststellen, dass die indirekte Rede in diesen Büchern nicht existiert. Joanne Rowling benutzt andere Techniken, um Zeiten zu überbrücken, die für die Handlung nicht wichtig sind. Ein Theodor Fontane (um mal einen Zeitgenossen von Karl May zu nennen) arbeitet mit anderen Mitteln als ein Ernest Hemingway, und bei Edgar Wallace finden wir wiederum andere Mittel als zum Beispiel bei Raymond Chandler. Hier lohnt es sich, zu sammeln. Man mag zwar sagen, dass die unwichtigen Szenen zu unwichtig sind. Aber sie sind eben nur für die Handlung nicht besonders wichtig, für die Stimmigkeit des Buches dagegen gehören sie notwendig dazu. Wenn solche Szenen fehlen, so kurz sie auch sein mögen, kann es geschehen, dass der Roman nicht mehr nachvollziehbar ist und sich die Leser rasch langweilen.

Die Orientierung des Lesers: die Annäherung

Kehren wir von diesem längeren Umweg zurück. Textmuster sind einer der wichtigsten Aspekte für das Schreiben von Erzählungen. Sie entstehen aber auch nebenher und solange man auf eine gute Charakterisierung, ein lebendiges Erzählen, die Leserorientierung und den Spannungsaufbau achtet, wird man vieles richtig machen, ohne sich intensiv damit beschäftigt zu haben.
Wir haben nun die geographische Beschreibung betrachtet, dann den raschen Überblick, den der Autor zu einer Situation gibt, und kommen nun zu einer weiteren, kleinen Passage, die einfach deshalb interessant ist, weil sie zwei Orte miteinander verknüpft. Auch diese Szene ist für die eigentliche Geschichte fast nebensächlich. Sie dient aber der Logik der Erzählung. Sie macht die Geschichte glaubwürdig.
Das folgende Zitat schließt sich nahtlos an die bisher zitierten Stellen an:
Sternau dankte ihm für diese Mitteilung und machte sich nach beendigtem Mittagsmahl sofort mit dem Steuermann auf, die Jacht anzusehen. Sie hatten nur den Hafen bis dahin untersucht, wo der Fluss in diesen mündet, jetzt aber schritten sie am Ufer weiter aufwärts und nach einiger Zeit entdeckten sie die geschilderte Jacht, die am Ufer vor Anker lag. Es war ein ausgezeichneter Schnelldampfer, vierzig Meter lang, sechs Meter breit und zehn Meter tief, mit zwei Masten, Takel- und Segelwerk versehen, um den Dampf durch die Kraft des Windes zu unterstützen, sodass es kaum ein anderes Schiff mit der Geschwindigkeit einer solchen Jacht aufzunehmen vermochte. Da ein Brett das Ufer mit dem Bord verband, gingen sie vorläufig an Deck. Die Luken waren offen und auch die Kajüte war unverschlossen.
Betrachtet man diese verschiedenen Stellen nur mit einer linguistischen Sicht, dann ist auffällig, dass erst an dieser Stelle genauere zeitliche Angaben auftauchen. Wer meinen Blog und meinen Begriff der Verortung kennt, der weiß, dass sich damit nicht nur den Raum und die Angaben des Raumes meine, sondern auch die Zeit und die genaueren Angaben dazu. Wer sich dafür interessiert, welche Hintergründe für diese Definition eine Rolle spielen: Hier handelt es sich um Gedanken aus der Phänomenologie, insbesondere der von Schütz und Luckmann, deren Buch Strukturen der Lebenswelt für die Soziologie einen enormen Einfluss gehabt hat. Die Grundidee dieses Buches besteht darin, die Lebenswelt ganz aus der Sicht des einzelnen Menschen zu beschreiben. Damit aber wird dieses Buch eben auch für Schriftsteller sehr interessant, weil diese häufig aus der Ich-Perspektive erzählen.
Jedenfalls taucht jetzt erst die Zeit deutlicher durch Markierungen in den Sätzen auf: „Mittagsmahl“, „bis dahin“, „jetzt“ und „nach einiger Zeit“. Nichts großes, nichts, was die Welt bewegt, doch damit wird deutlich, dass die Erzählung von der Beschreibung zur Schilderung von Handlungen zurückkehrt.

Konventionen des Schreibens

Vermutlich werdet ihr euch auch fragen, warum ich auf solchen Kleinigkeiten so herumreite. Tatsächlich bietet uns Karl May hier aber eine Abfolge kleiner Textmuster, die so allgemein gültig ist, dass sie einen für den Schriftsteller wichtige Schablone darstellt. Sie wird natürlich immer wieder variiert und teilweise auch aufgebrochen. Grundsätzlich aber kann man drei Schritte feststellen:
  • Zunächst wird der Leser rein geographisch an einem Ort orientiert. Die Zeit taucht hier sehr allgemein durch Merkmale auf, die für eine Epoche typisch sind. Ein bestimmtes Leben oder sogar bestimmte Handlungen werden nicht thematisiert.
  • In einem zweiten Schritt tauchen die Protagonisten in einer Situation auf. Die Handlungen werden aber noch zusammengefasst und nicht an eine ganz konkrete Abfolge gebunden.
  • Schließlich tauchen deutlich zeitliche Markierungen auf und damit auch ganz konkrete Handlungen. Ab hier beginnt dann die eigentliche Szene.

Schablonen und die Variation

Solche Schablonen sind für Schriftsteller wichtig. Im Zweifelsfall kann man sie wiederholen (und Karl May zeigt, dass man sehr unterhaltsamen Romane schreiben kann, ohne solche Schablonen wesentlich zu verlassen). Spielen mehrere Szenen an bereits bekannten Orten, kann man eine solche Orientierung sehr abkürzen. Und natürlich kann man diese zahlreich variieren. Wenn ich solche Empfehlungen gebe, gibt es immer wieder Klagen, dass ich damit die schriftstellerische Freiheit einschränken würde und ein solches Vorgehen nur zu einer hölzernen Erzählung führt. Das ist aber nicht richtig. Gerade Unterhaltungsromane bestehen aus zahlreichen Konventionen und Konventionen sind nun einmal Wiederholungen und Gewohnheiten. Auf der anderen Seite sind kleine Variationen bei diesen Schablonen sinnvoll und bequem. Ich könnte euch dies an Karl May ganz wunderbar zeigen. Trotz seines sehr typischen Aufbaus verändert er diesen mal durch eine kurze historische Anekdote, mal durch einen bildlichen Ausdruck, mal durch ein Zitat aus dem Kulturgut eines Volkes. Der grundsätzliche Aufbau wird damit überhaupt nicht unterbrochen. Und trotzdem werden die Sätze und die Darstellung variiert.

Eine Reiseschilderung

Ich möchte hier noch eine Stelle einfügen, die für sich spricht. Karl May ist dafür bekannt, dass er Reiseromane schreibt. Gleichzeitig sind diese aber eben auch Abenteuerromane. Sternau hat die Jacht gekauft. Nun macht er sich mit seinem Begleiter an die Verfolgung des Piraten Landola. Der Rest des Kapitels schildert einen Kampf auf offener See, die weitere Verfolgung des Piraten und schließlich seine Gefangennahme. Zunächst aber muss Karl May den Raum und die Zeit überbrücken, bis seine Protagonisten auf den Piraten treffen. Dies geschieht folgendermaßen (und bitte achtet dabei auf die Bindestriche, die zugleich eine „Lücke“ im Leben der Protagonisten darstellen):
Bald dampfte die Jacht dem Clyde hinab, dem Meer entgegen und einem Ziel zu, das noch niemand bestimmen konnte. Nur so viel war zu vermuten, dass Kapitän Landola an der Westküste Afrikas zu suchen sei. -
Man war glücklich über den der Seefahrt so gefährlichen Meerbusen von Biscaya gekommen, der von den Schiffern der Matrosenkirchhof genannt wird, und legte, um Nachforschungen anzustellen, bei den Azoren, bei den Kanaren und den Kapverdischen Inseln an, konnte aber nichts erfahren. Nun ging Sternau nach St. Helena, wo er seinen Kohlenvorrat ergänzen wollte, und fand hier endlich die erste Spur. Kapitän Landola hatte mit seiner ›Pendola‹ wieder hier angelegt, um Wasser einzunehmen, und war nach Süden gesegelt. Nun stand zu erwarten, dass man in Kapstadt Weiteres von ihm hören werde, und deshalb hielt Sternau auf das Kap der Guten Hoffnung zu. -
Die Jacht ›Roseta‹ befand sich einige Grade nördlich vom Kap. Es war früher Morgen, als Kapitän Unger in die Kajüte kam, wo Sternau sich befand und ihm meldete, dass in West ein Dreimaster in Sicht sei. Man hatte einen Neger an Bord, einen ehemaligen Matrosen Landolas, den Unger zufällig in einer Hafenstadt getroffen und für die ›Roseta‹ angeheuert hatte.

Der Handlungsraum

Schließlich findet sich bei Karl May der Handlungsraum. Hier gibt es wiederum zwei sehr typischer Arten.

Dialoge ohne Raum

Im Dialog tritt der Raum manchmal komplett zurück. Vergleicht man dies mit Stephen King, dann ist das tatsächlich ungewöhnlich. Bei Stephen King handeln die Figuren sehr viel stärker, wenn sie miteinander sprechen. Dadurch ist auch die Umgebung präsenter.
Bei Karl May dagegen, der sonst das Innenleben seiner Protagonisten wenig schildert, werden hier die Gefühle besonders deutlich. Es gibt also eine enge Verbindung zwischen dem Gefühlsleben der Figuren und dem Dialog. Der Raum ist dann nur dazu da, um diesen Dialog zu motivieren. Aber die Handlungen (also die Sprechhandlungen des Dialogs) haben mit dem konkreten Raum wenig zu tun.
Dies ist die eine Form, in der Karl May den Handlungsraum nutzt (als ungenannt und vorausgesetzt eben).

Mauerschau

Die andere Form ist dann diejenige, wie wir uns das für gewöhnlich vorstellen. In dem betreffenden Raum tauchen Gegenstände auf, die für den Protagonisten interessant sind. Wenn es dabei zu Dialogen kommt, dann begleiten sie die Handlungen. Die folgende Stelle ist auch deshalb interessant, weil sie einer Theatertechnik nahe steht, die man Mauerschau nennt. Man kann auf dem Theater zum Beispiel keine Schlachten darstellen. Um hier trotzdem Handlungen mit vielen Menschen zu schildern, lässt man zwei Menschen eine solche Szene „beobachten“. Der Zuschauer erfährt über die Kommentare, was dort, in einem imaginären Raum, passiert. Ein Roman muss natürlich auf eine solche Technik nicht direkt zurückgreifen. Er könnte auch ganz direkt das Geschehen schildern. Aber durch eine solche Mauerschau kann man Dialoge einführen, die auf der einen Seite den Text lebendiger machen und auf der anderen Seite die Protagonisten stark in ihrer Umgebung verankern. Insofern ist diese Technik sehr empfehlenswert:
Dieser Neger besaß ein scharfes Sehvermögen und hatte das Schiff vom Mast aus mit bloßem Auge eher entdeckt, als es von Unger mit dem Fernrohr bemerkt worden war.
„Ist es die ›Landola‹?“, fragte Sternau.
„Das ist noch nicht zu entscheiden“, erwiderte Unger. „Aber nach der Stellung der Segel scheint es ein Kauffahrer zu sein. Ich werde auf ihn zuhalten lassen.“
Sie gingen an Deck und nahmen die Ferngläser zur Hand. Nach einigen Minuten bemerkten sie, dass der Dreimaster ebenso südlichen Kurs hatte wie sie, doch kamen sie schneller vorwärts als er, denn sie hatten sehr günstigen Wind und konnten das Segelwerk benutzen und damit die Dampfkraft unterstützen. Während sie so mit erhöhter Geschwindigkeit dahin schossen, stieß der Neger, der immer noch oben im Topp des Mastes hing, einen lauten Ruf aus, der halb wie Schreck und halb wie Überraschung klang.
„Was gibt's?“, rief Sternau hinauf.
„Noch ein Schiff, Massa!“, antwortete der Schwarze. „Da in West. Aber man kann es nicht gut sehen: Es hat schwarze Segel.“
„Schwarze Segel?", fragte Unger schnell. „Die hat kein anderes Fahrzeug als das des Kapitäns Landola!“
Er richtete das Fernrohr in die Gegend, die der Neger mit ausgestrecktem Arm angedeutet hatte, und sah nun ein zweites Schiff, das mit vollem Wind auf das erste zuhielt. Durch die dunkle Farbe seiner Segel konnte man es nur schwer erkennen.
„Er ist es wirklich!“, sagte endlich Unger erregt.
„Täuschen Sie sich nicht?“, meinte Sternau.
„Nein. Dieser Landola ist ein schlauer Schurke. Er hat zweierlei Segeltuch. Wenn er einen Hafen anläuft, so hängt er das weiße an, befindet er sich aber auf hoher See, braucht er das schwarze. …“

Der Raum im Gespräch

Gerade an Karl May kann man gut studieren, wie Räume in Dialogen auftauchen. Der Vorteil, wenn man eine Figur einen Raum schildern lässt, besteht darin, dass man zugleich die Figur über seine Absichten und seine Gefühle sprechen lassen kann. Damit hat man ein recht natürliches Ineinander von Körperraum und Seelenwelt.
Allerdings gibt es auch hier wieder deutliche Unterschiede. Während Karl May seine Figuren Räume schildern lässt, um zugleich Handlungen planen zu lassen, nutzt Joanne Rowling diese Form des Dialogs überhaupt nicht. Bei ihr sind Räume eher Gegenstände, die man öffnen oder verschließen, erreichen oder verlassen muss. Sie unterscheiden sich damit nicht von anderen Gegenständen. Selbst so besondere Orte wie die Heulende Hütte oder die Toilette der Maulenden Myrte, die Kammer des Schreckens oder das Bahngleis des Hogwarts-Express werden zwar außerhalb des Dialogs, aber nicht innerhalb beschrieben. Und sehr häufig sind die Räume bei Rowling durch ein besonderes Wesen oder einen besonderen Gegenstand dominiert. Der Rest des Raumes ist relativ unwichtig.
Natürlich sind Räume erst mal rein physikalisch Räume. Im Satz können sie aber einmal als Raum und einmal als Objekt behandelt werden. Diese sorgt bei manchen unerfahrenen Schriftstellern für reichlich Verwirrung. Als Objekt ist der Raum nämlich nur ein Stellvertreter für all die Gegenstände, die sich in einem Raum befinden. Und wenn es dann zu konkreten Handlungen kommt, sollte man diesen Raum eben auch mit konkreten Gegenständen gefüllt haben. Wenn ich den Raum direkt beschreibe, dann eigentlich nur, um seine Lage zu anderen Räumen präzise auszudrücken. Sobald ich aber zu dem Raum als Objekt überwechsle, muss ich ihn indirekt, über die Gegenstände in diesem Raum verdeutlichen.
Ihr könnt noch mal zu der Reisebeschreibung zurückgehen, die Karl May für die Fahrt seiner Dampfjacht gibt. Die Städte, die das Schiff ansteuert, sind hier keine Räume, sondern eben Objekte. Der Raum selbst wird durch die Geographie Europas und Afrikas vorgegeben, taucht aber nicht direkt auf. Auch das Meer ist natürlich ein Gegenstand, mit dem die Seefahrer zu kämpfen haben. Doch in diesem Fall verschwindet der Ozean gleichsam aus der Beschreibung, sobald die Schiffe auftauchen. Man könnte meinen, dass diese Schiffe nur noch für sich existieren, ganz ohne Wasser. Doch natürlich muss der Schriftsteller uns nicht deutlich machen, dass hier das Meer immer mitgemeint ist.

Die Planung

Texte lassen sich von sehr unterschiedlichen Blickwinkeln aus betrachten. Ich bin nun zwischen diesen verschiedenen Blickwinkeln immer wieder hin und her gehüpft. Wir können uns diese Blickwinkel jetzt aber noch einmal verdeutlichen: zum einen gibt es den Leser, zum anderen den Autor, dann gibt es einmal die erzählte Welt mit ihren physikalischen Tatsachen und einmal die erlebte Welt mit ihren Emotionen und Motiven.

Genaue Planung

Wenn ihr Räume schildert, dann solltet ihr bei der Planung solcher Räume immer etwas genauer vorgehen als ihr es dann tatsächlich im Roman braucht. Durch diese genaue Planung bekommen eure Räume in eurer Vorstellung einen Festigkeit, die sich auch in der Art und Weise niederschlägt, wie ihr dann die Handlungen in diesen Räumen schildert. Es geht gar nicht darum, dass ihr den Leser mit großer Detailkenntnis beeindruckt. So etwas langweilt meist. Die Übung ist eher dazu nützlich, dass ihr euch selbst sicher seid und dadurch eine Art und Weise zu schreiben entwickelt, die glaubwürdig ist. Hier müsst ihr eben zwischen dem, was ihr als Schriftsteller braucht, und dem, was der Leser lesen will, gut unterscheiden. Ihr braucht die Sicherheit und dadurch eine große Präzision, der Leser möchte eine Glaubwürdigkeit, und d.h. vor allem, dass keine logischen Fehler in der Handlung auftauchen.

Spannungsaufbau und die Verankerung der Geschichte

Als zweites solltet ihr beachten, dass eure Räume in den Handlungen nur indirekt auftauchen. Vermittelt werden diese Räume über die Gegenstände. Deshalb sollten eure Räume immer genügend Gegenstände enthalten, um eine Handlung zu tragen oder eine Atmosphäre auszudrücken. Ich möchte nun nicht noch einmal darauf herumreiten, aber da es mir häufig vorgeworfen wird, taucht dieses Thema immer wieder bei mir auf. Ihr werdet hier natürlich zu mir sagen: alles das, was du hier schilderst, ist doch eigentlich ganz selbstverständlich. Ist es ja eigentlich auch. Dass sich Gegenstände in einem Raum befinden, das ist nun eine so banale Tatsache, dass es albern klingt, dies noch einmal zu betonen. Nur: sobald wir den tatsächlichen Raum verlassen, also jenen, in dem wir leben, und sobald wir diesen Raum in einem Roman schildern, scheint das nicht mehr so selbstverständlich zu sein. Ich hatte in den letzten zehn Jahren oft damit zu kämpfen, wenig erfahrenen Schriftsteller zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, sich diese einfache Tatsache immer wieder vor Augen zu führen. Und gelegentlich findet man dann solche Geschichten auch tatsächlich bei den selfpublishern und, sobald diese Romane veröffentlicht sind, auch zahlreiche Klagen bei den Bewertungen. Der Roman ist langweilig, er reißt nicht mit, und schon kommt das Gegenargument des Autors: aber die Geschichte ist doch so spannend, lest doch einfach mal weiter, da passiert noch ganz viel. Tut es wahrscheinlich auch, und vermutlich könnte diese Geschichte tatsächlich unglaublich spannend sein. Aber der Autor starrt nur auf die großen Ereignisse, in die er seine Figuren hineintreibt. Ohne Frage sind diese notwendig. Doch was die Rezensenten eigentlich meinen und nur recht ungeschickt ausdrücken, ist, dass die Handlung keine Logik bekommt, weil eben die Räume und die Gegenstände fehlen. Es ist also nicht die dramatische Geschichte, sondern der Halt, den diese Geschichte in einer Welt bekommt, und damit natürlich auch in der Vorstellung des Lesers. Der Leser muss nicht zu einer noch spannenderen Handlung geführt werden, sondern zunächst zu den Bildern in seinem Kopf, Bilder eben, die er nachvollziehen kann und mit denen er leben möchte.

So konkret wie möglich

Drittens möchte sich der Leser natürlich auch mit den Figuren identifizieren. Und dazu muss aus dem physikalischen Raum ein emotional-volitiver werden. Es muss konkrete Gegenstände in konkreten Räumen für konkrete Bedürfnisse mit konkreten Zielen geben. Es reicht nicht aus, wenn ihr als Ziel des Romans im Kopf habt: Sandra findet die große Liebe. Ihr müsst die Situation schildern, für euch, und im Voraus, bevor ihr zu schreiben beginnt, mit wem Sandra nun zusammen ist und wie sich dieses Zusammensein konkret darstellt. D.h., dass sie am besten die erste gewöhnliche Situation plant, nachdem die eigentliche Geschichte zu Ende ist. Das ist nicht unbedingt eine Situation, die in eurem Roman auftauchen muss, denn euer Roman ist natürlich mit der Geschichte selbst zu Ende. Aber es kann trotzdem eben genau die Situation sein, auf die ihr hinschreibt.

Die Eifersucht des Schriftstellers

Bleibt also ganz konkret, vor allem auch für die Ziele und Wünsche eurer Figuren. Achtet bitte dabei auch darauf, was eure eigenen Ziele und Wünsche sind. Ein großes Problem ist immer wieder, wenn ein Schriftsteller für sich selbst nur sehr undeutliche Ziele besitzt. Man möchte irgendwie einen großen Roman veröffentlichen, berühmt werden, vielleicht auch nur seine Familie beeindrucken, oder etwas ähnliches. Aber all das sind eben sehr wolkigen Wünsche. Und natürlich dürft ihr die wolkigen Wünsche für euch selbst genau so haben. Dagegen ist nichts zu sagen. Für den Schreibprozess allerdings kann das hinderlich sein, weil hier allzu häufig im Hintergrund eine Art Eifersucht mitspielt. Weil ihr in eurem Leben eure Ziele nicht konkret machen könnt, erlaubt ihr das auch euren Figuren nicht. Wenn ihr nur eine Geschichte für euch selbst schreibt, dann könnt ihr dabei natürlich stehen bleiben. Aber ein Leser verzeiht eine Geschichte ohne ein konkretes Ziel nicht. Wenn euch eure Geschichte immer wieder entgleitet, dann denkt mal darüber nach, ob ihr vielleicht eifersüchtig auf eure Figuren seid und ihnen ihre Geschichte nicht gönnt.
Besser aber ist es, wenn ihr zunächst euer Leben selbst in Ordnung bringt, euch realistische Ziele setzt und Kompromisse schließt, mit denen ihr leben könnt, damit ihr mit solchen Lebensbedingungen Erfahrungen sammelt. Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert. Und auch das Leben eurer Protagonisten soll natürlich nicht nur Sonnenschein sein, damit es genügend Konflikte gibt, die eine Geschichte lohnenswert zu lesen machen.

Körperräume III — Der soziale Raum

Dritter Teil zu Körperräumen. Den ersten Teil, zum physikalischen Raum, und den zweiten Teil, zum emotional-volitiven Raum, gab es eben. Dort auch meine (üblichen) Klagen über die viel zu kurzen Artikel im Internet.

Der soziale Raum

Bisher hatten wir den Raum angeblich von seiner psychologischen Seite aus betrachtet. Es dürfte aber deutlich geworden sein, dass ein solcher Raum wenig Interessen für den Unterhaltungsroman bietet, wenn in ihm nicht Konflikte stattfinden. Konflikte sind für den Unterhaltungsroman unumgänglich. Konflikte sind nun ein soziales Phänomen, und genau dort müssen wir jetzt hin: wir müssen diesen Raum auf seine Möglichkeit zu Konflikten betrachten. Das können wir nur beispielhaft tun. Euch werden mit Sicherheit noch viele andere Möglichkeiten einfallen, als die, die ich hier nennen werde.
Ich benutze das Wort Konflikt in einem sehr strengen Sinne. Bei einem Konflikt gibt es immer zwei Absichten, die einander widersprechen. Eine Absicht kann nicht verwirklicht werden. Ganz typisch finden wir dies in eigentlich jedem Kriminalroman. Der Täter möchte nicht erkannt werden; der Kommissar möchte den Täter fassen. Am Ende des Romans ist der eine Wunsch in Erfüllung gegangen, der andere nicht.
Im Alltag bezeichnen wir manchmal auch ein Problem als einen Konflikt. Aber wenn wir ehrlich sind, dann würden wir zum Beispiel ein verrostetes Schloss, das wir nicht öffnen können, eher ein Problem nennen als einen Konflikt. Im Roman gibt es also Hindernisse oder Probleme; und häufig erzeugen diese Konflikte, nämlich genau dann, wenn ein Hindernis die Erwartungen von bestimmten Figuren enttäuscht. Umgekehrt funktioniert es genauso: wir bezeichnen Konflikte als Probleme. Ein Mensch, der mir widerspricht, verursacht allerdings kein Problem, zumindest keines, was man dann durch ein geschickter Vorgehen lösen könnte, sondern er erzeugt einen Konflikt. Die Lösung eines Konfliktes besteht in einer Einigung, zumindest, wenn die beiden Konfliktpartner ehrlich miteinander sind.

Die Besitzer

Eine der wichtigsten Bedingungen für Konflikte im Zusammenhang mit Räumen ist der Besitz. Das Haus der Dursleys, um bei dem Beispiel Harry Potter zu bleiben, gehört den Dursleys und nicht Harry. Alles, was im Haus passiert, wird von den Dursleys bestimmt und die Dursleys fühlen sich im Recht, wenn sich Harry ihren Wünschen unterordnen muss.
Die Zaubererschule, auf die Harry geht, Hogwarts, ist wiederum durch sehr viele Räume eingeteilt, die sehr unterschiedlichen Personen gehören. Und immer gibt es neue Räume, die in den verschiedenen Romanen auftauchen, und die von bislang unbekannten Personen besetzt werden. Im ersten Band ist das der verbotene Korridor, an dessen Beginn Fluffy, der dreiköpfige Hund, lauert, und an dessen Ende der Spiegel Nerhegeb steht; im zweiten Band ist dies die Kammer des Schreckens und der Basilisk, der darin haust, oder zum Beispiel die Mädchentoilette, in der die Maulende Myrte spukt; in Harry Potter und der Gefangene von Askaban sind es das Spinnennest und die Riesenspinne Aragog, aber auch die heulende Hütte. Und so kann man in jedem Band von Harry Potter solche besonderen Räume finden, ein riesiges Heckenlabyrinth, die Mysteriumsabteilung, usw.
Manche dieser Räume haben einen festen Besitzer, andere wiederum werden von einer „undeutlichen“ Macht beherrscht. In manchen dieser Räume ist die Herrschaft absolut, in anderen bietet sie viel Platz für Eindringlinge. Die Regeln, die in diesem Raum gelten, werden entweder gnadenlos durchgesetzt oder mit mehr oder weniger großer Geduld eingeübt. Man muss sich manchmal deutlich machen, dass auch in Räumen, die für uns relativ unproblematisch sind, Regeln gelten. Selbst in einer Studentenkneipe kann man sich nicht nach Belieben benehmen. Doch mit Sicherheit haben hier die Besucher und der Gastwirt eine größere Toleranz gegenüber „kreativem Verhalten“ als während eines Gottesdienstes in einer strenggläubigen Gemeinde.

Spukhäuser und Dinosaurierinseln

Spukhäuser und Dinosaurierinseln - das ist mein Kürzel für Räume, die nach besonders feindlichen Regeln funktionieren. Aus irgendwelchen Gründen gerät der Protagonist in eine solche feindliche Umwelt. Meist unterschätzt er die Gefahr. Manchmal findet er sich allerdings auch wider Willen in einen solchen Raum versetzt. Manchmal muss sich der Protagonist einer solchen Gefahr auch notwendig aussetzen.
Nehmen wir zum Beispiel das Forscherteam aus dem Roman Lost World. Diese wollen eine Insel untersuchen, auf der es angeblich noch Dinosaurier gibt. Natürlich entdecken sie diese dann auch. Doch im Gegenzug werden die Forscher auch von den Raubsauriern ins Visier genommen, und da sie keine militärische Einheit sind, sich also nicht wehren können, geraten sie in tödliche Gefahr.
Geschichten von Spukhäusern funktionieren ähnlich. Jemand erbt ein Haus und als er mit seiner Familie einzieht, stellt er fest, dass in diesem Haus merkwürdige Dinge geschehen. Oftmals gibt es dann jene Wendung in der Geschichte, in der sich das Haus nach außen und innen abschottet und den Bewohnern kein anderes Entkommen ermöglicht, als den Feind zu besiegen oder ihn auf irgend eine raffinierte Art und Weise auszutricksen.
Auch das ist eine Empfehlung für junge Schriftsteller: achtet auf die verschiedenen Räume und die Regeln, die in diesen Räumen gelten. Denn sehr häufig leidet ein Roman auch darunter, dass sich völlig charakterlose Räume nahtlos aneinanderreihen und so schon vom Setting her ein einheitlicher Brei entsteht, der keinen Leser hinter dem Ofen hervor lockt. Wenn ihr Abenteuerromane schreibt, dann sind solche „extremen“ Räume wie Spukhäuser oder Dinosaurierinseln fast Pflicht. Fast jeder dieser Romane endet mit einem großen Show-down und fast immer findet dieser Show-down an einem Ort statt, den der große Gegenspieler besetzt hält. Denken wir zum Beispiel an Frodo Beutlin (Herr der Ringe) und seine abenteuerliche Reise zum Schicksalsberg im Lande Mordor. Doch auch zwischendrin durchquert unser Held äußerst feindselige Gebiete, zum Beispiel die Hügelgräberhöhen oder die Höhle von Kankra.

Der apokalyptische Raum

Apokalyptische Räume sind eine weitere typische Möglichkeit, die in Spannungsromanen genutzt wird. Dabei handelt es sich um Räume, die bislang als recht unproblematisch, zumindest nicht tödlich, gegolten haben, die aber von einem Moment auf den anderen ihren ganzen Charakter wechseln. Eines der häufigsten Beispiele für einen solchen plötzlichen Wechsel haben die Zombiefilme in den letzten 15 Jahren geboten. Innerhalb kürzester Zeit verwandeln sich die meisten Menschen in blutrünstige Horden, und die wenigen Überlebenden müssen sich in einer völlig anderen Situation orientieren als am Tag zuvor.
Weitere Beispiele bieten Katastrophenromane, bzw. Katastrophenfilme. In einem bislang noch nicht bezogenen Hochhaus feiert eine ausgelassene Gesellschaft Silvester. Doch einige Stockwerke unterhalb bricht ein Feuer aus und schließt die Gesellschaft ein. Nun beginnt der Kampf um das Überleben. Etwas abgeschwächt, weil nicht ganz so allmächtig, ist die Geiselnahme; hier hat der Protagonist wenigstens noch die Möglichkeit, durch trickreiches Handeln die Verbrecher in die Irre zu führen und dadurch ein Entkommen zu ermöglichen.
Doch wie auch immer: apokalyptische Räume sind Räume, die innerhalb kürzester Zeit ihren Charakter komplett wechseln.

Orte des Verbrechens

Ein anderer, wichtiger Raum für Schriftsteller ist der Tatort. Der Tatort ist zunächst ein physikalischer Raum. Das Besondere an ihm ist, dass die physischen Spuren auf einen bestimmten Menschen (den Täter) hinweisen und damit auf einen sozialen Konflikt, der in einer recht außergewöhnlichen Weise (dem Verbrechen) gelöst worden ist.
In diesem Sinne kann man sagen, dass der Kommissar einen physikalischen Raum in einen sozialen Raum übersetzen muss, wobei die beiden Räume sich nicht decken. Das ist auch klar, denn die Motive für einen Mord sind meist ganz woanders entstanden.
Vom Raum aus gesehen sind Krimis meist recht ritualisiert. Zunächst gibt es einen physikalischen Raum, den Tatort; dieser wird in einen engeren Handlungsraum übersetzt, nämlich den Raum, in dem jemand gehandelt hat, um genau diese Tat zu begehen (der Tathergang wird rekonstruiert); davon ausgehend wird ein umfangreicher Handlungsraum erschlossen, jenem Raum, der dem Täter die Tat ermöglicht hat (zum Beispiel Orte der Vorbereitung der Tat); schließlich aber gibt es jenen Raum der Motive, in dem sich die Idee der Tat entwickelt hat: und dies ist natürlich ein sozialer Raum, eben ein Raum, in dem der Täter seine Bedürfnisse nicht befriedigen konnte, ohne ein Verbrechen zu begehen.

Körperräume II — Der emotional-volitive Raum

Und der nächste Abschnitt. Da sich mittlerweile Verschachtelungen von Verschachtelungen ergeben und alle jüngsten Artikel zum Thema Spannend schreiben irgendwie eng miteinander verzahnt sind, weise ich hier nur auf den letzten Artikel hin, der mit diesem notwendig zusammen gehört (es sollte eigentlich auch nur ein einziger werden, aber fast 10.000 Wörter erschien selbst mir als viel zu lang): Körperräume I - Der physikalische Raum.
Zu der Serie gehören auch Artikel über den Dialog: Dialoge schreiben I; und begonnen hat das Ganze mit Betrachtungen zur Schreibweise von Stephen King: Albtraumhafte Szenerie.

Jeweils am Ende eines Artikels findet ihr den nächsten verknüpft. Wer sich also die ganze Serie in einem Rutsch durchlesen möchte, sollte zu dem allerersten zurückkehren.
Hier aber nun weiter im Text:

Der emotional-volitive Raum

1917 veröffentlichte ein relativ unbekannter Psychologe in einer Fachzeitschrift für Psychologie einen Text mit dem Titel Kriegslandschaft. Dieser Psychologe war Kurt Lewin, der Begründer der Gestaltpsychologie.
Lewin beschreibt darin, wie sich eine Landschaft unter dem Handlungsdruck des (Stellungs-)Kriegs verändert, wie sich die Koordinaten dieser Landschaft verändern, wie zum Beispiel der ganze Raum, der jenseits der feindlichen Linien liegt, verschwindet, weil die feindlichen Linien eine absolute Grenze darstellen, zumindest für den einfachen Soldaten.
Es ist auch beeindruckend wie Anna Seghers in ihren Romanen, zum Beispiel Das siebte Kreuz oder Transit, den Wandel des Raumes beschreibt. Hier findet oftmals dieser Wandel durch eine Begegnung statt, durch einen Soldaten, der einem feindlich gesinnt sein könnte, oder durch bestimmte Bürokraten, die eine Amtsstube mit ihrer Macht besetzen.
Der Roman beschreibt nicht einfach nur Räume. Räume spielen darin eine sehr unterschiedliche Rolle. Im Spannungsroman sind solche Räume meist Erlebnis- und Handlungsräume, im Liebesromanen dagegen finden sich Empfindungsräume besonders häufig. Doch wie auch immer: der Raum in seinen physikalischen Eigenschaften bildet nur ein Gerüst, vor dem der Protagonist mit seinen Gefühlen und seinen Absichten handelt. Oder anders gesagt: der physikalische Raum trägt die Möglichkeit in sich, beseelt zu werden; und diesen Raum aus dem Blickwinkel einer Person zu beseelen ist eine Aufgabe des Schriftstellers (obwohl es natürlich auch ganz andere Schriftsteller gibt, von denen wir hier nicht Nachricht geben können).

Vom Bedürfnis zur Motivation

Ich hatte neulich schon ein Modell vorgestellt, das für den Schriftsteller ganz nützlich ist und das den Weg vom Bedürfnis zur Motivation und zum Willen vorstellt. Im Überblick: Bedürfnis - Emotion - Aufmerksamkeit - Motivation - Wille.
Und etwas ausführlicher: zunächst verspürt ein Mensch ein Bedürfnis, meist aufgrund eines Mangels; und dann entstehen, häufig gleichzeitig (oder für uns zumindest gleichzeitig) eine Emotion, eine bestimmte Aufmerksamkeit, ein Motiv und ein Wille, dieses Motiv zu verwirklichen. Für uns ist es normal, dass wir zunächst ein Motiv haben, das sich gegen den Mangel richtet, dann aber auf ein bestimmtes Ziel zusteuert. Dieses Ziel wird aufgrund von Emotionen ausgewählt. Die Aufmerksamkeit folgt dieser Emotion: Sie wählt bestimmte Objekte als besonders beachtenswert aus.
Das ist nun recht abstrakt.

Wir können uns dies aber ganz leicht an unserem Alltag deutlich machen, denn angeblich funktionieren wir als Menschen tatsächlich ständig und andauernd so, weil wir ständig und andauernd irgendwelche Absichten verfolgen, die irgendwelche Mängel in unserem Leben beheben sollen. Nehmen wir zum Beispiel an, wir stehen an einer Bushaltestelle ohne Unterstand und es regnet. Das ist unangenehm, es mangelt uns an Wohlgefühl. Wir versuchen uns nun einen Ausweg vorzustellen. Wir können zum Beispiel unsere Jacke nach oben ziehen, über den Kopf, und uns so zumindest davor schützen, dass uns der Regen am ganzen Körper herunterläuft. Wir können uns allerdings auch vorstellen, dass der Bus pünktlich kommen wird, wir zwar für einige Zeit ein unangenehmes Gefühl aushalten müssen, dann aber unter eine heiße Dusche steigen. Da wir keine Lösung zum Greifen nah haben, suchen wir uns eine Lösung in unserer Erinnerung. Dazu gehört dann auch der emotionale Kontrast: im Regen stehen ist unangenehm, unter einer heißen Dusche zu stehen angenehm. Und daraus ziehen wir dann das Motiv, das wir mithilfe unseres Willens durchhalten.
Schon diese, eigentlich recht knappe und oberflächliche Beschreibung ist natürlich viel zu viel für den Roman. Trotzdem ist es sinnvoll, alle diese Aspekte im Auge zu behalten, um aus diesen dann auszuwählen und passende in den Roman einzubauen.

Die Bedürfnisse

Man kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit solchen psychologischen Aspekten umgehen. Im Roman sollte man darauf achten, dass eine direkte psychologische Beschreibung wie eine Einmischung des Autors in den Erzählvorgang wirkt. Bei humorvollen Romanen kann das ganz günstig sein, gelegentlich auch bei experimentellen Romanen. Im allgemeinen sollte man sich aber als Autor sehr zurückhalten und mit wissenschaftlichen Erklärungen geizen.
Bedürfnisse zum Beispiel werden extrem selten im Roman angesprochen. Im Alltag äußern wir sie häufiger: jemand hat Hunger, jemand vermisst eine andere Person, jemand braucht die Sicherheit seiner Familie. Im Roman sprechen Personen häufiger über ihre Bedürfnisse. Aber außerhalb des Dialogs tauchen sie tatsächlich selten auf. Das hat einen ganz einfachen Grund. Um ein Bedürfnis zu erfüllen braucht es ein konkretes Ziel. Konkrete Ziele können sinnlich beschrieben werden und durch praktische Handlungen erreicht werden. Und genau das wollen Leser lesen. Vom Ziel aus erschließt sich das Bedürfnis fast automatisch. Dann aber braucht es nicht mehr geschildert zu werden.
Trotzdem: wenn wir eine Person für uns, als Schriftsteller, charakterisieren, dann sollten wir uns über die Bedürfnisse dieser Person Gedanken machen und zwar gründlich Gedanken. Sehr häufig werden die Figuren eines Romans realistischer, wenn man ihre Bedürfnisse gut ausgearbeitet hat. Öfter finde ich das Gegenteil in Liebesromanen, und dass die Autoren hier, nur um die Seiten zu füllen, den Figuren ständig neue Charaktereigenschaften und neue Bedürfnisse zuschreiben. Die Figuren schwanken hin und her und sind völlig in sich gebrochen. Man könnte sie sogar hysterisch nennen. Ich weiß nicht, wer solche Romane liest. In mir erzeugt eine solche Schilderung ein extremes Gefühl der Übelkeit.

Die Handlungsmöglichkeiten

Was für einen Schriftsteller auch ganz wichtig ist, ist, sich über die Handlungsmöglichkeiten bewusst zu werden. Die Handlungsmöglichkeiten einer Person hängen (aber das ist ja natürlich) zum einen von den Fähigkeiten dieser Person ab, zum anderen aber von den Gegenständen, die er zur Verfügung hat und den Räumen, in denen er sich befindet.
Das ist nun wirklich keine aufregende Erkenntnis. Trotzdem hat dieses Bewusstsein für die Handlungsmöglichkeiten einen überraschend positiven Effekt, allerdings gerade nicht für die Logik einer Handlung, sondern eher für die Darstellung selbst. Indem man sich nämlich bewusst Gedanken über die Handlungsmöglichkeiten macht, sucht man automatisch passendere Verben zusammen, mit denen diese Handlungen geschildert werden können. Damit vermeidet man eine monotone Sprache.
Es ist übrigens eine ganz gute Übung, sich zu den Räumen, die man in seinem Roman einzusetzen gedenkt, solche Verben aufzuschreiben und sie sich aus dem Duden herauszusuchen. Das sollte man machen, bevor man anfängt zu schreiben. Es erweitert den Wortschatz und lässt den Text lebendiger wirken.

Raum und Emotion

Wenn wir unseren eigenen Umgang mit Räumen betrachten, dann haben wir ganz häufig zu bestimmten Räumen bestimmte Gefühle. Meist verbinden wir diese Gefühle dann mit besonderen Anekdoten, die wir in diesen oder ähnlichen Räumen erlebt haben. Hier wird der Raum nicht mehr physikalisch und mathematisch aufgeteilt, sondern in eine Art emotionales Relief eingebunden. Die Teile im Raum, die uns emotional besonders erregen, treten hervor; und andere Gegenstände im Raum treten zurück.
Auch das ist allerdings für den Schriftsteller nur ein Hilfsmittel, um sich bestimmte Szenen besonders deutlich zu machen. Meist haben wir, wenn wir einen Raum ausgestalten, dazu schon ein bestimmtes Gefühl im Kopf. Einen Ort, den wir als Heimat bezeichnen (natürlich die Heimat eines Protagonisten), den werden wir mit einem positiven Gefühl besetzen (und müssen erklären, wenn diese Heimat fremd oder feindselig geworden ist). Andere Räume bringen von sich aus bestimmte Stimmungen mit, zum Beispiel verlassene Ruinen oder tiefe, natürlich entstandene Höhlen. Zumindest sind in ihnen bestimmte Gefühle nur schwer vorstellbar, während andere Gefühle allein bei der Erwähnung eines solchen Ortes sofort auftauchen.
Viel spannender ist es, wenn wir uns für unser eigenes Leben überlegen, an welchen Orten wir welche Gefühle haben. Denn auch wir teilen uns unsere Umwelt in solche Gefühlsräume ein. Das macht uns nicht zu besseren Schriftstellern, aber zumindest zu reflektierteren Menschen.

Absichten haben

Alles, was wir bisher zu dem emotional-volitiven Raum gesagt haben, spielt für die praktische Darstellung eine eher untergeordnete Rolle. Natürlich müssen wir gelegentlich die Gefühle unserer Protagonisten thematisieren. Doch gerade in Spannungsromanen sind die Handlungen wichtiger, während die Gefühle diesen Handlungen eine gewisse Stütze bieten und sie psychologisch glaubwürdig machen.
Damit ein Mensch handeln kann, sind natürlich Absichten besonders wichtig. Für uns muss klar sein, dass Absichten einen Mangel beheben, einen Mangel, der aufgrund eines Bedürfnisses besteht. Solche Absichten finden wir dann tatsächlich recht häufig, sei es, dass der Protagonist sie im Dialog äußert, sei es, dass der Erzähler sie außerhalb des Dialogs benennt.
Es lohnt sich auf jeden Fall, sich einen guten Roman vorzunehmen und alle geäußerten Absichten herauszuschreiben, einfach, um sich bewusst zu machen, wie viele verschiedene Möglichkeiten es gibt, Absichten auszudrücken und wie häufig diese in einem Roman vorkommen. Es lohnt sich auch, einen langweiligen Roman dagegen zu halten. Langweilige Romane lassen sich häufig dadurch charakterisieren, dass die Figuren in diesen Romanen keine Absichten haben. Der Effekt dabei ist wohl, dass diese Figuren ohne Absichten weder mit ihrer materiellen, noch mit ihrer sozialen Umwelt verbunden sind. Sie schweben gleichsam im luftleeren Raum. Natürlich stimmt das nie vollständig, denn wir, als fleißige und brave Leser, denken uns solche Absichten dazu. Aber wenn ein Autor seine Leser wirklich führen will, dann tut er gut daran, diesen Teil nicht vollständig dem Leser zu überlassen.

Die Kammer des Schreckens

Wenn es um emotional besetzte Räume geht, dann ist Harry Potter eine wunderbare Vorlage, um dies zu studieren. Und die Bücher sind auch ganz hervorragend, um den Umgang mit Absichten zu erlernen, zumindest jenen Umgang, den ein Schriftsteller beherrschen sollte.
Schauen wir uns einfach einen kurzen Ausschnitt aus dem zweiten Band, Harry Potter und die Kammer des Schreckens, an. Wie immer beginnt das Buch in dem Haus der Dursleys, den Verwandten Harry Potters, und wie immer ist dieses Haus durch eine mehr oder weniger offen ausgedrückte, komplizierte Feindschaft zwischen den Dursleys und Harry charakterisiert. Im zweiten Band erhalten die Dursleys den Besuch von Geschäftspartnern. Und da Harry hier stört, soll er sich in sein Zimmer verkriechen und „so tun, als existiere er nicht“. Am Ende des ersten Kapitels sind alle Vorbereitungen für den Besuch getroffen. Harry wird nach oben geschickt (dort befindet sich sein Zimmer):
„Gerade war er oben angelangt, da läutete es an der Tür, und Onkel Vernons wutverzerrtes Gesicht erschien am Fuß der Treppe.
»Denk dran, Junge - ein Mucks, und -«
Harry schlich auf Zehenspitzen zu seinem Zimmer, glitt hinein, schloss die Tür, wandte sich um und wollte sich auf sein Bett fallen lassen.
Nur - da saß schon jemand.“
S. 15 f.
Machen wir uns alle Absichten klar. Der ganze Raum, also das Haus der Dursleys, wird durch die Absicht strukturiert, den Besuchern einen angenehmen Abend zu bereiten, sich kräftig einzuschmeicheln und dadurch ein Geschäft abzuschließen. Die Türglocke stellt eine gewisse Absicht dar: jemand möchte eingelassen werden. Dann folgt die Drohung von Onkel Vernon. Indem Harry den Befehlen seines Onkels folgt, zeigt er die Absicht, sich keinen Ärger einzuhandeln.
Der letzte Satz dieses Zitats ist etwas komplizierter. Auch er drückt eine Absicht aus. Zunächst aber können wir sagen, dass die Absicht, die Harry verfolgt, nicht ausgeführt werden kann, weil dieser Jemand sie verhindert. Damit entsteht ein überraschendes Moment. Eine solche Überraschung ist ein wichtiges Element im Spannungsaufbau, wie überhaupt der Spannungsaufbau davon lebt, dass Absichten nicht bis zum Ende ausgeführt werden können.
Doch dieser letzte Satz drückt noch eine andere Absicht aus. Wenn irgendjemand an einem Ort auftaucht, an dem man ihn nicht erwartet, in dem er sich auch für gewöhnlich nicht aufhält, dann muss eine besondere Absicht vorliegen. In diesem Fall ist es Dobby, der etwas ganz Bestimmtes von Harry will. Das folgende Gespräch zeigt Dobby sehr zerrissen: er ist der Diener zweier Herren, und das darf man in diesem Fall sogar wortwörtlich nehmen. Denn was Dobby zunächst nicht sagt, ist, dass er der Hauself der Familie Malfoy ist. An diese Familie ist er magisch gebunden; von seinem Gefühlen her allerdings bewundert er Harry Potter. Wenn wir ein solches Gespräch gestalten, ein Gespräch, in dem ein Mensch zerrissen oder konflikthaft gebunden ist, dann ist es schon sehr wichtig, dass wir uns darüber Gedanken machen, welche Absichten unsere Figur hat und was sie wie äußert.
Hier lohnt es tatsächlich, wie bereits gesagt, sich zumindest ein Buch gründlich anzuschauen. Joanne Rowling wäre eine Möglichkeit, Stephen King eine andere, oder, wenn es ein Krimi sein soll, zum Beispiel Martha Grimes.
In der nächsten Folge behandle ich den sozialen Raum. Dieser entsteht, wenn zwei Seelenwelten, bzw. zwei emotional-volitive Räume aufeinandertreffen. Er ist wichtig, weil dies der Raum des Konfliktes ist.

Körperräume I — Der physikalische Raum

Probleme mit dem Raum

Fragen sind ganz wunderbar und Fragen habe ich wohl aufgeworfen, als ich, eigentlich als eine Anmerkung zu den Dialogen, von den Körperräumen und Seelenwelten geschrieben habe.

Ich habe gerade sehr viel Luft, mein Spracherkennungsprogramm funktioniert heute außerordentlich gut, und so bin ich seit letzter Woche am Schreiben. Mein Kühlschrank ist gefüllt. Und ich lese. Eigentlich war ich nur auf der Suche nach schönen Dialogen. Unter anderem habe ich mir von Susanne Gerdom: Last Days on Earth zugelegt. Ich gestehe, dass ich ein großer Freund des Shadowrun-Universums bin, das man wohl als die Geburt des modernen Steampunk bezeichnen kann. Ich gestehe ebenso, dass ich kein großer Freund der Shadowrun-Romane bin. Hier gibt es zu viele Autoren, die dann auch mal einen solchen Roman veröffentlichen wollen und denen man sichtbar die Lust an dieser Welt absprechen kann. Susanne Gerdom hat ihr Universum allerdings selbst entworfen; sie ist jedenfalls mit Leidenschaft dabei.

Karl May ist mir mal wieder in die Hände gefallen, Die Pyramide des Sonnengottes. Heute darf man ihn fast als klassischen Erzähler bezeichnen. Jedenfalls kann man viel von ihm lernen, was die schriftstellerische Klarheit angeht.
Soviel zu der Situation: Fragen von den Besuchern, zwei Romane, und natürlich die Zeit, sich damit zu beschäftigen.

Eine Aufforderung allerdings konnte ich nicht wirklich nachkommen: deine Artikel sind in letzter Zeit viel zu lang. Lange Artikel im Internet lese ich nicht. Gut, damit muss ich wohl leben. Ich habe versucht, diese Folge kurz zu fassen. Das Ergebnis war das Gegenteil. Nach diversen Kürzungen umfasst dieser Text nun das vierfache. Deshalb werde ich ihn in kleinere Häppchen einteilen. Und danach, nach der Unter-Unterserie, zur Unterserie und dann schließlich wieder zu meiner Serie selbst zurückkommen. (Das ist also der Moment, an dem ihr den Kopf schütteln dürft.)

Vorstellung und Grammatik

Vielleicht ist es das, was vielen jungen Schriftstellern die Räume so problematisch werden lässt: Es ist einfach zu selbstverständlich, dass wir, wir Menschen, Wesen des Raumes sind und dass wir viele unserer Räume fraglos benutzen. Gerade weil wir dies so fraglos tun, vergessen wir, dass das, was wir uns vorstellen, durchaus nicht das ist, was sich der Leser vorstellen kann. Wenn wir also Geschichten schreiben, dann müssen wir auch den Leser so anleiten, dass er sich den Raum exakt genug vorstellen kann, damit unsere Geschichte in diesem funktioniert. Wir müssen, das ist unsere Pflicht, und das wird auch von uns erwartet, den Leser führen.

Was aber heißt ›den Leser führen‹? Damit ist natürlich gemeint, seine Vorstellungen zu führen. Nun hat Wilhelm von Humboldt einmal die Grammatik dazu bestimmt, dass sie aus undeutlichen Vorstellungen präzise Vorstellungen macht. Es ist klar, dass ein Haufen von Wörtern, die ohne Zusammenhang aufeinander oder nebeneinander liegen, nicht so deutlich eine Vorstellung ausdrücken können, wie wohlgeordnete, grammatisch korrekte Sätze. Ein Satz wie »Peter springt in den See.« erzeugt in uns eine bestimmte Vorstellung. Und der Satz »Peter geht am See entlang.« suggeriert ein anderes Bild in uns. Grammatik, so könnte man sagen, erzeugt einen Zusammenhang zwischen den Wörtern und damit zwischen Vorstellungen.

Dasselbe Phänomen treffen wir aber auch auf der Ebene von mehreren Sätzen an. Gelegentlich spricht man hier von einer Textgrammatik. Barbara Sandig beschreibt dies unter dem Begriff der Textkohäsion (in: Textstilistik des Deutschen).
Nun ist klar, dass wir, wenn wir den Leser zu einer bestimmten Vorstellung verführen wollen, solche Mittel der Textkohäsion anwenden müssen. Die Vorstellung des Lesers darf nicht zerbrechen. Für den Autoren macht es deshalb sehr viel Sinn, dass er sich seine Räume so präzise ausdenkt, dass er den Leser gut führen kann.
Genau dies möchte ich jetzt darstellen. Es geht um die Frage, wie Räume für den Menschen strukturiert sind, und das betrifft natürlich die Tatsache, dass wir Räume nicht nur physikalisch wahrnehmen, sondern uns auch ganz selbstverständlich in solchen Räumen bewegen, weil wir etwas wollen, weil wir Absichten haben und weil wir über die Räume etwas wissen.

Der Raum als physikalischer Ort

Zunächst ist ein Raum ein physikalischer Ort. Er lässt sich in einem dreidimensionalen Koordinatensystem nachbilden. Die Gegenstände lassen sich als geometrische Körper beschreiben, auch wenn diese teilweise sehr komplex sind und von solchen einfachen Körpern wie dem Würfel und der Kugel weit entfernt sind. Menschen, die sich mit der Vektorgrafik auskennen oder sogar Grafiken im dreidimensionalen Raum entwerfen, müssen den Raum als einen physikalischen behandeln und zunächst als nichts sonst.
Auch für uns Schriftsteller ist der physikalische Raum wichtig. Wir können aneinandergrenzende Räume nicht beliebig anordnen. Wenn wir den Blick aus einem Fenster schildern, dann können wir nicht dem Leser zumuten, dass dort einmal der Sonnenaufgang und einmal der Sonnenuntergang zu sehen ist. Das würde uns der Leser übel nehmen (es sei denn, es handele sich um einen postmodernen Leser, der ein besonders raffiniertes Spiel mit der Erzähltradition vermutet).

Die Karte, die Gegenstände

Um einen solchen Raum zu entwerfen, brauchen wir eine Karte. Als Karte können wir großzügig alle Skizzen bezeichnen, die das Nebeneinander von Räumen und Gegenständen aufzeichnet. Die Weltkarte gehört also genauso dazu, wie unsere flüchtige Skizze der Küche, in der die Protagonistin morgens und abends ihre Mahlzeiten zu sich nimmt. Wir können Karten von einem Tatort anlegen, egal wie groß oder wie klein er ist, wir können (zum Beispiel bei einem Reiseroman) einen Weg skizzieren. Wir können einen Gebäudeaufriss aus dem Internet nehmen.

Räume sind wichtig, aber natürlich nicht das, was wir in einem Roman bevorzugt schildern. Wir setzen Räume zunächst leer voraus. Sie sind mit Gegenständen gefüllt und von Wänden begrenzt. Wir finden hier Betten, Fenster, Tische, Büsche, Straßen und dergleichen Dinge mehr. Wir finden kostbare Schatullen, erdrosselte Leichen und unmanierliche Tagebücher. Der Charakter eines Raumes wird durch die Gegenstände geprägt, die er enthält. Und damit verlassen wir eigentlich schon den physikalischen Raum, denn wenn ich von einem Charakter der Gegenstände und damit auch vom Charakter des Raumes spreche, dann meine ich natürlich nicht, dass der betreffende Gegenstand physikalisch einen solchen Charakter besitzt: Hier handelt es sich dann um eine Projektion, die von einem Menschen (oder, für Fantasy-Schriftsteller, auch menschenähnliche Wesen) vorgenommen wird.
Projektionen sind Erwartungshaltungen. Sie gehören in den Bereich des emotional-kollektiven Raums.

Halten wir aber zunächst fest: ein Schriftsteller muss sich über den physikalischen Raum im klaren sein.

Im der nächsten Folge betrachte ich den eigentlichen Raum unserer Figuren, den emotional-volitiven Raum, bzw. die Seelenwelt.

25.10.2014

Langeweile - Oberflächlichkeit (Cioran)

Cioran schreibt äußerst penetrant. Ich habe sein Schreiben als schwarz bezeichnet. In gewisser Weise beschwört er die metaphysischen Begriffe, um sie umso besser als hohl und nichtig darstellen zu können.

Langeweile

Todestrieb

In meinen ersten Notizen zu ihm findet sich der Tod als eine Art Sphäre (einem Planeten gleich), auf dem die Gedanken aufruhen und sich zugleich abstoßen. Der Todestrieb ist kein energetisches Prinzip (wie im spekulativen Modell des späten Freuds), sondern ein Pol, der das Leben umso stärker begleitet, je mehr es sich davon abstößt. Die Gedanken sind der Sprung wider die Schwerkraft des Sterbens.

Gedanken.Tod

Wie bei Nietzsche finden sich verschiedene Formen der Langeweile im Werk Ciorans. Sie ist immer eine Position zum Tode und zugleich eine Form des Denkens. Da die Gedanken sich vom Tode abstoßen, aber sich nur abstoßen können, insofern sie den Tod akzeptieren, entstehen vielfältige Formen der Langeweile, zum Teil ganz unterschiedliche, die wenig miteinander zu tun haben: denn der Ausdruck der Langweile und ihr Entstehen sind durch ihre Spaltung in sich zerrissen. Genauer scheint die Langeweile selbst nicht existent zu sein, und wenn sie es doch ist, dann, weil sie von außen als Langeweile usurpiert wird.

Schein und Einsamkeit

Man muss dies verstehen: nicht der Mensch langweilt sich, sondern er wird als gelangweilter erzeugt. Er ist nichts, bis er als Mensch erscheint. Dann aber ist er nur Schein, und als solcher kann er, sogar sich selbst, als gelangweilter erscheinen. Dies ist die zweite Ebene, die sich dem Tod entgegensetzt, und sich nur deshalb dem Tod entgegensetzen kann, weil sie genau so Nichts ist. Sie trägt eine ganz andere Zwiespältigkeit in sich: indem der Mensch auf ihr für andere Menschen ist und zugleich ganz und gar verschwindet. Deshalb kann bei Cioran auch nur der einsame Mensch auf die wirkliche Menschlichkeit hoffen. Deshalb sind die einsamen Gedanken die einzigen, die sich dem Tode flüchtig widersetzen können.

Sprechen lassen

Die Langeweile wird nur von Menschen erfahren, die keinen tieferen inneren Inhalt aufweisen und sich ausschließlich durch äußere Reizmittel lebendig erhalten können.

Alle Taugenichtse suchen die Mannigfaltigkeit der Außenwelt, denn Oberflächlichkeit ist nichts anderes als Selbstverwirklichung vermittels Gegenständen. Der oberflächliche Mensch hat ein einziges Problem: die Rettung durch Objekte. Deshalb hascht er in der Außenwelt nach allem, was diese ihm darbieten kann, um sich selbst mit äußeren Werten und Dingen aufzufüllen.

[Durch] Langeweile [...] manifestiert das Tier [...] den ersten Grad von Menschlichkeit.
Cioran, Emil: Das Buch der Täuschungen. in ders.: Werke, hier S. 184 f.

22.10.2014

Eine „neue“ Schreibtechnik

Gestern habe ich an der nächsten Folge zu meiner Serie Dialoge schreiben herum gearbeitet, mal wieder. Unter anderem habe ich (mal wieder) Harry Potter aus dem Schrank geholt; und Karl May liegt (mal wieder) ebenfalls auf meinem Bücherstapel.
Aber irgendwie will das Ganze nicht so richtig. Zur Zeit schreibe ich, in einer Mischung aus Kommentar und Zitat aus meinem Zettelkasten, immer wieder längere Fragmente. Gestern sind es doch immerhin 21 Stück geworden. Kommentare sind wunderbar. Aber sie können auch nerven, weil die längeren Argumentationen fehlen. Die probiere ich zurzeit aus. Man könnte diese Textform als kurze Essais bezeichnen, bzw. als Blog-Einträge, nur, dass ich sie nicht veröffentliche.
Da ich hier allerdings von Thema zu Thema springe, und auch das eine oder andere nur so ausdrücke, dass ich es verstehe, handelt es sich um Rohmaterial. Eigentlich ist dagegen auch nichts zu sagen, denn ich habe meinen Blog immer mehr als eine Anregung verstanden, als eine Plattform, um fertige Ergebnisse zu veröffentlichen. Aber ich kann nicht 20 Einträge am Tag veröffentlichen. Das schadet den Besucherzahlen eines einzelnen Eintrags.

Apropos Besucherzahlen. Die bewegen sich heute wieder im normalen Bereich. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich gestern über 9000 Besucher, davon 7000 aus den USA. Derzeit sieht es so aus, als würde sich der Besucherstand auf die üblichen 1000-2000 Treffer normalisieren.

Und ich mache mich jetzt, zum vierten Mal, an eine Neufassung der nächsten Folge von Dialoge schreiben. Dummerweise wird es nicht um Dialoge selbst gehen, sondern um das, was ich mit der Unterscheidung von Körperräumen und Seelenwelten angedeutet habe. Dazu gab es ziemlich viele Fragen. Und die müssen natürlich beantwortet werden.

20.10.2014

Emil Cioran

Cioran ist ein seltsamer Mensch. Seine Gedanken sind ganz schwarz, ganz hoffnungslos. In gewisser Weise thematisiert er die dunklen Seiten unserer Existenz mit verzweifelnd verbalen Ausfällen. Und es gibt zwar Bezugspunkte in seinem Werk, aber nichts davon scheint positiv zu sein, weder Gott noch das Leben noch die Kunst.
Er schreibt:
Das Leben ist so zart und unheimlich wie der Selbstmord eines Schmetterlings.
in: Gedankendämmerung. in Cioran, Emil: Werke. Frankfurt am Main 2008, 407-606, hier: 436

Lacans vier Diskurse

Nachtrag 10. Mai 2020: Mittlerweile habe ich nicht nur Sekundärliteratur zu den vier Diskursen gelesen, sondern sitze am Original. Das Original ist nicht einfach (wie Lacan allgemein nicht einfach ist). Deshalb als Warnung vorneweg: der Artikel bietet einen ersten roten Faden, wiederholt aber die Probleme der Sekundärliteratur und verfehlt so einige wichtige Aspekte der vier Diskurse. Eigentlich sogar den Nerv von ihnen.

O. k., ich gebe es zu. Mein letzter Artikel war etwas kurz. Zu kurz, um in ein so komplexes Thema wie den Herrensignifikanten einzuführen (und vor allem: diese Bezeichnung verständlich zu machen). Ich hätte mir mehr Zeit lassen sollen. Das werde ich jetzt nachholen. Ich befürchte, dass dieser Artikel viel zu lang ist, und immer noch zu wenig sagt, um einfach verständlich zu sein. Aber fragt nach. Was jetzt noch nicht klar ist, kann ich in folgenden Artikeln ausführlicher beschreiben.
Worum ging es? Um den Herrensignifikanten und dessen Stellung im Diskurs. Den Herrensignifikanten wollte ich erklären. Die Stellung im Diskurs, so hatte ich geschrieben, wurde nicht bedacht und deshalb habe ich die Erläuterung dazu beigefügt. Das ganze ist recht knapp geschrieben. Und natürlich (ich liebe euch) kamen dann Fragen.

Die strukturale Psychoanalyse

Das Modell ist der strukturale Psychoanalyse Jacques Lacans entnommen. Lacan spielte eine entscheidende Rolle in der Bewegung, die man gemeinhin Strukturalismus nennt. Mir ist bis heute nicht sonderlich klar, ob er nun tatsächlich zu dieser Bewegung gehört oder sich nur fruchtbar mit ihr auseinandergesetzt hat. Zudem sind mir die Abgrenzungen zu anderen Schulen auch nicht sonderlich sicher.
Zum Strukturalismus werden Intellektuelle wie Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes, Michel Foucault, Louis Althusser oder eben Jacques Lacan gezählt. In den Umkreis gehören dann noch Jacques Derrida, Julia Kristeva, Gilles Deleuze, Jean-François Lyotard und einige andere mehr. Teilweise sind die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Denkern aber so, dass es etwas naiv erscheint, diese zu einer bestimmten Strömung zusammenzufassen.
Jedenfalls war die Psychoanalyse Lacans sehr einflussreich. Als ich mit dem Studium begann, wurde diese in den Seminaren eifrig rezipiert. Und selbstverständlich habe ich mich daran beteiligt. Ich darf an dieser Stelle gestehen, dass ich auch 20 Jahre später immer noch Aufklärungsbedarf habe und keineswegs behaupten möchte, dass ich alles verstanden hätte.

Ein Kommunikationsmodell?

Das, was ich hier vorstellen möchte, könnte man im weitesten Sinne als Modell der Kommunikation bezeichnen. Wir werden aber gleich sehen, dass diese Bezeichnung missverständlich sein könnte. Denn was Lacan hier entworfen hat, ist keineswegs psychologisch zu sehen und auch nicht triebtheoretisch, wie man dies in der Psychoanalyse vermuten könnte, sondern ließe sich am besten als Strukturen des Dialogs bezeichnen, zumindest als Elemente solcher Dialogstrukturen. Damit spielen sie natürlich für die Kommunikation eine wichtige Rolle. (Es wäre hier interessant, die vier Diskurse von Jacques Lacan mit dem Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun zu vergleichen. Das allerdings würde die Fähigkeiten meines blogs komplett überfordern.)

Die Struktur des Diskurses

Das Modell des Diskurses

Schauen wir uns zunächst die grundlegende Struktur eines Diskurses an.
Der Einfachheit halber habe ich dem Modell einen Sender und einen Empfänger hinzugefügt. Diese stehen allerdings in Gänsefüsschen, sind also nur als Hilfsmittel zum Verständnis gemeint. Tatsächlich handelt es sich beim Empfänger um einen Empfänger, den sich der Sender vorstellt, nicht um den realen Empfänger.

Die Spaltung des Sprechers und Empfängers

Wir können zunächst davon ausgehen, dass der Sender eine Aussage macht, und dass der Empfänger (so ist jedenfalls der Wunsch des Senders) diese Aussage empfängt und versteht. Insofern unterscheidet sich das Modell noch nicht von dem Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver. Der eine spricht, und da Sprechen eine Handlung ist, ist er ein Handelnder. Nun spricht er zu dem anderen, denn sonst hätte Sprechen keinen Sinn.
Was Lacan allerdings zusätzlich einführt, ist die Spaltung des Sprechens in eine materielle und in eine ideelle Seite, in einen Signifikanten und ein Signifikat. Gesprochen wird der Signifikant, während das Signifikat verborgen bleibt. Der andere empfängt nun den Signifikant, aber nicht das Signifikat des Sprechers. Er muss sich dieses Signifikat (aufgrund seines Vorwissens) selbst produzieren.

Die Wahrheit

Hier nun findet sich eine Eigentümlichkeit des lacanschen Modells, die man für „zu hoch gegriffen“ halten könnte. Dass der Sprecher handelt und daher als Agens bezeichnet werden kann, kann man noch nachvollziehen. Auch, dass der andere schlicht als anderer bezeichnet wird, ist verständlich. Und dass der andere sich seine Vorstellung selbst machen muss, kann auch den Begriff der Produktion legitimieren.
Wie aber kommt Lacan nun dazu, die Vorstellung des Sprechers als Wahrheit zu bezeichnen? Man könnte dies als eine unerhörte Aufwertung ansehen. Tatsächlich funktioniert aber auch das Gegenteil, nämlich als eine Abwertung der Wahrheit. Sie ist nur eine Vorstellung, aber eine Vorstellung, auf die sich der Sprecher verlässt und die er als Wahrheit ansieht, um überhaupt sprechen zu können.

Zusammenfassung

Agens ist zunächst der, der spricht (wir werden dies gleich noch ein wenig verschieben müssen). Der andere empfängt das Wort. Produktion bezeichnet die Vorstellung, die sich der andere aufgrund des empfangenen Wortes macht. Die Wahrheit ist die Vorstellung, die dem Sprecher ermöglicht zu sprechen (und die, um es noch einmal zu sagen, nicht die gleiche Vorstellung ist, die die Produktion bezeichnet).

Der Relativismus der Strukturen

Unzugänglichkeit der Realität

Bisher haben wir Sender und Empfänger so behandelt, als seien dies reale Menschen, die einander Nachrichten zukommen lassen. Dies ist aber zu dinglich, zu substanzhaft gedacht. Wir müssen relativieren. Natürlich gibt es einen realen Menschen, der spricht, und ebenso einen realen Menschen, der hört. Doch die Lacansche Psychoanalyse basiert darauf, dass die Realität nicht direkt zugänglich ist. Die Menschen schaffen sich ihre „Realität“ über die symbolischen Ordnungen, und diese symbolischen Ordnungen wiederum werden vermittelt über den Dialog, also über den Austausch von Zeichen. So gesehen aber existiert der andere Mensch in dieser symbolischen Ordnung nicht als Realität, sondern nur als eine besondere Form des Symbolischen. Jeglicher Versuch, dieses Symbolische zu leugnen, würde die Möglichkeit, an einer Gemeinschaft teilzuhaben, zunichte machen. Der Mensch, so könnte man sagen, ist dazu verdammt, an einer Ordnung teilzunehmen, die nicht real ist.

Die symbolische Position

Aus diesem Grund ist der Agens nicht der reale Mensch, der spricht, sondern eine symbolische Position, von der aus eine Nachricht gesendet wird. Aus schierer Bequemlichkeit und weil es so gut funktioniert, verwechseln wir die Position des Sprechers mit dem Körper des Menschen. Doch der selbe Körper kann (denken wir zum Beispiel an Schauspieler) in einem sozialen Gefüge unterschiedliche Positionen innehaben. Oder denken wir an den erfolgreichen Mann, der in seiner Firma als Tyrann gilt, zu Hause aber ein liebevoller Vater ist.
Wenn wir uns also um die verschiedenen Formen der Diskurse kümmern, kommt es nicht darauf an, welches Wesen ein Sprecher hat, sondern, welchen Platz er in einer Kommunikation einnimmt. Die vier Positionen des Diskurses entstehen gleichzeitig und in Relation zueinander als Struktur der symbolischen Ordnung, nicht als Realität.
Ich gebe zu, dass das recht kompliziert klingt. Es wird aber gleich deutlicher, wenn wir uns konkreter um die vier verschiedenen Diskurse, die Lacan postuliert, kümmern.

Die vier Terme

Sprechen

Wann beginnt man zu sprechen, wann hört man auf?
Sicherlich: ich treffe einen Menschen und, da ich etwas von ihm will, fange ich ein Gespräch mit ihm an. Wir können also den Beginn des Gesprächs genau datieren. Doch wann beginne ich überhaupt zu sprechen? Wann fängt mein Sprechen als Sprechen-können an?
Zwar kann uns die Entwicklungspsychologie sehr viel darüber sagen, wann Kinder mit dem Sprechen beginnen, in welchen Stufen sie darin reifer und komplexer werden und wie sich dadurch ihre Teilnahme an der Gemeinschaft verändert. Doch all dies meint Lacan nicht, wenn er diese Frage stellt.
Einen Dialog kann ich nur beginnen, wenn ich vorher schon gesprochen habe. Ich brauche dieses Gesprochen-haben, um erneut sprechen zu können. Dabei ist es egal, wie ich die Sprache erlernt habe. Wichtig ist, welchen Platz ich meinem Sprechen einräume, welche Position ich mir für es imaginiere.
In dem Modell oben haben wir eine grundlegende Ordnung gefunden. Doch diese Ordnung bezeichnet noch nicht die imaginäre Position. Für diese brauchen wir eine zweite Gliederung, die wir über die erste legen und die sich zu dieser variabel verhält.
Diese zweite Gliederung besteht aus den vier Elementen: der Herrensignifikant (im Schaubild als S1 bezeichnet), dem Wissen (S2), dem Objekt oder Mehrgenuss (a) und dem Subjekt (durchgestrichenes S).

Das Schaubild

Wir sehen hier das gleiche Modell wie oben, nur um die vier Terme erweitert. Um die vier verschiedenen Diskurse abzubilden, habe ich sie farblich unterschiedlich unterlegt. Blau bezeichnet die Positionen der Terme im Herrendiskurs, orange im hysterischen Diskurs, gelb im Diskurs der Universität und grün im Diskurs der Psychoanalyse.
Bevor wir uns allerdings die Diskurse näher anschauen, müssen wir erst mal klären, was die Terme bedeuten.

Der Herrensignifikant

Der Herrensignifikant ist die Position, von der aus die machtvolle oder grauenhafte Realität in das Sprechen eindringt. Es ist der Ort, von dem aus das Sprechen neu beginnt. Dies allerdings kann sehr unterschiedlich aussehen. Es kann sich zum Beispiel als der Akt eines reinen Willens äußern, der auf alles, was vorher geschehen ist, keine Rücksicht nehmen muss. Er kann als Neuheit oder Bruch auftauchen, als Sensation oder Katastrophe.
In diesem Sinne durchbricht der Herrensignifikant das Gewebe des Sprechens und konstituiert es neu. Und in diesem Sinne ist der Herrensignifikant auch unverständlich, denn er nimmt keine Rücksicht auf das, was vorher gesprochen wurde. Er hat etwas von einer magischen oder hypnotischen Macht.
Die Kurzform des Herrensignifikanten ist die Tautologie, jenes „Ich will, weil ich es so will“. Insofern wird der Herrensignifikant vom Befehlshaber oder Tyrann gesprochen, von jemandem, an dessen überlegene Position man sich gewöhnt hat, die man anerkennt oder vor der man sich fürchtet.

Das Wissen

Im Gegensatz dazu ist das Wissen untereinander vernetzt und steht in Relation zueinander. Es gibt hier kein erstes und vorgängiges Wissen. Ohne den Herrensignifikanten wäre es ungeordnet. Beliebige Aussagen könnten nebeneinanderstehen und ebenso beliebige Handlungen.
Betrachten wir ein Gespräch, dann ist dieses nach Themen geordnet. Manchmal werden diese Themen von jemandem vorgegeben, manchmal entstehen diese und je nachdem kann man den Herrensignifikanten, dem, der dieses Feld strukturiert, an einem einzelnen Subjekt festmachen oder an einem diffusen „Subjekt“ im Hintergrund.

Das Objekt a

Dieses Objekt ist das Reale, das ich mir imaginiere. Dies ist natürlich ein Widerspruch, ein Paradox. Damit ist es, logisch gesehen, dem Herrensignifikant komplett entgegengesetzt, da dieser auf einer Tautologie beruht. Die Tautologie spricht: x = x. Das Paradox dagegen sagt: x ≠ x.
Doch wiederum ist das nicht ganz so einfach. Denn nur von außen sieht das Objekt a wie ein Paradox aus. Im Diskurs ist es gerade eine Realität, bzw. wird wie eine Realität behandelt.

Das Subjekt

Normalerweise bezeichnen wir mit dem Subjekt einen handelnden Menschen. Bei Lacan ist diese Position allerdings nicht fassbar. Weder hat ein Mensch von sich selbst noch von einem anderen Menschen ein umfassendes Bild. Deshalb ist das Kürzel für das Subjekt auch das durchgestrichene S, eine Position, von der aus das Sprechen möglich ist, die aber nicht das Sprechen ist. Nur unter bestimmten Umständen fällt das Subjekt mit dem Herrensignifikanten zusammen. In gewissem Sinne ist dieses Subjekt das, was etwas begehrt, was etwas will, und damit eine Position, der etwas fehlt. In diesem Sinne ist es ein Mangel.

Zusammenfassung

Auf den symbolischen Positionen lassen sich vier Terme nieder. Dies sind der Herrensignifikant, der das Sprechen ordnet, das Wissen, das untereinander vernetzt ist, das Objekt, das ein Stück imaginierte Realität darstellt und das Subjekt, der eine Position des Begehrens und des Mangels bezeichnet.
Das alles klingt nun wiederum recht kompliziert, noch komplizierter, als unser erstes, grundlegendes Modell schon war. Es wird jedoch deutlicher, wenn man sich die vier Diskurse ansieht.

Die vier Diskurse

Der Diskurs der Universität

Beim letzten Mal hatte ich mit dem Herrendiskurs angefangen. Tatsächlich lässt sich hier keiner der Diskurse bevorzugen und man kann ebenso gut mit einem anderen Diskurs beginnen.
Der universitäre Diskurs (gelb) spricht zu den Phänomenen, die er untersucht. Der Empfänger, so könnte man sagen, will besprochen werden, empfängt die Aussagen des Senders und begehrt erkannt zu sein.
Deshalb sieht Lacan das Wissen, also die ungeordneten Aussagen, auf der Position des Agens. Und das ist natürlich richtig: der Wissenschaftler trifft Aussagen und diese Aussagen beziehen sich nicht auf andere Menschen, sondern auf eine "Realität". Die Feinheit ist, dass Lacan diese Realität an die Position des anderen setzt, es sich aber um eine imaginierte Realität handelt.
Damit ist auch klar, warum diese Modelle nicht wirklich Modelle der Kommunikation sind, sondern eher Raster, die die Grundlage für die Ordnung eines Sprechens bieten. Man könnte deshalb auch sagen, dass der „Wissenschaftler“ sich vorstellt, dass das Objekt erkannt sein möchte, obwohl er dadurch, dass er es sich so vorstellt, als solches erst erschafft. Mit anderen Worten: der Wissenschaftler stellt das Objekt seines Unwissens her.
Auch die Position des Herrensignifikanten in der Vorstellung des Sprechers ist damit deutlich. Der Wissenschaftler nimmt eine Position ein, in der er sich ein Stück Realität vorstellt, um dieses dann zu untersuchen. Er bildet zum Beispiel Hypothesen, warum ein bestimmtes Ökosystem so funktioniert, wie es funktioniert. Und anhand dieser Hypothesen strukturiert er seine weiteren Forschungen und seine Aussagen. Die Hypothese ist also, insoweit sie strukturierend ist, ein wundervolles Beispiel für einen Herrensignifikanten.

Der Herrendiskurs

Im Herrendiskurs (blau) behauptet der Sprecher die Realität seiner Aussagen. Es ist ein Sprechen, das Tatsachen setzt, egal, wie begründet diese sind. Es legt Tatsachen fest, beendet und beginnt soziale Prozesse und strukturiert diese.
Während der Diskurs der Universität den Herrensignifikanten auf dem Platz der Wahrheit sieht, von dem aus die Aussagen im Agens strukturiert werden, sodass die Ordnung und die Aussagen im Sender zusammenfallen, steht der Herrensignifikant im Herrendiskurs auf dem Platz des Agens, strukturiert aber die Aussagen des anderen.
Im Herrendiskurs ist die imaginierte Realität das, was hergestellt werden muss. Sie ist zum Beispiel die Vorstellung des anderen, wie ein Sachverhalt verlaufen ist. Und insofern der Herrensignifikant dies zu ordnen sucht, ist hier auch der Platz für die Manipulation, die Täuschung, dem Zwang und dem Befehl zu suchen. Der Sender möchte, dass der Empfänger eine gewisse Vorstellung von der Realität hat und diese Realität, die Realität des Herren, anerkennt.
Es ist übrigens eine Feinheit, dass mit dem Wort Herr keineswegs ein bestimmtes Geschlecht gemeint ist. Gerade im Moment kann man häufiger wütende Attacken auf den Feminismus lesen, die dem Feminismus vorwerfen, genau eine solche manipulative Einstellung zur Wirklichkeit zu besitzen. Tatsächlich kann dieser Vorwurf nicht vollständig abgewiesen werden. Denn "der" Feminismus kann, wie alle Symbole, natürlich auf verschiedenen Plätzen dieses Modells gefunden werden. Dazu gehört auch, dass der Feminismus ein Herrensignifikant sein kann, der im Diskurs auf dem Platz des Agens sitzt. (Doch dies ist keineswegs die einzige Möglichkeit, sich um den Feminismus zu kümmern.)

Die imaginierte Realität

Auch hier müssen wir darauf zurückkommen, dass das, was wir hier als Vorstellung des Empfängers bezeichnen, keineswegs die „wirkliche“ Vorstellung eines „wirklichen“ Empfängers ist. Im Herrendiskurs sitzt das Objekt, der Mehrgenuss, als das, was von den Aussagen (S2) verborgen wird, sodass der Sender sich nie sicher sein kann, ob er das erreicht, was er erreichen möchte. Er kann beständig unterstellen, dass der Empfänger zwar seine Aussagen so ordnet, wie der Sender das möchte, aber heimlich ganz andere Vorstellungen im Kopf hat.
Insofern ist der Sender im schlimmsten Falle paranoid, riecht überall Verschwörungen und gleitet so nach und nach in die Position des hysterischen Diskurses. Stalin war ein solcher Mensch, ein Machtmensch, der sich darauf verlassen hat, zunächst, dass er seine Vorstellungen durchsetzen kann und diese von den anderen anerkannt werden. Doch recht früh haben sich hier Probleme ergeben. Sein System wollte nicht so, wie er es gerne gehabt hätte. In den dreißiger Jahren hat Stalin deshalb ein Kontroll- und Überwachungssystem aufgebaut, das alle Dissidenten in Angst und Schrecken versetzt hat, das die Konzentrationslager in Sibirien gefüllt und die unliebsamen Schriften verboten hat (bis hin zu dem völlig irrwitzigen Verbot des Dostojewskij-Buches von Bachtin).

Konflikte, zum Beispiel: Eifersucht

Zumindest aber können wir jetzt feststellen, dass eine Diskursform nicht konfliktlos beantwortet werden muss. Um hier ein persönliches Beispiel zu geben: meine Exfrau ist unglaublich eifersüchtig gewesen; sie war eifersüchtig auf jeden Freund und auf jede Freundin, eifersüchtig darauf, dass ich Bücher „einfach so“ lesen konnte, eifersüchtig auf meine „reiche“ Familie (unbesehen von der Tatsache, dass ich selbst nicht reich bin). Die Eifersucht schwankt zwischen dem hysterischen und dem Herrendiskurs hin und her. Mal unterstellt sie dem anderen, eine Wahrheit und eine Ordnung zu verbergen, über die die Eifersucht keine Macht hat, die aber die Eifersucht genießt: so, wie meine Exfrau mir ständig unterstellt hat, ich wolle sie eifersüchtig machen. Dann wiederum versucht sie, den anderen zum Sprechen zu bringen, sich auf bestimmte Aussagen festzulegen, die die Eifersucht vorgegeben hat.
Wie ihr vielleicht vermuten könnt, konnte ich weder die eine noch die andere Form des Diskurses adäquat beantworten. Ich kann mit der Eifersucht nichts anfangen. Das ist ein Gefühl, für das ich wohl vollständig "blind" bin. Aber zumindest fand ich sie „interessant“. Und ihr dürft jetzt vermuten, und zwar richtig vermuten, dass dies nicht zu mehr Verständnis geführt hat. Es ist wohl nie günstig, eine Mischung aus Dogmatismus und Hysterie mit der Idee zu beantworten, dass erforschenswert wäre, was dort genau dahintersteckt.

Der Diskurs der Hysterie

Im letzten Artikel hatte ich den hysterischen Diskurs (orange) mit der Aussage zusammengefasst: Sag, dass es wahr ist, gestehe endlich!
Nun könnte man dies leicht mit dem Herrendiskurs verwechseln. Denn zunächst hört sich das ganze so an, als würde der Hysteriker Befehle erteilen. Und rein linguistisch gesehen macht er das eventuell auch. Ein Befehl ist jedoch noch nicht die Ordnung des Diskurses. Vielmehr verlässt sich der hysterische Diskurs darauf, dass der Sender (der Hysteriker) eine Vorstellung besitzt, die für den Empfänger attraktiv ist und von der er glaubt, dass der andere danach seine Wünsche ausrichtet, seine ganze Welt. Der Hysteriker imaginiert sich zum Beispiel eine heimliche, uneingestandene Verehrung. Und der Hysteriker ist insofern außer sich, als er die Ordnung des gesamten Diskurses beim anderen sucht, nicht bei sich selbst.
Will man den Herrendiskurs und den Diskurs der Hysterie in seinen extremen Fällen unterscheiden, dann ist der Despotismus des Herrendiskurses aktiv, eine Form der Durchsetzung, die den anderen so herstellen möchte, wie sich dies der Sprecher vorstellt, während der Despotismus des hysterischen Diskurses als reaktiv empfunden wird, der den anderen zwingen möchte, sein wahrhaftes Inneres zu zeigen, um seine Ordnung zu empfangen.
Der Hysteriker jedenfalls geht davon aus, dass er selbst etwas besitzt, was der andere genießen kann, dass er einen Wert aufbewahrt, der für den anderen attraktiv ist.

Der Diskurs der Psychoanalyse

Dies ist vielleicht der seltsamste Diskurs, den Lacan präsentiert (grün). Die imaginierte Realität ist, dass der Sender spricht, wenn er spricht, während der Empfänger im Sprechen als Subjekt erscheint, und zwar als ein Subjekt, dem es fortlaufend mangelt und der deshalb ständig weiter sprechen muss. Der lacanianische Psychoanalytiker stellt sich also vor, dass sein Klient zu ihm gekommen ist, um ihn sprechen zu hören. Doch der Psychoanalytiker weiß auch, dass er nur Wissen besitzt, aber keinen Herrensignifikanten. Dieser Herrensignifikant ist das, was der psychoanalytische Diskurs erst herstellen muss. So ist die Rede, die auf der Couch des Psychoanalytikers stattfindet, ungeordnet und mangelhaft, weil der Psychoanalytiker zwar etwas weiß, aber in der falschen Ordnung und womöglich genauso ungeordnet wie die Rede seines Klienten.
Indem der Psychoanalytiker sich also verweigert, dem Klienten einen Herrensignifikanten vorzusetzen, indem er sich also dem Herrendiskurs verweigert, weswegen der Klient zu ihm gekommen ist, veranlasst er den Klienten, sich ganz den Impulsen seiner Vorstellung zu überlassen, etwas, was Freud als freie Assoziation bezeichnet hat.
Der Psychoanalytiker weiß also, dass sein Wissen die Wahrheit ist, dass er aber die Ordnung dieser Wahrheit aus der Produktion des anderen empfängt, weshalb sich der psychoanalytische Diskurs an der „mangelhaften“ Rede des Klienten anschmiegt, um genau jene innere Ordnung erscheinen zu lassen, die der Psychoanalytiker nicht besitzt und die der Klient nicht kennt.

Die Ordnung ist der Mangel

Der psychoanalytische Diskurs ist ein Diskurs, der ständig scheitert. Denn natürlich kann sich auch der lacanianische Psychoanalytiker nicht vollständig dem Sprechen verweigern. An den Rändern seines Schweigens entsteht der Glaube, dass der Psychoanalytiker die Wahrheit in sich verbirgt. Gestehe, wird hier der Klient auf die eine oder andere Weise rufen, gestehe, dass du die Wahrheit besitzt, gestehe, dass du, der Psychoanalytiker, etwas haben willst, was ich in mir verberge. Der Klient wird also den Diskurs der Psychoanalyse durch seine Hysterie beantworten und er wird seinen Herrensignifikanten mit dem Mehrgenuss verwechseln. Und er hat nicht ganz unrecht, denn, so weit ich Lacan verstanden habe, will der Psychoanalytiker, dass der Klient von sich aus spricht, von seiner Ordnung aus. Nur ist eben das, wo die Psychoanalyse hin will, die Ordnung des Symbolischen und nicht eine imaginierte Realität.

Sprechen ohne Ende

Vielleicht mag der eine oder andere, der in der lacanianische Psychoanalyse wirklich bewandert ist, mir unter die Arme greifen. Mir jedenfalls geht es jetzt, am Ende dieses Artikels, so, dass sich mir wieder tausend Fragen gestellt haben, die ich gerne beantwortet haben würde.
Ein wenig ist das auch mein Fehler, vieles auch den Umständen meines Lebens geschuldet. In den letzten zehn Jahren habe ich mich viel mit Theorien beschäftigt und beschäftigen müssen. In den seltensten Fällen allerdings gab es Berührungspunkte zu Jacques Lacan und diese waren äußerst flüchtig.
An der Universität, ich sagte es bereits, habe ich meine Auseinandersetzung mit Lacan als sehr laienhaft empfunden. Und von dort her kam der Wunsch, mich mit ihr auf jeden Fall noch einmal intensiver auseinanderzusetzen. Das dürfte mir insofern auch nicht schwer fallen, als ich doch einige der Vorlesungen und die Schriften besitze, dazu zahlreiche Sekundärliteratur.